Ein Pfarrer, der gleich fünfmal getötet wird; eine Dame, die ihren Ehemannbetrügt und zurückgewinnt, indem sie ihn - als Mann verkleidet- verführt; eine Mutter, die Jesus als Geisel nimmt, um himmlischeHilfe für ihren Sohn zu erpressen.Die kurzen Erzählungen des Mittelalters leben von abstrusen Begebenheitenund absonderlichen Geschicken. Eines haben sie aber allegemein: das Ziel, eine alltagspraktische Lehre zu vermitteln. Und umdieses Ziel zu erreichen, gehen die Geschichten über Leichen, brechenTabus und stellen Gott und die Welt in Frage.Die Spannungen zwischen einer oft sprichwörtlichen Lehre, die es zuvermitteln gilt, und einer verqueren Geschichte, die ihr fragwürdigesVehikel darstellt, irritieren auch heutige Leser noch nachhaltig. Undgerade aus dieser Irritation schöpfen die kurzen Geschichten ihr Potenzial:Eine Lehre, die sich nur unter enormen Windungen zu ihrerGeschichte fügt, bleibt im Gedächtnis haften, lebendig, schillernd undalles andere als ein toter Gemeinplatz.Mit den Wiedererzählungen gewähren ExpertInnen für vormoderneKleinepik auch Einblicke in ihre je eigene Beziehung zu den Texten,mit denen sie ganz persönliche Geschichten verbinden.