"Post, Post, Post". Dieser Stoßseufzer, notiert im Kalender unter dem Datum vom Sonntag, dem 4. März 1990, kommt nicht von ungefähr: Christa Wolf war eine ungeheuer produktive Korrespondentin. Ihre Briefe an Verwandte und Freunde, Kollegen, Lektoren, Politiker, Journalisten geben faszinierende Einblicke in ihre Gedankenwelt, ihre Schreibwerkstatt, ihr gesellschaftliches Engagement. Ob sie an Günter Grass oder Max Frisch schreibt, von Joachim Gauck Einsicht in ihre Stasi-Akte fordert oder sich mit Freundinnen wie Sarah Kirsch und Maxie Wander austauscht, wir sind Zeuge von Freundschaften und Zerwürfnissen, Auseinandersetzungen und von Bestätigung, von der Selbstfindung einer der wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt beeindruckt ihr Umgang mit der Flut von Leserbriefen, die sie mit zunehmendem schriftstellerischen Erfolg erreicht und auf die sie geduldig und kundig - und manchmal auch mit der gebotenen Direktheit - eingeht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2017Nachdenken über Christa Wolf
Ihre Briefe sind ein Lehrstück über die Fallstricke im Verhältnis von Schriftstellern zur Staatsmacht
In seinem Buch "La trahison des clercs" hat der französische Philosoph Julien Benda 1927 so eloquent wie rigoros eine Ethik des Schreibens entworfen. Wer gut schreibt, der verfügt über einen Zugang zum Bewusstsein anderer, der ihm eine spezifische Verantwortung auferlegt. Diese verpflichtet ihn auf die universalen Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Vernunft. Verraten wird diese Verantwortung, wenn sich der Schreibende stattdessen den "Leidenschaften" des Nationalismus, des Rassismus und des Klassenkampfs überlässt. Auf die Politik einwirken soll der Schriftsteller wenn überhaupt dann ausschließlich, indem er jenen Werten kritisch Geltung verschafft. In der Neuauflage 1946 hatte Benda seine Position bekräftigt. Die Masse der französischen und deutschen Intellektuellen habe schmählich versagt und sich an der Organisation des politischen Hasses beteiligt, von dem das 20. Jahrhundert geprägt wurde.
In deutschen Diskussionen über die politische Rolle des Schriftstellers hat Bendas Position keinen Widerhall gefunden. So fiel es Herta Müller zu, nach dem Ende der DDR, bei der Vereinigung der Schriftstellerverbände daran zu erinnern, dass der P.E.N.-Club auf einem ethischen Konzept beruht, das sich mit dem Bendas deckt. Die Mitglieder verpflichten sich nämlich, "für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in einer einigen Welt in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken". Für Herta Müller war der ostdeutsche P.E.N. dagegen ein "Schweigeverein, der sich vom Staat finanzieren ließ". Ein undifferenzierter Zusammenschluss kam für sie nicht in Frage: "Wer diese Ethik nicht durch seine Biographie begleitet hat, es tut mir leid, der hat da nichts verloren."
Auch Christa Wolf hat immer wieder die Verantwortung der Schriftsteller beschworen, aber da war sie längst verstrickt. Mit ihrer Einwilligung, als "IM Margarete" von 1959 bis 1962 für die Staatssicherheit tätig zu werden, hatte sie, die ihren "Faust" kannte, den Teufelspakt mit der Macht unterzeichnet, dessen Folgen sie als andere Gretchenfrage nicht wieder los wurde. Da half es nichts, dass sie offenbar versucht hatte, den Teufel zu betrügen, indem sie nur Unerwünschtes oder Harmloses berichtete. Der Teufel rächte sich durch das Rubrum der Doppelzüngigkeit, unter dem sie fortan lückenlos überwacht wurde.
