40 bisher nicht übersetzte Gedichte des jungen Dichters Ossip Mandelstam - übertragen und mit einem umfangreichen Essay versehen von Ralph Dutli.Der 1891 in Warschau geborene, 1938 im Gulag bei Wladiwostok ums Leben gekommene russisch-jüdische Jahrhundertdichter Ossip Mandelstam, »ein moderner Orpheus« (Joseph Brodsky), hielt sich von Oktober 1909 bis März 1910 in Heidelberg auf. Dessen berühmte Universität war das Anlaufziel vieler Russen, die im Zarenreich vom Studium ausgeschlossen waren. Die in der Stadt am Neckar entstandenen Jugendgedichte nahm Mandelstam später nicht in seine Gedichtsammlungen auf, doch zeigen sie bereits viele Motive, die für sein Werk bedeutsam werden sollten. Der noch nicht einmal zwanzigjährige Dichter war auf der Suche nach seinem dichterischen Weg, seiner Beziehung zur Welt, zur Natur, zur Liebe. Mandelstams Jugendgedichte sind zarte sprachliche Gebilde von zuweilen erstaunlicher Reife und Tiefgründigkeit.Der Band enthält die sieben an die russischenDichter Wjatscheslaw Iwanow und Maximilian Woloschin adressierten Briefe aus Heidelberg sowie erstmals sämtliche in Heidelberg und im Umkreis des Deutschlandaufenthaltes entstandenen vierzig Gedichte im russischen Original und in deutscher Übertragung. In seinem Essay »Ich war das Buch, das euch im Traum erscheint« spricht Ralph Dutli auf faszinierende Weise über die deutschen Reminiszenzen in Ossip Mandelstams Werk.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ulrich M. Schmid freut sich, dass der verdiente Mandelstam-Kenner, Biograf, Übersetzer und Herausgeber Ralph Dutli dem von ihm umfangreich edierten Oeuvre nun auch die Gedichte und Briefe aus den Jahren 1909 bis 1910 hinzufügt. Der Kritiker verdankt diesem Werk nicht nur erhellende Einblicke in Mandelstams Studentenzeit in Heidelberg, sondern zeigt sich auch erstaunt über die "Reife", die der Lyriker bereits in seinen frühen Gedichten beweist. Fasziniert liest Schmid hier darüber hinaus nach, wie sehr sich das "himmelstürmende Pathos" der frühen Gedichte von den zur gleichen Zeit verfassten, "zaghaften" Briefen an Maximilian Woloschin und Wjatscheslaw Iwanow unterscheidet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2016Wer hat den Vers aus Heidelberg verloren?
Ralph Dutli übersetzt und deutet Ossip Mandelstams Jugendgedichte aufregend neu
Wenn der 1891 in Warschau als Kind einer jüdischen Familie geborene und 1938 in einem sibirischen Arbeitslager unter unklaren Umständen ums Leben gekommene Ossip Mandelstam heute in Deutschland als einer der größten russischen Lyriker gilt, dann verdankt sich das dem Wirken von Ralph Dutli. Der Schweizer Schriftsteller hat von 1985 bis 2000 eine zehnbändige Mandelstam-Werkausgabe mit Gedichten, Prosa und Essayistik erstellt, für die er selbst alle Texte übersetzte, und drei Jahre danach folgte eine meisterhafte Biographie des Dichters unter dem Titel "Meine Zeit, mein Tier", die etliche Texte heranzog, die es deshalb nicht in die Werkausgabe geschafft hatten, weil Dutli sich dort auf das beschränken wollte, was Mandelstam selbst zu Lebzeiten in Druck gegeben hatte. Doch selbst diese zusammen viele tausend Seiten des verdeutschten Mandelstam umfassten immer noch nicht das ganze Schaffen dieses Jahrhundertautors, dessen nimmermüde Tätigkeit in einem Gedicht aus dem Jahr 1909 seine Motivation erhielt: "Prophetisch ist der Atem meiner Verse, / Der Geist in ihnen ist belebend."
Diese zwei Zeilen schrieb Mandelstam in Heidelberg, und sie gehören zu einem Gedicht, das er selbst nie veröffentlichen sollte. Man kennt es, weil es sich gemeinsam mit drei anderen in einem Brief erhalten hat, den der damals achtzehnjährige Student in die Heimat an den bereits etablierten Dichter Wjatscheslaw Iwanow geschickt hatte: zur Beurteilung der Poeme. Drei Wochen zuvor waren bereits weitere sechs an denselben Empfänger gegangen, und bis Ende des Jahres sollten noch drei mehr folgen. Gemeinsam mit einer früheren Sendung aus Heidelberg an den Lyriker Maximilian Woloschin sind so vierzehn Gedichte auf uns gekommen, die Mandelstam, der sich damals sehr rasch um kundige Leser für seine neuen Werke bemühte, somit während seines Gastsemesters in der berühmten deutschen Universitätsstadt geschrieben haben dürfte. Keines aber sollte in seinen seit 1913 erschienenen Lyrikbänden Aufnahme finden, also fehlten sie auch alle in Dutlis Werkausgabe.
