Der Gottes- und Geldglauben sind struktur- und funktionsverwandt. Gott und Geld stehen vor ähnlichen Problemen, wenn ihnen der Glaube bzw. die Beglaubigung verwehrt wird. Theoriegeschichtlich fällt auf, dass die ökonomietheoretische Debattenlage seit dem "Finanzbeben" heute wieder vor dem Theodizee-Problem steht. Damals fragten sich etwa Diderot und Voltaire: Wenn die Hand des Gottes, der, wie behauptet, gütig und allmächtig ist, alles so herrlich regieret, wie kann er dann ein solches Schrecknis zulassen, das die Gerechten wie die Ungerechten trifft? - Zweihundertfünfzig Jahre später haben die aktuellen Diskussionen der Ökonomen allenfalls in Randbezirken das Niveau der Theologie in der Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht. - Die invisible hand des Marktes, die alles so herrlich wenn nicht regieret, so doch regelt, in Frage zu stellen, ist unter den meisten Ökonomen noch heute ein tabubewehrtes Sakrileg - selbst wenn sie über Fälle von Marktversagen nachdenken. Nach dem Finanzbeben (welche begriffliche Nähe zum Erdbeben von Lissabon!) zu beten "Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meine Guthaben, wenn ich noch welches habe", kommt kaum einer Wirtschaftslehre in den Sinn; ihr Glauben ist dogmatisch unerschütterlich. Man muss dran glauben versucht, die ökonomische Aufklärung auf das Niveau der religiösen Aufklärung zu bringen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als strukturelles Gedankenspiel macht der Essay des Germanisten Jochen Hörisch dem Rezensenten Thomas Gross Spaß. Konkret, substantialistisch überzeugt ihn die von Hörisch postulierte Nähe von Gott und Religion, Geld und Hostie zwar nicht. Solange der Autor jedoch die Finanzkrise als hermeneutischen Anwendungsfall behandelt, angenehm gelehrsam, geistvoll und assoziativ zudem, wie Gross erklärt, ist alles in Ordnung. Religion und Finanzen bei Karl Jaspers, wirtschaftliche Implikationen literarischer Texte bei Goethe? Fein, meint Gross. Die Vorschläge des Autors zur Überwindung der Krise (Malusforderungen an Spitzenmanager, Begrenzung der Einkommensunterschiede) findet Gross allerdings "recht geläufig".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2013Finanzfragen sind Glaubenssachen
Der Germanist als Wirtschaftsweiser: Für Jochen Hörisch stehen Gott und Geld vor ähnlichen Problemen
In historischer Perspektive verbindet sich die Deutung des kapitalistischen Wirtschaftssystems als Ersatz oder profanierte Form von Religion mit den Namen Marx, Weber und Benjamin. Neuerdings schreiben besonders Literatur- und Kulturwissenschaftler diese Tradition fort. Jochen Hörisch hat der Nähe von Credo und Kredit, Gott und Geld seit langem nachgespürt und betont: Geld berge ein Sinnversprechen, es sei deshalb verwandt mit der Hostie des Abendmahls, dessen Funktion als "Leitmedium des Abendlands" es in der Neuzeit übernommen habe. Zuletzt hat Hörisch diesen Gedanken in der Studie "Bedeutsamkeit" verfolgt. Sein nun erschienener Essay nimmt die Finanz-, Euro- und Staatsschuldenkrise als hermeneutischen Anwendungsfall.
Die unsichtbare Hand des Marktes, das Bild des homo oeconomicus und die Auffassung, wonach sich private Laster in öffentliche Wohltaten verwandeln, das sind (auch) für den Germanistikprofessor Jochen Hörisch Dogmen einer liberalistischen Wirtschaftstheorie, die immer mehr Gläubige fand. Tatsächlich sei es um die Wissenschaftlichkeit der entsprechenden akademischen Disziplin nicht gut bestellt. Sie entbehre einer Second-order-Observation im Sinne Luhmanns, zu deren Begründung Hörisch offenbar beitragen möchte. Er versucht es auf bewährte Weise, mit einer anregenden Mischung aus Gelehrsamkeit, Esprit und Assoziativität.
Die Verbindung von Religion und Finanzen verfolgt er zurück bis in Karl Jaspers' "Achsenzeit" der Frühantike, widmet sich aber auch ausführlich den Verfehlungen zeitgenössischer Spitzenmanager. Wirtschaftliche Implikationen literarischer Texte, besonders von Goethe, listet er auf, dann mündet das Ganze in recht geläufige Vorschläge, wie die Krisen zu überwinden und Staatsfinanzen zu sanieren wären.
Also empfiehlt Hörisch, Einkommensunterschiede zu begrenzen und Spitzenmanagern nicht nur Bonuszahlungen zu gewähren, sondern ihnen ebenso Malusrückforderungen aufzuerlegen. Die Privatisierung von ursprünglich öffentlichen Aufgaben will er umkehren, um wieder einen starken Staat zu gewinnen. Um dessen Finanz- und Handlungskraft zu stärken, empfiehlt er eine Abgabe auf große Vermögen und eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, "zumal für kinderlose Erblasser".