Die Konfliktlage wirkt je direkt in den Briefverkehr hinein, der nun unter den Augen der Überwacher stattfindet. 1984 schreibt sie an Raissa Orlowa-Kopelew: "Es gibt seit Jahren von mir keine wirklich offenen Briefe an Freunde. Das Briefeschreiben ist mir buchstäblich vergangen - bei einem enormen Postverkehr übrigens." Dennoch wird ihr Leben in den Briefen bis hinein in Freude und Mühsal des Alltags anschaulich, und immer wieder zeigt sich ein großes Bedürfnis nach Freundschaft und Vernetzung.
Wörter, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben
Bei zunehmender Durchdringung ihrer Lage wird ihr klar, dass sie an das Unrecht gebunden bleibt. Auszuhalten war das offenbar nur durch weitgehende Verdrängung vor allem ihrer Stasimitarbeit. Immer wieder beteuert sie, dass sie die Vorgänge der Zeit "wirklich!" vergessen hatte. Erst in den Briefen der frühen neunziger Jahre bekennt sie offener, wie weit sie sich auch sprachlich auf die Macht eingelassen hatte: "Ich habe ja diese Wörter benutzt, die mir heute die Schamröte ins Gesicht treiben, ich habe ja angefangen, diese Sprache zu sprechen." Die Suche nach ihrer eigenen Sprache habe sie schließlich gerettet, was sie mal mehr, mal weniger larmoyant als einen schmerzhaften Prozess schildert. So schreibt sie 1991 an Jürgen Habermas: "Von mir muß ich sagen, daß ich mich erst allmählich aus Einseitigkeit, dogmatischen Vorurteilen, Gläubigkeit, Befangenheit herausgearbeitet habe: allmählich und sehr schwer, unter Schmerzen und existentiellen Konflikten."
Vollständig aber konnte das nicht gelingen. Spätestens seit ihrem zweifellos Mut erfordernden dissidentischen Auftritt im 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965, gesteigert noch einmal nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, musste sich Christa Wolf immer wieder zwischen Reden und Schweigen, Aufbegehren und Kompromiss entscheiden. Die Briefe zeigen, dass sie seitdem unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck steht. Dabei verschweigt sie Freunden nicht, dass ihr auch der Verzicht auf ihre Privilegien schwer gefallen wäre, die im Nachhinein zur Gewissensbelastung werden. Diese Zwickmühle führte zu wiederkehrenden Nervenzusammenbrüchen.
In den späten achtziger Jahren lässt sie immer mehr Rücksichten fallen. In einem Brief zum X. Kongress des Schriftstellerverbandes 1987 kritisiert sie dessen Rolle seit der Ausbürgerung Biermanns massiv, um schließlich für "uneingeschränkte Publikation literarischer Werke" zu plädieren, worin ihr Günter de Bruyn und andere folgen. Die Stasi attestiert ihr daraufhin einen "herausragend negativen Stellenwert". In einem Brief an Honecker setzt sie sich 1988 für die jungen Menschen ein, die im Januar für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und Demokratie demonstriert hatten und den Kern der späteren Bürgerrechtsbewegung bildeten. Mit dem P.E.N. solidarisiert sie sich mit Salman Rushdie und Václav Havel. In einem Brief an den chinesischen Botschafter protestiert sie 1989 gegen die blutige Niederschlagung der Demonstration auf dem Tiananmen-Platz; ebenso beim Generalstaatsanwalt gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten am 7. und 8. Oktober.
Als wäre sie die Kanzlerin eines neuen Staates
So spielt sie bei Annäherung an die Zeitenwende zunehmend die Rolle einer kritischen moralischen Instanz, und als eine solche wird sie von ihren Lesern wie von der Staatsführung auch betrachtet. Dabei scheint sie gelegentlich vergessen zu wollen, dass sie auch mit ihrem kritischen Engagement an den Machtkomplex gebunden bleibt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass sie mit ihrem Mann eine Übergangsregierung mit Kabinettsliste entwirft, als wäre sie die Kanzlerin eines neuen Staates. Immer nachdrücklicher lässt sie jedenfalls ihr Verbleiben in der DDR als eine nicht ohne heroischen Opfermut angenommene politische wie persönliche Herausforderung und Aufgabe erscheinen. Jurek Beckers Aufforderung an die Schriftsteller, "wir sollten uns alle zu unserer vierzigjährigen Feigheit bekennen", empfindet sie dagegen als Anmaßung und tut sie als Bedürfnis jener ab, die mit ihrem Weggang recht behalten wollten. An Rosemarie Zeplin schreibt sie im August 1990: "Und dafür, daß ich hiergeblieben bin, sehe ich keinen Anlaß, mich zu rechtfertigen. Ich glaube, in gewissem Sinn war es schwieriger als wegzugehen und allein daraus alle Entlastung zu ziehen. Ich weiß noch genau, wann und wo ich mir die Alternative stellte: Entweder du machst dich frei von jeder Abhängigkeit, oder du mußt weggehen."