Nun aber hat der unermüdliche Mandelstam-Vermittler, der seit 1994 selbst in Heidelberg lebt, auch dieses Konvolut ins Deutsche gebracht und es noch um ein Gedicht ergänzt, das der Lyriker in gekürzter Fassung gleich in drei Auswahlbände aufgenommen hatte, womit es zu einem der von ihm meistgeschätzten avancierte. Es ist in paargereimten Distichen abgefasst, und da Dutli sich bemüht, Mandelstams Reimschemata treu nachzuvollziehen (womit er Vladimir Nabokovs Überzeugung widerspricht, dass es in Lyrik-Übersetzungen zuvorderst darum gehen müsse, den inhaltlichen Sinn eines Gedichts zu bewahren, nicht die Form), lautet die deutsche Fassung:
Nichts, worüber sich zu sprechen lohnt,
Nichts zu lehren gibt es unterm Mond,
Wenn es keinen Sinn im Leben gibt,
Bleibt das Sprechen zwecklos und getrübt.
Bin im Herzen wohl noch ziemlich wild.
Öde die Sprache, die nur als verständlich gilt.
Und so traurig ist sie, dunkel-schön,
Unsere Seele, als ein Tier gesehn:
Nichts will sie uns lehren, niemals, nie,
Immerzu nur sprachlos-stumm ist sie
Und so schwimmt sie, jung als ein Delphin
Durch den Abgrund grauer Welt dahin.
Dass Dutli dieses Gedicht als fünfzehntes dem von ihm so genannten "Heidelberger Zyklus" zuordnet, liegt an einer von fremder Hand auf dem erhaltenen Autograph notierten Entstehungsangabe: "Heidelberg, Dezember 1909". Dass es nicht an Iwanow oder Woloschin geschickt wurde, ist leicht zu verstehen, denn Mandelstam proklamiert darin seine Abkehr vom symbolistischen Dichten, das in Russland seinerzeit die vorherrschende Gattung war und in den beiden Adressaten prominente Vertreter hatte. Mandelstam sollte später zu den Begründern des Akmeismus gehören, einer Lyrikschule, die statt des übersinnlich Symbolischen das Konkrete darzustellen suchte, also den "Sinn im Leben". Der Heidelberg-Aufenthalt wird somit zu einer Wegscheide von größter Wichtigkeit für die Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts.
"Ich gestehe gern, dass ich Mandelstams Jugendgedichte lange Zeit unterschätzt hatte", räumt Dutli ein. Das hat sich radikal gewandelt. In seinem Buch "Mandelstam, Heidelberg" hat er deshalb nicht nur die fünfzehn einigermaßen sicher in Heidelberg verfassten Gedichte erstmals ins Deutsche gebracht, sondern sie auch noch um Übersetzungen der insgesamt sieben (allerdings sehr kurzen) Briefe an Iwanow und Woloschin ergänzt sowie zwei lange Essays geschrieben, die sich der Bedeutung der frühen Lyrik Mandelstams und dem Einfluss der deutschen Kultur auf dessen gesamtes Schaffen widmen. Mandelstam war nicht häufig außer Landes; ein Jahr vor Heidelberg hatte er sich ähnlich lange in Paris aufgehalten, und im Sommer 1910 begleitete er seine Mutter nach Berlin, wo er bis Oktober blieb. Danach verließ er Russland nicht mehr, aber die beiden Deutschland-Aufenthalte hatten die ihm von seinem Vater bereits vermittelte Begeisterung für die dortige Kultur vertieft, wie Dutli durch etliche spätere Gedichte und Äußerungen nachweisen kann. Selbst im Ersten Weltkrieg fand Mandelstam noch dichtend freundliche Worte für den Gegner: "Tiefsinnig, zärtlich ist das Land, mit ihm verlobt / Uns die Beständigkeit am meisten."
