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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2018

Wahrheit unter Wasser

Eine Taucherin, ein Gangster und eine uralte Metapher: "Manhattan Beach" , der neue Roman der großen Jennifer Egan

Gibt es eine größere Metapher für das Leben als das Meer? Oder eine, die verbrauchter wäre? Jedenfalls weiß man nicht, wo man anfangen soll, wollte man aufzählen, wie viele Künstlerinnen und Künstler schon vom Meer erzählt haben, es ins Bild setzten oder besangen.

Und wie gut kann man das verstehen: Wie oft steht man selbst da, am Strand, und denkt sich seinen Teil, während die Wellen heranrollen, immer anders, mal Drama, mal Frieden, mal Trost, mal Bedrohung - oder ist dieses Schauspiel doch nur ein einziger Zufall, ohne Bedeutung?

Stanislaw Lem, der große Futurologe, hat die menschliche Sinnsuche im Meer in seinem Roman "Solaris" in Science-Fiction verwandelt. Da erforschen Astronauten auf einem fernen Planeten einen Ozean, der ihre Ängste und Wünsche zum Leben erweckt, so dass die wie Gespenster in der Raumstation auftauchen: falsche Hoffnungen auf Erlösung aus einem Trauma. Sinnsuche endet ja selten gut. Auch Ahab hat zwar seinen weißen Wal gefunden, ging aber trotzdem mit diesem Moby Dick und seiner "Pequod" unter. Und spukt jetzt schon seit hundertsiebzig Jahren durch die Kunst und die Einbildungskraft all jener, die Kunst machen.

Wie Jennifer Egan, die wichtigste amerikanische Schriftstellerin ihrer Generation. Sie hat jetzt einen neuen Roman geschrieben und ihm ein Zitat aus Herman Melville vorangestellt. Sie ist nicht die Erste, die so was tut, aber es wirkt trotzdem jedes Mal: "Ja, wie jeder weiß, sind Besinnlichkeit und Wasser auf ewig vermählt."

"Manhattan Beach" heißt dieser neue, historische Roman von Jennifer Egan, den auf fünfhundert Seiten die See durchfließt: "Die See sehen die See die See die See", ein lautmalerisches Flüstern in Egans glasklarer Prosa, ein Leitmotiv, kursiv gesetzt. Wo Egan in "Der größere Teil der Welt" noch ihren Plot in Perspektiven zersplitterte, holt sie jetzt weit aus - und scheut dabei auch stilistische Esoterik nicht. "Manhattan Beach" ist mit aller Kraft darauf angelegt, ein großer Roman zu sein. So wie vielleicht "Das Geisterhaus" einer war oder "Freiheit" von Jonathan Franzen. Ein ewig langer Roman, der von seiner eigenen epischen Gestaltungskraft zehrt. Und sie inszeniert.

Die Geschichte spielt Anfang der vierziger Jahre in New York, als Amerika in den Krieg gegen Hitlerdeutschland und die Achsenmächte zieht. Erzählt wird von der jungen Anna Kerrigan, die auf der Marinewerft von Brooklyn arbeitet, wo das Schlachtschiff "Missouri" zum Einsatz vorbereitet wird. Dort beobachtet Anna eines Tages, wie ein Taucher sich fertig macht, um im Hafen zu arbeiten, unter Wasser.

Anna ist elektrisiert. Sie will das auch. Sie will nicht mehr in der Materialprüfung arbeiten und Teil um Teil vermessen, das verbaut werden soll, sie will raus aus der Werkstatt und Taucherin werden. Und obwohl damals dringend Freiwillige für diesen gefährlichen Job gesucht werden, weil die Männer in Scharen in den Krieg ziehen, ist das für eine Frau erst mal undenkbar: Tauchen. In zentnerschwerer Ausrüstung. Und dann, unter Wasser, womöglich auch noch Schweißen mit schwerem Gerät. Aber Anna setzt alles daran. Als würde sie, dort unten, auf dem Boden des Meeres, das finden, wonach sie immer schon gesucht hat.