Tatsächlich aber bleibt die Briefschreiberin weiterhin mit Selbstrechtfertigung beschäftigt, was sich je nach Adressat verschieden darstellt. Gleich mehrfach findet sich in der Zeit die Formulierung, sie verspüre "eine rasende Sehnsucht nach Unschuld". Eine folgenlose Floskel, denn sie weiß ja, dass sie diese Unschuld schon früh eingebüßt hatte. Sie tröstet sich mit dem kryptischen Bonmot eines Schweizer Journalisten, auf Unschuld sei es nicht angelegt. Sie wünscht sich, an manchen Punkten "radikaler, konsequenter gehandelt zu haben", aber letztlich glaubt sie, keine Wahl gehabt zu haben. So relativiert sie ihre zweifellos vorhandenen Schuldgefühle durch den Gedanken einer geschichtlichen Bedingtheit, der die ostdeutschen Intellektuellen nicht entrinnen konnten.
Derart verfolgt sie in den Briefen der frühen neunziger Jahre eine vertrackte Strategie der Selbstbehauptung, die, wie sie 1991 an Margarete Mitscherlich schreibt, aus dem Gefühl resultiert, man wolle ihr "ihr Leben nehmen und mir an dessen Stelle ein anderes unterschieben, so wie die ganze DDR zu einer schauerlichen Chimäre aufgeblasen wurde, die man nun frischfröhlich abwickeln kann". Diese Selbstbehauptung geschieht gelegentlich nicht ohne Arroganz nach älterem Muster der Verachtung der Massen, die "auf den großen Plätzen fahnenschwenkend Kohl zugejubelt haben, das Fernsehen brachte ihre glaubensseligen Gesichter, ihre vor Anbetung verdrehten Augen ins Wohnzimmer". Die Motive der Einheitsbefürworter reduziert sie auf Profitstreben, für eine wahre Befreiung hat das dumme Volk im Gegensatz zu ihr keinen Sinn. Dabei fällt ihre Kapitalismuskritik erstaunlich grobschlächtig aus.
Im Westen habe sie nicht leben wollen, weil sie in der Bundesrepublik keinen Funken der Utopie entdecken konnte. Als sie "Kein Ort. Nirgends" (1979) schrieb, sei allerdings auch die DDR schon nicht mehr der Staat der Schriftsteller gewesen, sei es dann aber 1989 kurz noch einmal geworden: "als Traum". Die reale Entwicklung betrachtet sie dagegen in Kategorien von Sieg und Niederlage, womit sie sich gleichzeitig die moralische Beurteilung durch andere, die freilich seinerzeit in manchen Medien außer Proportion geriet, vom Leibe halten will. Wolfgang Thierses Vorschlag eines Tribunals lehnt sie ab, "weil die Rechtsmaßstäbe der Sieger noch andere Interessen verfolgen als die, Humanität wiederherzustellen: zu groß ist das Bedürfnis nach Rache und nach Selbstbeweihräucherung". Über die Maßstäbe der Kritik möchte sie selber verfügen, was immer wieder zur Relativierung, zur Absetzung von den "wirklich Schuldigen" führt: "Ehrgeizlinge, Feiglinge und Arschkriecher".
Noch in Kalifornien, während ihrer Zeit als Fellow des Getty Center 1992, kommt ihr gelegentlich die Wut "über alles" hoch. Sie bleibt auch dort noch mit Selbstbehauptung beschäftigt, gewinnt aber langsam an Distanz und findet Geschmack an der Idee, "zwischen allen Fronten" zu stehen. Die DDR rückt dabei zunehmend in die Ferne der geschichtlich unrealisierten Möglichkeit eines humanen Sozialismus.