Was das Buch aber noch bedeutender macht, ist Dutlis Wille zur Ausweitung des "Heidelberger Zyklus". Alle fünfzehn gesicherten Gedichte müssen 1909 entstanden sein, doch Mandelstam studierte bis März 1910 in Heidelberg. Unmöglich, dass er dort nicht mehr gedichtet hätte. Deshalb definiert Dutli einen "Umkreis der Heidelberger Gedichte", in den er weitere 25 Poeme aufnimmt, die 1909 und 1910 entstanden sind - auch sie alle zuvor auf Deutsch nicht greifbar. Dass etliche davon eindeutig vor dem Heidelberger Aufenthalt entstanden sind, andere danach, ficht Dutli nicht an: Er stellt in seinen Einzelkommentaren zu jedem Gedicht inhaltliche wie stilistische Parallelen fest und macht sein Buch damit zu einer literaturgeschichtlich überaus erfrischenden Spekulation, ohne dabei die analytische Strenge zu vernachlässigen. Und Dutli selbst zu lesen ist ja immer ein Genuss.
ANDREAS PLATTHAUS
Ralph Dutli: "Mandelstam, Heidelberg". Gedichte und Briefe 1909-1910.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 192 S., 2 Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ralph Dutli übersetzt und deutet Ossip Mandelstams Jugendgedichte aufregend neu
Wenn der 1891 in Warschau als Kind einer jüdischen Familie geborene und 1938 in einem sibirischen Arbeitslager unter unklaren Umständen ums Leben gekommene Ossip Mandelstam heute in Deutschland als einer der größten russischen Lyriker gilt, dann verdankt sich das dem Wirken von Ralph Dutli. Der Schweizer Schriftsteller hat von 1985 bis 2000 eine zehnbändige Mandelstam-Werkausgabe mit Gedichten, Prosa und Essayistik erstellt, für die er selbst alle Texte übersetzte, und drei Jahre danach folgte eine meisterhafte Biographie des Dichters unter dem Titel "Meine Zeit, mein Tier", die etliche Texte heranzog, die es deshalb nicht in die Werkausgabe geschafft hatten, weil Dutli sich dort auf das beschränken wollte, was Mandelstam selbst zu Lebzeiten in Druck gegeben hatte. Doch selbst diese zusammen viele tausend Seiten des verdeutschten Mandelstam umfassten immer noch nicht das ganze Schaffen dieses Jahrhundertautors, dessen nimmermüde Tätigkeit in einem Gedicht aus dem Jahr 1909 seine Motivation erhielt: "Prophetisch ist der Atem meiner Verse, / Der Geist in ihnen ist belebend."
Diese zwei Zeilen schrieb Mandelstam in Heidelberg, und sie gehören zu einem Gedicht, das er selbst nie veröffentlichen sollte. Man kennt es, weil es sich gemeinsam mit drei anderen in einem Brief erhalten hat, den der damals achtzehnjährige Student in die Heimat an den bereits etablierten Dichter Wjatscheslaw Iwanow geschickt hatte: zur Beurteilung der Poeme. Drei Wochen zuvor waren bereits weitere sechs an denselben Empfänger gegangen, und bis Ende des Jahres sollten noch drei mehr folgen. Gemeinsam mit einer früheren Sendung aus Heidelberg an den Lyriker Maximilian Woloschin sind so vierzehn Gedichte auf uns gekommen, die Mandelstam, der sich damals sehr rasch um kundige Leser für seine neuen Werke bemühte, somit während seines Gastsemesters in der berühmten deutschen Universitätsstadt geschrieben haben dürfte. Keines aber sollte in seinen seit 1913 erschienenen Lyrikbänden Aufnahme finden, also fehlten sie auch alle in Dutlis Werkausgabe.
Nun aber hat der unermüdliche Mandelstam-Vermittler, der seit 1994 selbst in Heidelberg lebt, auch dieses Konvolut ins Deutsche gebracht und es noch um ein Gedicht ergänzt, das der Lyriker in gekürzter Fassung gleich in drei Auswahlbände aufgenommen hatte, womit es zu einem der von ihm meistgeschätzten avancierte. Es ist in paargereimten Distichen abgefasst, und da Dutli sich bemüht, Mandelstams Reimschemata treu nachzuvollziehen (womit er Vladimir Nabokovs Überzeugung widerspricht, dass es in Lyrik-Übersetzungen zuvorderst darum gehen müsse, den inhaltlichen Sinn eines Gedichts zu bewahren, nicht die Form), lautet die deutsche Fassung:
Nichts, worüber sich zu sprechen lohnt,
Nichts zu lehren gibt es unterm Mond,
Wenn es keinen Sinn im Leben gibt,
Bleibt das Sprechen zwecklos und getrübt.
Bin im Herzen wohl noch ziemlich wild.
Öde die Sprache, die nur als verständlich gilt.
