Produktdetails
- Verlag: Aufbau Verlag
- ISBN-13: 9783351028381
- ISBN-10: 3351028385
- Artikelnr.: 07308335
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.1998Unsichtbare Kreise
Lenka Reinerovás Erzählungen · Von Thomas Poiss
Erzählen, weil man so viel erlebt hat, daß es ohne die Klarheit der Sprache kaum zu ertragen wäre - dieses Motiv beherrscht die Texte Lenka Reinerovás und verleiht ihnen die Fähigkeit, den Leser an einer vielschichtigen Gegenwart teilhaben zu lassen. Es geht in diesen Erzählungen um den tschechischen Alltag der Nachwendezeit, gesehen mit den Augen einer 1916 in bürgerlich-jüdischen Verhältnissen geborenen Frau, die das exemplarische Leben einer Linksintellektuellen durchleben mußte: Flucht vor den Nazis über Marseille nach Mexiko, Rückkehr nach Europa, zunächst nach Belgrad, später nach Prag; der stalinistische Terror bringt sie dort erneut ins Gefängnis und nimmt einer Kommunistin den Glauben, nicht aber den Schauer beim Hören der "Internationalen".
Diese Vita spiegelt sich in drei Geschichten: in einer Reise in die tschechische Provinz, im Ringen mit einer langwierigen Krebserkrankung und in einer Erholungsfahrt an einen slowakischen See. Freilich ist der Ort, an dem die Erzählerin bei einer deutsch-tschechischen Begegnung dolmetschen soll, keine gewöhnliche Provinzstadt. Hatte sie schon in Prag auf der Straße einen seltsamen Mann gesehen, der Ringe in die Luft zeichnete, so gibt es auch bei der Anfahrt in die Kleinstadt gleich etwas zu staunen.
Zunächst sind es die in Nähe zur deutschen Grenze feilgebotenen Gartenzwerge und Mädchen, auf die der Blick fällt, doch dann zeichnet wieder ein Mann auf dem Hauptplatz der Stadt Kringel in die Luft. Die Stadt, in der noch heute alles leer und deplaziert wirkt, ist jene, von der einst Mutter und Schwester der Erzählerin in den Tod gingen: Theresienstadt. Ein Besuch bei der Bürgermeisterin deutet zumindest eine Erklärung für den wunderlichen Luftmaler an. Die Stadt erwirkte die Verlegung einer Krankenhausabteilung aus Prag, so daß nun Depressive die Stadt um 250 Seelen vermehren. "Nur harmlose Fälle, völlig ungefährlich", beteuert die Beamtin voll Stolz auf die so gewonnenen Arbeitsplätze.
Das Kernstück des Bandes ist die Kontrastierung von Kommunismus und Krankheit als "tragischer Irrtum und richtige Diagnose". Am meisten überzeugt dabei die indirekte Darstellung. Bereits das Mädchen erhielt eine Vorahnung der Jahrhundertangst, als es durch das Oberlichtfenster des Kinderzimmers beobachtet, wie eine nächtliche Steuerfahndung den Frieden des Elternhauses durchbricht. Dem gegenüber steht die Erfahrung teilnehmender Solidarität, wie sie aus einer fremden Nachbarin im Krankenhaus spricht, die die aus der Narkose erwachende Autorin mit den Worten begrüßt: "Na, sind Sie wieder da?" Das ist eine Phrase, aber sie bedeutet nicht weniger als die Rückkehr ins Leben und das Willkommensein unter den Menschen.
Ähnlich elementar sind die Erfahrungen beim Besuch der Slowakei: der betörende Duft gebrannter Mandeln am Straßenstand, der Novemberwind am See oder die resolute Bäuerin, die mit der Gans Eliska in der Bahn reist und nebenbei die Welt erklärt. Zwar besteht bei solchem Erzählen die Gefahr, ins Malerische und ins Erbauliche zu kippen, doch wer sollte sonst für den Wert des Weiterlebens bürgen, wenn nicht eine Frau, die Judenverfolgung, Stalinismus und Krebs überstand? Mit Staunen nimmt die mit Marseille und Mexiko vertraute Autorin wahr, mit welcher Fremdheit sie einen slowakischen Ort durchstreift. Und dennoch: Wie unverbittert taucht Lenka Reinerová in den Mandelduft, wie schlicht vermag sie am Ende dieses Jahrhunderts das Unfaßliche auszusprechen. Liegt nicht gerade darin das Kriterium möglichen Glücks?