FRIEDMAR APEL
Christa Wolf: "Man steht sehr bequem zwischen
allen Fronten". Briefe 1952-2011.
Hrsg. von Sabine Wolf.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 1040 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ihre Briefe sind ein Lehrstück über die Fallstricke im Verhältnis von Schriftstellern zur Staatsmacht
In seinem Buch "La trahison des clercs" hat der französische Philosoph Julien Benda 1927 so eloquent wie rigoros eine Ethik des Schreibens entworfen. Wer gut schreibt, der verfügt über einen Zugang zum Bewusstsein anderer, der ihm eine spezifische Verantwortung auferlegt. Diese verpflichtet ihn auf die universalen Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Vernunft. Verraten wird diese Verantwortung, wenn sich der Schreibende stattdessen den "Leidenschaften" des Nationalismus, des Rassismus und des Klassenkampfs überlässt. Auf die Politik einwirken soll der Schriftsteller wenn überhaupt dann ausschließlich, indem er jenen Werten kritisch Geltung verschafft. In der Neuauflage 1946 hatte Benda seine Position bekräftigt. Die Masse der französischen und deutschen Intellektuellen habe schmählich versagt und sich an der Organisation des politischen Hasses beteiligt, von dem das 20. Jahrhundert geprägt wurde.
In deutschen Diskussionen über die politische Rolle des Schriftstellers hat Bendas Position keinen Widerhall gefunden. So fiel es Herta Müller zu, nach dem Ende der DDR, bei der Vereinigung der Schriftstellerverbände daran zu erinnern, dass der P.E.N.-Club auf einem ethischen Konzept beruht, das sich mit dem Bendas deckt. Die Mitglieder verpflichten sich nämlich, "für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in einer einigen Welt in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken". Für Herta Müller war der ostdeutsche P.E.N. dagegen ein "Schweigeverein, der sich vom Staat finanzieren ließ". Ein undifferenzierter Zusammenschluss kam für sie nicht in Frage: "Wer diese Ethik nicht durch seine Biographie begleitet hat, es tut mir leid, der hat da nichts verloren."
Auch Christa Wolf hat immer wieder die Verantwortung der Schriftsteller beschworen, aber da war sie längst verstrickt. Mit ihrer Einwilligung, als "IM Margarete" von 1959 bis 1962 für die Staatssicherheit tätig zu werden, hatte sie, die ihren "Faust" kannte, den Teufelspakt mit der Macht unterzeichnet, dessen Folgen sie als andere Gretchenfrage nicht wieder los wurde. Da half es nichts, dass sie offenbar versucht hatte, den Teufel zu betrügen, indem sie nur Unerwünschtes oder Harmloses berichtete. Der Teufel rächte sich durch das Rubrum der Doppelzüngigkeit, unter dem sie fortan lückenlos überwacht wurde.
Die Konfliktlage wirkt je direkt in den Briefverkehr hinein, der nun unter den Augen der Überwacher stattfindet. 1984 schreibt sie an Raissa Orlowa-Kopelew: "Es gibt seit Jahren von mir keine wirklich offenen Briefe an Freunde. Das Briefeschreiben ist mir buchstäblich vergangen - bei einem enormen Postverkehr übrigens." Dennoch wird ihr Leben in den Briefen bis hinein in Freude und Mühsal des Alltags anschaulich, und immer wieder zeigt sich ein großes Bedürfnis nach Freundschaft und Vernetzung.