Und so traurig ist sie, dunkel-schön,
Unsere Seele, als ein Tier gesehn:
Nichts will sie uns lehren, niemals, nie,
Immerzu nur sprachlos-stumm ist sie
Und so schwimmt sie, jung als ein Delphin
Durch den Abgrund grauer Welt dahin.
Dass Dutli dieses Gedicht als fünfzehntes dem von ihm so genannten "Heidelberger Zyklus" zuordnet, liegt an einer von fremder Hand auf dem erhaltenen Autograph notierten Entstehungsangabe: "Heidelberg, Dezember 1909". Dass es nicht an Iwanow oder Woloschin geschickt wurde, ist leicht zu verstehen, denn Mandelstam proklamiert darin seine Abkehr vom symbolistischen Dichten, das in Russland seinerzeit die vorherrschende Gattung war und in den beiden Adressaten prominente Vertreter hatte. Mandelstam sollte später zu den Begründern des Akmeismus gehören, einer Lyrikschule, die statt des übersinnlich Symbolischen das Konkrete darzustellen suchte, also den "Sinn im Leben". Der Heidelberg-Aufenthalt wird somit zu einer Wegscheide von größter Wichtigkeit für die Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts.
"Ich gestehe gern, dass ich Mandelstams Jugendgedichte lange Zeit unterschätzt hatte", räumt Dutli ein. Das hat sich radikal gewandelt. In seinem Buch "Mandelstam, Heidelberg" hat er deshalb nicht nur die fünfzehn einigermaßen sicher in Heidelberg verfassten Gedichte erstmals ins Deutsche gebracht, sondern sie auch noch um Übersetzungen der insgesamt sieben (allerdings sehr kurzen) Briefe an Iwanow und Woloschin ergänzt sowie zwei lange Essays geschrieben, die sich der Bedeutung der frühen Lyrik Mandelstams und dem Einfluss der deutschen Kultur auf dessen gesamtes Schaffen widmen. Mandelstam war nicht häufig außer Landes; ein Jahr vor Heidelberg hatte er sich ähnlich lange in Paris aufgehalten, und im Sommer 1910 begleitete er seine Mutter nach Berlin, wo er bis Oktober blieb. Danach verließ er Russland nicht mehr, aber die beiden Deutschland-Aufenthalte hatten die ihm von seinem Vater bereits vermittelte Begeisterung für die dortige Kultur vertieft, wie Dutli durch etliche spätere Gedichte und Äußerungen nachweisen kann. Selbst im Ersten Weltkrieg fand Mandelstam noch dichtend freundliche Worte für den Gegner: "Tiefsinnig, zärtlich ist das Land, mit ihm verlobt / Uns die Beständigkeit am meisten."
Was das Buch aber noch bedeutender macht, ist Dutlis Wille zur Ausweitung des "Heidelberger Zyklus". Alle fünfzehn gesicherten Gedichte müssen 1909 entstanden sein, doch Mandelstam studierte bis März 1910 in Heidelberg. Unmöglich, dass er dort nicht mehr gedichtet hätte. Deshalb definiert Dutli einen "Umkreis der Heidelberger Gedichte", in den er weitere 25 Poeme aufnimmt, die 1909 und 1910 entstanden sind - auch sie alle zuvor auf Deutsch nicht greifbar. Dass etliche davon eindeutig vor dem Heidelberger Aufenthalt entstanden sind, andere danach, ficht Dutli nicht an: Er stellt in seinen Einzelkommentaren zu jedem Gedicht inhaltliche wie stilistische Parallelen fest und macht sein Buch damit zu einer literaturgeschichtlich überaus erfrischenden Spekulation, ohne dabei die analytische Strenge zu vernachlässigen. Und Dutli selbst zu lesen ist ja immer ein Genuss.
ANDREAS PLATTHAUS
Ralph Dutli: "Mandelstam, Heidelberg". Gedichte und Briefe 1909-1910.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 192 S., 2 Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»eine bemerkenswerte, auch literaturgeschichtlich wertvolle Ausgabe« (Harald Loch, Mannheimer Morgen, 14.01.2016) »Dutli übersetzt und deutet Ossip Mandelstams Jugendgedichte aufregend neu« (Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.2016) »In diesem wundersamen Erinnerungsband zu Ossip Mandelstam wird dessen Aufenthalt in Heidelberg akribisch und zweisprachig geradezu liebevoll präsent.« (www.kultur-punkt.ch, Januar 2016) »Ralph Dutli, der unermüdliche Vermittler in Sachen Ossip Mandelstam, hat auch diesmal wieder imponierende Überzeugungsarbeit geleistet.« (Anton Thuswaldner, ORF - Ex libris, 19.06.2016)