Die Geburt einer rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik aus dem Geist der Literaturgeschichte? Am Ende steht die schöne Erzählung von der Vermählung privaten Engagements mit öffentlichem, wie sie Thomas Manns früher Roman "Königliche Hoheit" entwirft. Der Unterschied zur Gegenwart und zu Hörischs eigenen Vorschlägen besteht freilich darin, dass der amerikanische Milliardär Spoelmann, dessen Tochter sich in Manns Roman mit dem Thronfolger eines verarmten europäischen Kleinstaats vermählt, freiwillig gewaltige Summen investiert, um der neuen Heimat auf die Beine zu helfen, wovon er dann aber auch finanziell zu profitieren scheint. Wie solche Großzügigkeit beim heutigen Geldadel zu befördern wäre, der zwar gern stiftet, die Rettung ganzer Staaten bis dato aber der Politik überlässt, muss einstweilen offenbleiben.
Übrigens versteht sich ohnehin, dass die Parallelisierung von Wirtschaft und Religion, Geld und göttlichem Geist nur in struktureller Hinsicht überzeugt. Legte man einen substantialistischen Begriff von Gott und Religion zugrunde, ginge das Gedankenspiel nicht auf. Hörisch tut indes viel, um die Freude am Mitspielen zu wecken. Die Todesgefahr, auf die der Titel anspielt, wird im Falle der Theorie zudem geringer sein als in der liberalistischen Wirtschafts- und Finanzpraxis. Ein Grund zum Wundern ist das freilich nicht.
THOMAS GROSS
Jochen Hörisch: "Man muss dran glauben". Die Theologie der Märkte.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013. 132 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Germanist als Wirtschaftsweiser: Für Jochen Hörisch stehen Gott und Geld vor ähnlichen Problemen
In historischer Perspektive verbindet sich die Deutung des kapitalistischen Wirtschaftssystems als Ersatz oder profanierte Form von Religion mit den Namen Marx, Weber und Benjamin. Neuerdings schreiben besonders Literatur- und Kulturwissenschaftler diese Tradition fort. Jochen Hörisch hat der Nähe von Credo und Kredit, Gott und Geld seit langem nachgespürt und betont: Geld berge ein Sinnversprechen, es sei deshalb verwandt mit der Hostie des Abendmahls, dessen Funktion als "Leitmedium des Abendlands" es in der Neuzeit übernommen habe. Zuletzt hat Hörisch diesen Gedanken in der Studie "Bedeutsamkeit" verfolgt. Sein nun erschienener Essay nimmt die Finanz-, Euro- und Staatsschuldenkrise als hermeneutischen Anwendungsfall.
Die unsichtbare Hand des Marktes, das Bild des homo oeconomicus und die Auffassung, wonach sich private Laster in öffentliche Wohltaten verwandeln, das sind (auch) für den Germanistikprofessor Jochen Hörisch Dogmen einer liberalistischen Wirtschaftstheorie, die immer mehr Gläubige fand. Tatsächlich sei es um die Wissenschaftlichkeit der entsprechenden akademischen Disziplin nicht gut bestellt. Sie entbehre einer Second-order-Observation im Sinne Luhmanns, zu deren Begründung Hörisch offenbar beitragen möchte. Er versucht es auf bewährte Weise, mit einer anregenden Mischung aus Gelehrsamkeit, Esprit und Assoziativität.
Die Verbindung von Religion und Finanzen verfolgt er zurück bis in Karl Jaspers' "Achsenzeit" der Frühantike, widmet sich aber auch ausführlich den Verfehlungen zeitgenössischer Spitzenmanager. Wirtschaftliche Implikationen literarischer Texte, besonders von Goethe, listet er auf, dann mündet das Ganze in recht geläufige Vorschläge, wie die Krisen zu überwinden und Staatsfinanzen zu sanieren wären.
Also empfiehlt Hörisch, Einkommensunterschiede zu begrenzen und Spitzenmanagern nicht nur Bonuszahlungen zu gewähren, sondern ihnen ebenso Malusrückforderungen aufzuerlegen. Die Privatisierung von ursprünglich öffentlichen Aufgaben will er umkehren, um wieder einen starken Staat zu gewinnen. Um dessen Finanz- und Handlungskraft zu stärken, empfiehlt er eine Abgabe auf große Vermögen und eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, "zumal für kinderlose Erblasser".
Die Geburt einer rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik aus dem Geist der Literaturgeschichte? Am Ende steht die schöne Erzählung von der Vermählung privaten Engagements mit öffentlichem, wie sie Thomas Manns früher Roman "Königliche Hoheit" entwirft. Der Unterschied zur Gegenwart und zu Hörischs eigenen Vorschlägen besteht freilich darin, dass der amerikanische Milliardär Spoelmann, dessen Tochter sich in Manns Roman mit dem Thronfolger eines verarmten europäischen Kleinstaats vermählt, freiwillig gewaltige Summen investiert, um der neuen Heimat auf die Beine zu helfen, wovon er dann aber auch finanziell zu profitieren scheint. Wie solche Großzügigkeit beim heutigen Geldadel zu befördern wäre, der zwar gern stiftet, die Rettung ganzer Staaten bis dato aber der Politik überlässt, muss einstweilen offenbleiben.
Übrigens versteht sich ohnehin, dass die Parallelisierung von Wirtschaft und Religion, Geld und göttlichem Geist nur in struktureller Hinsicht überzeugt. Legte man einen substantialistischen Begriff von Gott und Religion zugrunde, ginge das Gedankenspiel nicht auf. Hörisch tut indes viel, um die Freude am Mitspielen zu wecken. Die Todesgefahr, auf die der Titel anspielt, wird im Falle der Theorie zudem geringer sein als in der liberalistischen Wirtschafts- und Finanzpraxis. Ein Grund zum Wundern ist das freilich nicht.
THOMAS GROSS
Jochen Hörisch: "Man muss dran glauben". Die Theologie der Märkte.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013. 132 S., geb., 17,90 [Euro].
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