Wörter, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben
Bei zunehmender Durchdringung ihrer Lage wird ihr klar, dass sie an das Unrecht gebunden bleibt. Auszuhalten war das offenbar nur durch weitgehende Verdrängung vor allem ihrer Stasimitarbeit. Immer wieder beteuert sie, dass sie die Vorgänge der Zeit "wirklich!" vergessen hatte. Erst in den Briefen der frühen neunziger Jahre bekennt sie offener, wie weit sie sich auch sprachlich auf die Macht eingelassen hatte: "Ich habe ja diese Wörter benutzt, die mir heute die Schamröte ins Gesicht treiben, ich habe ja angefangen, diese Sprache zu sprechen." Die Suche nach ihrer eigenen Sprache habe sie schließlich gerettet, was sie mal mehr, mal weniger larmoyant als einen schmerzhaften Prozess schildert. So schreibt sie 1991 an Jürgen Habermas: "Von mir muß ich sagen, daß ich mich erst allmählich aus Einseitigkeit, dogmatischen Vorurteilen, Gläubigkeit, Befangenheit herausgearbeitet habe: allmählich und sehr schwer, unter Schmerzen und existentiellen Konflikten."
Vollständig aber konnte das nicht gelingen. Spätestens seit ihrem zweifellos Mut erfordernden dissidentischen Auftritt im 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965, gesteigert noch einmal nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, musste sich Christa Wolf immer wieder zwischen Reden und Schweigen, Aufbegehren und Kompromiss entscheiden. Die Briefe zeigen, dass sie seitdem unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck steht. Dabei verschweigt sie Freunden nicht, dass ihr auch der Verzicht auf ihre Privilegien schwer gefallen wäre, die im Nachhinein zur Gewissensbelastung werden. Diese Zwickmühle führte zu wiederkehrenden Nervenzusammenbrüchen.
In den späten achtziger Jahren lässt sie immer mehr Rücksichten fallen. In einem Brief zum X. Kongress des Schriftstellerverbandes 1987 kritisiert sie dessen Rolle seit der Ausbürgerung Biermanns massiv, um schließlich für "uneingeschränkte Publikation literarischer Werke" zu plädieren, worin ihr Günter de Bruyn und andere folgen. Die Stasi attestiert ihr daraufhin einen "herausragend negativen Stellenwert". In einem Brief an Honecker setzt sie sich 1988 für die jungen Menschen ein, die im Januar für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und Demokratie demonstriert hatten und den Kern der späteren Bürgerrechtsbewegung bildeten. Mit dem P.E.N. solidarisiert sie sich mit Salman Rushdie und Václav Havel. In einem Brief an den chinesischen Botschafter protestiert sie 1989 gegen die blutige Niederschlagung der Demonstration auf dem Tiananmen-Platz; ebenso beim Generalstaatsanwalt gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten am 7. und 8. Oktober.
Als wäre sie die Kanzlerin eines neuen Staates
So spielt sie bei Annäherung an die Zeitenwende zunehmend die Rolle einer kritischen moralischen Instanz, und als eine solche wird sie von ihren Lesern wie von der Staatsführung auch betrachtet. Dabei scheint sie gelegentlich vergessen zu wollen, dass sie auch mit ihrem kritischen Engagement an den Machtkomplex gebunden bleibt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass sie mit ihrem Mann eine Übergangsregierung mit Kabinettsliste entwirft, als wäre sie die Kanzlerin eines neuen Staates. Immer nachdrücklicher lässt sie jedenfalls ihr Verbleiben in der DDR als eine nicht ohne heroischen Opfermut angenommene politische wie persönliche Herausforderung und Aufgabe erscheinen. Jurek Beckers Aufforderung an die Schriftsteller, "wir sollten uns alle zu unserer vierzigjährigen Feigheit bekennen", empfindet sie dagegen als Anmaßung und tut sie als Bedürfnis jener ab, die mit ihrem Weggang recht behalten wollten. An Rosemarie Zeplin schreibt sie im August 1990: "Und dafür, daß ich hiergeblieben bin, sehe ich keinen Anlaß, mich zu rechtfertigen. Ich glaube, in gewissem Sinn war es schwieriger als wegzugehen und allein daraus alle Entlastung zu ziehen. Ich weiß noch genau, wann und wo ich mir die Alternative stellte: Entweder du machst dich frei von jeder Abhängigkeit, oder du mußt weggehen."