Lenka Reinerová: "Mandelduft". Erzählungen. Aufbau Verlag, Berlin 1998. 144 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lenka Reinerovás Erzählungen · Von Thomas Poiss
Erzählen, weil man so viel erlebt hat, daß es ohne die Klarheit der Sprache kaum zu ertragen wäre - dieses Motiv beherrscht die Texte Lenka Reinerovás und verleiht ihnen die Fähigkeit, den Leser an einer vielschichtigen Gegenwart teilhaben zu lassen. Es geht in diesen Erzählungen um den tschechischen Alltag der Nachwendezeit, gesehen mit den Augen einer 1916 in bürgerlich-jüdischen Verhältnissen geborenen Frau, die das exemplarische Leben einer Linksintellektuellen durchleben mußte: Flucht vor den Nazis über Marseille nach Mexiko, Rückkehr nach Europa, zunächst nach Belgrad, später nach Prag; der stalinistische Terror bringt sie dort erneut ins Gefängnis und nimmt einer Kommunistin den Glauben, nicht aber den Schauer beim Hören der "Internationalen".
Diese Vita spiegelt sich in drei Geschichten: in einer Reise in die tschechische Provinz, im Ringen mit einer langwierigen Krebserkrankung und in einer Erholungsfahrt an einen slowakischen See. Freilich ist der Ort, an dem die Erzählerin bei einer deutsch-tschechischen Begegnung dolmetschen soll, keine gewöhnliche Provinzstadt. Hatte sie schon in Prag auf der Straße einen seltsamen Mann gesehen, der Ringe in die Luft zeichnete, so gibt es auch bei der Anfahrt in die Kleinstadt gleich etwas zu staunen.
Zunächst sind es die in Nähe zur deutschen Grenze feilgebotenen Gartenzwerge und Mädchen, auf die der Blick fällt, doch dann zeichnet wieder ein Mann auf dem Hauptplatz der Stadt Kringel in die Luft. Die Stadt, in der noch heute alles leer und deplaziert wirkt, ist jene, von der einst Mutter und Schwester der Erzählerin in den Tod gingen: Theresienstadt. Ein Besuch bei der Bürgermeisterin deutet zumindest eine Erklärung für den wunderlichen Luftmaler an. Die Stadt erwirkte die Verlegung einer Krankenhausabteilung aus Prag, so daß nun Depressive die Stadt um 250 Seelen vermehren. "Nur harmlose Fälle, völlig ungefährlich", beteuert die Beamtin voll Stolz auf die so gewonnenen Arbeitsplätze.
Das Kernstück des Bandes ist die Kontrastierung von Kommunismus und Krankheit als "tragischer Irrtum und richtige Diagnose". Am meisten überzeugt dabei die indirekte Darstellung. Bereits das Mädchen erhielt eine Vorahnung der Jahrhundertangst, als es durch das Oberlichtfenster des Kinderzimmers beobachtet, wie eine nächtliche Steuerfahndung den Frieden des Elternhauses durchbricht. Dem gegenüber steht die Erfahrung teilnehmender Solidarität, wie sie aus einer fremden Nachbarin im Krankenhaus spricht, die die aus der Narkose erwachende Autorin mit den Worten begrüßt: "Na, sind Sie wieder da?" Das ist eine Phrase, aber sie bedeutet nicht weniger als die Rückkehr ins Leben und das Willkommensein unter den Menschen.
Ähnlich elementar sind die Erfahrungen beim Besuch der Slowakei: der betörende Duft gebrannter Mandeln am Straßenstand, der Novemberwind am See oder die resolute Bäuerin, die mit der Gans Eliska in der Bahn reist und nebenbei die Welt erklärt. Zwar besteht bei solchem Erzählen die Gefahr, ins Malerische und ins Erbauliche zu kippen, doch wer sollte sonst für den Wert des Weiterlebens bürgen, wenn nicht eine Frau, die Judenverfolgung, Stalinismus und Krebs überstand? Mit Staunen nimmt die mit Marseille und Mexiko vertraute Autorin wahr, mit welcher Fremdheit sie einen slowakischen Ort durchstreift. Und dennoch: Wie unverbittert taucht Lenka Reinerová in den Mandelduft, wie schlicht vermag sie am Ende dieses Jahrhunderts das Unfaßliche auszusprechen. Liegt nicht gerade darin das Kriterium möglichen Glücks?
Lenka Reinerová: "Mandelduft". Erzählungen. Aufbau Verlag, Berlin 1998. 144 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main