Also bewirbt sie sich. Und sie setzt sich auch durch. Gegen den Vorgesetzten bei der Navy, der sie erst schikaniert, wo er nur kann, dann aber als leuchtendes Beispiel hinhält, um ihre männlichen Mitbewerber unter Druck zu setzen. Aber Anna setzt sich auch gegen das Bild durch, dem sie und ihre Kolleginnen aus der Werkstatt begegnen, wenn sie nur das Werftgelände betreten. Wenn sie, in Overall und Stiefeln, über die Piers laufen. Und die Männer ihnen hinterherpfeifen oder sie verhöhnen. Arbeitende Frauen: An Sekretärinnen hat man sich damals schon gewöhnt in der westlichen Welt, Sekretärinnen haben die Ordnung der Männerwelt im Grunde ja nur weiter gefestigt. Aber Schweißerinnen? Mechanikerinnen? Taucherinnen?

Annas Vorgesetzter, Mr. Voss, will deswegen eigentlich auch, dass seine Mitarbeiterinnen ihr Lunch in der Werkstatt essen, um kein Aufsehen zu erregen. Aber Anna zieht es hinaus, auf die Werft, zu den Schiffen. Zu Hause warten ihre Mutter und ihre behinderte kleine Schwester, der Vater ist seit fünf Jahren verschwunden, von einem Tag auf den anderen war er weg. Und jetzt will auch Anna raus, und wenn es nur der Grund des East Rivers ist.

"Manhattan Beach" ist der Roman einer weiblichen Emanzipation. Insofern erzählt er, trotz des historisch verbürgten Stoffes (Egan hat für ihr Buch die erste amerikanische Marinetaucherin, Andrea Motley Crabtree, mehrmals getroffen), eine Geschichte, die man bis heute so erzählen könnte: ein männlich dominierter Beruf, den auch Frauen ergreifen wollen, die aber erst einmal an den Verhältnissen scheitern. An Besitzstandswahrung, an Tradition, an der Bequemlichkeit, an der Furcht vor dem Ungewohnten - und sie scheitern auch am Mangel an eigenem Zutrauen, was wiederum an einem Mangel an weiblichen Vorbildern liegt.

Anna überwindet das. Und wird zum Vorbild, auch für ihre Kollegen. Man könnte die Anlage dieses Romans deswegen für Kalkül halten. Für eine modische Entscheidung: ein packender Stoff, der einerseits alles hat, was Leute, die amerikanische Literatur lieben, in heftiges Fieber versetzt, andererseits aber eine intensive Debatte von heute streift, so dass sich der Roman wie ein Kommentar dazu liest. Es gibt dann auch noch eine Nebenfigur in "Manhattan Beach", die diesen Verdacht verstärkt, einen schwarzen Marinetaucher namens Marle, der noch einmal anders als Anna ausgeschlossen ist aus der Welt, in der er sich bewegt.

Nur passt das mit dem Kalkül allein schon deshalb nicht, weil Jennifer Egan ihren Stoff vor fast fünfzehn Jahren zu recherchieren begann, wie sie im Nachwort erklärt: #MeToo wird sie da nicht im Auge gehabt haben. Außerdem erzählt die Autorin eben nicht nur die Geschichte der Berufstaucherin Anna, sondern die eines Mafiagangsters: Dexter Styles. Der in eine sehr gute New Yorker Familie eingeheiratet hat und jetzt ehrlich werden und ins Bankgeschäft seines Schwiegervaters wechseln will. Und der eine Zeitlang Annas Vater beschäftigte, bis der verschwand.

Und dank dieser etwas unwahrscheinlichen Konstruktion wird aus dem historischen Roman einer Pionierin des Marinetauchens dann auch noch ein Mafiathriller, fahren im Roman große, dunkle Limousinen vor, gesteuert von Jungs mit heißen Eisen in Nadelstreifen.

Annas Vater hatte seine Tochter einmal mit zu Styles' Anwesen in Manhattan Beach genommen, als sie elf war, mit dieser Szene beginnt Egan ihren Roman. Damit, wie die kleine Anna am Strand steht, die nackten Füße im eisig kalten Wasser, und der gigantisch große Mann sich zu ihr beugt: "Wie fühlt es sich an", fragt er. "Tut nur am Anfang weh", sagt sie. "Nach einer Weile spürt man nichts mehr." Das ist, schon früh, wohl der Reim, den man sich auf die Geschichte dieser Emanzipation machen soll.