Tatsächlich aber bleibt die Briefschreiberin weiterhin mit Selbstrechtfertigung beschäftigt, was sich je nach Adressat verschieden darstellt. Gleich mehrfach findet sich in der Zeit die Formulierung, sie verspüre "eine rasende Sehnsucht nach Unschuld". Eine folgenlose Floskel, denn sie weiß ja, dass sie diese Unschuld schon früh eingebüßt hatte. Sie tröstet sich mit dem kryptischen Bonmot eines Schweizer Journalisten, auf Unschuld sei es nicht angelegt. Sie wünscht sich, an manchen Punkten "radikaler, konsequenter gehandelt zu haben", aber letztlich glaubt sie, keine Wahl gehabt zu haben. So relativiert sie ihre zweifellos vorhandenen Schuldgefühle durch den Gedanken einer geschichtlichen Bedingtheit, der die ostdeutschen Intellektuellen nicht entrinnen konnten.
Derart verfolgt sie in den Briefen der frühen neunziger Jahre eine vertrackte Strategie der Selbstbehauptung, die, wie sie 1991 an Margarete Mitscherlich schreibt, aus dem Gefühl resultiert, man wolle ihr "ihr Leben nehmen und mir an dessen Stelle ein anderes unterschieben, so wie die ganze DDR zu einer schauerlichen Chimäre aufgeblasen wurde, die man nun frischfröhlich abwickeln kann". Diese Selbstbehauptung geschieht gelegentlich nicht ohne Arroganz nach älterem Muster der Verachtung der Massen, die "auf den großen Plätzen fahnenschwenkend Kohl zugejubelt haben, das Fernsehen brachte ihre glaubensseligen Gesichter, ihre vor Anbetung verdrehten Augen ins Wohnzimmer". Die Motive der Einheitsbefürworter reduziert sie auf Profitstreben, für eine wahre Befreiung hat das dumme Volk im Gegensatz zu ihr keinen Sinn. Dabei fällt ihre Kapitalismuskritik erstaunlich grobschlächtig aus.
Im Westen habe sie nicht leben wollen, weil sie in der Bundesrepublik keinen Funken der Utopie entdecken konnte. Als sie "Kein Ort. Nirgends" (1979) schrieb, sei allerdings auch die DDR schon nicht mehr der Staat der Schriftsteller gewesen, sei es dann aber 1989 kurz noch einmal geworden: "als Traum". Die reale Entwicklung betrachtet sie dagegen in Kategorien von Sieg und Niederlage, womit sie sich gleichzeitig die moralische Beurteilung durch andere, die freilich seinerzeit in manchen Medien außer Proportion geriet, vom Leibe halten will. Wolfgang Thierses Vorschlag eines Tribunals lehnt sie ab, "weil die Rechtsmaßstäbe der Sieger noch andere Interessen verfolgen als die, Humanität wiederherzustellen: zu groß ist das Bedürfnis nach Rache und nach Selbstbeweihräucherung". Über die Maßstäbe der Kritik möchte sie selber verfügen, was immer wieder zur Relativierung, zur Absetzung von den "wirklich Schuldigen" führt: "Ehrgeizlinge, Feiglinge und Arschkriecher".
Noch in Kalifornien, während ihrer Zeit als Fellow des Getty Center 1992, kommt ihr gelegentlich die Wut "über alles" hoch. Sie bleibt auch dort noch mit Selbstbehauptung beschäftigt, gewinnt aber langsam an Distanz und findet Geschmack an der Idee, "zwischen allen Fronten" zu stehen. Die DDR rückt dabei zunehmend in die Ferne der geschichtlich unrealisierten Möglichkeit eines humanen Sozialismus.
FRIEDMAR APEL
Christa Wolf: "Man steht sehr bequem zwischen
allen Fronten". Briefe 1952-2011.
Hrsg. von Sabine Wolf.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 1040 S., geb., 38,- [Euro].
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»Die Herausgeberin Sabine Wolf zeigt in diesem klug komponierten Band die ganze Vielfalt der Adressaten und Schreibweisen... eine beeindruckende Auswahl.« Jörg Magenau Süddeutsche Zeitung 20161215