Jahre später treffen Anna und Styles sich dann wieder, in einem Nachtclub in Manhattan, den Styles betreibt: Er ahnt nichts, sie nimmt die ferne Erinnerung der Begegnung wahr, sucht seine Nähe, auch weil sie spürt, dass Styles etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun hat. Aber genauso, weil er sie anzieht. Und sie ihn, auch wenn er das erst nicht versteht. Dexter hilft Anna, ihre behinderte kleine Schwester Lydia aus dem kleinen Zimmer in Brooklyn, in dem sie lebt, an den Strand zu tragen, dorthin, wo Anna selbst mit nackten Füßen stand, damit Lydia endlich das Meer sieht und aus ihrer stummen Erstarrung erwacht: "Die See sehen die See die See die See" - was da als Echo ständig in Egans Roman auftaucht, ist die innere Stimme Lydias, zum Leben erweckt vom Ozean.

"Manhattan Beach" erfüllt, wie schon gesagt, alle Wünsche, die man an einen amerikanischen Roman hat: Da ist der Eigensinn einer Figur gegen die Verhältnisse, die Poesie der großen Stadt vor dem Panorama unergründlicher Natur, eine Gesellschaft, die noch immer an ihren Regeln schreibt, auch wenn die längst wirken, der unerschöpfliche Mut zum neuen Anfang, und all das in einer fabelhaften Prosa. Wer Egans neuen Roman liest, wird mitgerissen - und doch bleibt da ein gar nicht so kleiner Rest an Enttäuschung.

Weil Jennifer Egan in "Manhattan Beach" das Risiko scheut. Und das tut sie zum ersten Mal seit ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Emerald City" von 1993. Entweder waren bislang ihre Stoffe spektakulär, wie in "Look at Me" (2001), die Geschichte eines Fotomodels, das nach einem Unfall mit einem neuen Gesicht in ihr altes Leben zurückkehrt, oder Egan spielte mit der Form. Wie in "Der größere Teil der Welt" (2010), einem Roman, den man erstens gar nicht genug bewundern kann, der zweitens seine Figuren aus den Epochen der amerikanischen Geschichte seit dem kalifornischen Punk der Siebziger bis in die nahe Zukunft aufeinander zubewegt und der, drittens, ein ganzes Kapitel als Power-Point-Präsentation anlegt.

Was erst mal klingt wie eine künstlich aufgeblasene Idee, dann aber in seiner strengen Form vollkommen logisch wirkt. Zum Glück erzählte Egan die Geschichte dieses Romans dann noch einmal weiter, in der Erzählung "Black Box" (2013), jeder Satz 140 Zeichen lang wie früher auf Twitter, ein Beweis für die stilistische Perfektion, die ein solches Format verlangt. Das las sich alles so leicht und souverän und neu, wie es kaum ein anderer ihrer Kollegen wagte, von George Saunders vielleicht abgesehen.

"Manhattan Beach" wirkt dagegen - konventionell. Als habe Egan einen historischen Roman probieren wollen, und vielleicht ist das ja wirklich das Projekt für dieses neue Buch gewesen. Damals, als "Der größere Teil der Welt" erschien, erzählte sie im Gespräch, dass sie beim Lesen selbst nach "Immersion" sucht: nach dem Eintauchen in einen Stoff, der einen davonträgt, bis man glücklich wieder daraus auftaucht. Das ist Jennifer Egan in "Manhattan Beach" gelungen. Und doch bleibt ihr neuer Roman hinter den Erwartungen zurück, die man an diese große amerikanische Autorin hat: dass sie die ewige Form des Romans weiterentwickelt. Vielleicht ist es aber auch so: Man wird verwöhnt davon, Jennifer Egan zu lesen.

TOBIAS RÜTHER

Jennifer Egan, "Manhattan Beach". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer, 496 Seiten, 22 Euro

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"A bounteous miracle that makes you feel that past time, and our time, differently; everything becomes freshly energized, infused with humanity, vital, sad, and full of importance. To see the world through Egan's eyes is to be moved, through language, to new adoration of the world. I don't know a better writer working today. There is a generosity in her prose that is vastly enlivening to its reader and brings about that beautiful effect fiction sometimes causes: more, and better-grounded, fondness for reality, just as it is."-George Saunders