Manhattan Transfer gehört zu den großen, revolutionären Romanen des 20. Jahrhunderts. Durch eine Fülle von Schauplätzen und Charakteren läßt Dos Passos ein schillerndes Porträt des urbanen New Yorker Dschungels entstehen, in dem das Jagdfieber wütet: nach Arbeit, Glück und Macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.1996Einblick in das große Mahlwerk
John Dos Passos und das amerikanische Jahrhundert
Wenn ein Schriftsteller dem anderen Kränze flicht, mögen viele Motive im Spiel sein, auch ehrenwerte. In der amerikanischen Literatur, jedenfalls bis in die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts, diente das Kollegenlob unter anderem der nationalen Selbstvergewisserung; eine ernstzunehmende Sache, wenn man bedenkt, daß Literatur im neunzehnten Jahrhundert auf dem nordamerikanischen Kontinent nur in kleinen Auflagen zirkulierte und den Farmer nicht eben leicht erreichte. Poe etwa rühmte in einer grundlegenden Rezension seinen Kollegen Hawthorne dafür, daß er eine Erzählform geschaffen hatte, die sowohl der Gattung Kurzgeschichte als auch dem Erfahrungshorizont der jungen Nation gerecht wurde. (Allerdings empfahl er, das Allegorische zu meiden.) Und wenige Jahre später spielte Melville die "Twice-Told Tales" Hawthornes gegen die gesammelte europäische Überlieferung aus, Boccaccio und Milton eingeschlossen. Buy American! könnte sein Essay überschrieben sein.
Die Lage hatte sich geändert, als der Schriftsteller Sinclair Lewis 1926 eine hymnische Rezension zu "Manhattan Transfer" veröffentlichte, dem vierten Roman des gerade dreißigjährigen John Dos Passos. Die ehemalige Kolonie war in einen europäischen Krieg eingetreten und Siegermacht geworden. Inzwischen kaufte alle Welt amerikanisch. Nur nicht in Kunst und Literatur. Also legte Sinclair Lewis für Dos Passos die Lanze ein und zog gegen die empfindsameren unter den modernen Romanciers zu Felde: erlegte zunächst die europäisierte Amerikanerin Gertrude Stein; dann den verzärtelten Marcel Proust; und schließlich den "großen weißen Eber" James Joyce. Was diese könnten, schreibt Lewis, das könne Dos Passos auch: "Der Unterschied aber ist - Dos Passos versteht zu fesseln!"
Neben der Hemdsärmeligkeit, mit der Lewis am Kunstdiktat des europäischen Romans rüttelt, erscheint auch seine ästhetische Einschätzung von "Manhattan Transfer" bemerkenswert. Sie besteht aus einem dichten Geflecht von Einsicht und Verkennung, das seinerseits viel darüber verrät, aus welcher Richtung der amerikanische Roman seine Inspiration für die kommenden Jahrzehnte erwartete. In einer neuartigen Montagetechnik, die mit dem Naturalismus der Vorgänger nur noch die Aufmerksamkeit fürs Detail, aber nicht mehr dessen epische Schilderung und logische Verknüpfung mit dem Geschehen teilt, erzählt das Buch das Leben von über dreißig Figuren in Manhattan; die Handlung reicht von den späten neunziger Jahren des vorigen bis in die frühen zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts. Doch "erzählt" ist fast schon zuviel gesagt. Der eigentliche Akteur ist die Stadt.
Gerade diese Verschiebung erkennt Lewis nicht, vielleicht auch deswegen, weil er die Beschleunigungskräfte, die der Roman beschreibt, zu dicht vor Augen hat. Daß er die Figuren von Dos Passos als besonders wirklichkeitsnah empfindet, daß er in dem Buch nicht nur den "starken Duft echten Lebens" atmet, sondern auch "Fleisch und Blut ewiger Menschlichkeit" zu schauen glaubt, spricht für Dos Passos' Kalkül. Sein Buch verklammert den Menschen erbarmungslos mit dem Material, das er gefertigt hat; selbst wenn die Ampel von Menschenhand eingestellt wurde, am Ende sieht man nur noch Füße, in grobem Leder oder feinem, die gehorsam dem Signal folgen.
Auch die Zeit wird bei Dos Passos im Rhythmus der städtischen Melodie zerschnitten. Lange vor Woody Allen bringt der Manhattan-Roman seinen eigenen Typus des Stadtneurotikers hervor: Lebensläufe zerfallen in Segmente; Absicht und Plan reichen immer nur bis zur nächsten Taxifahrt. Die Schicksale, wenn das Wort angebracht ist, kreuzen sich nicht dank einer erkennbaren Macht des Autors, sondern durch das Gesetz des Straßenverkehrs oder die Tücke einer Drehtür. Während zwei sich unterhalten, hämmert oben die Hochbahn übers Gleis und erinnert daran, daß in jedem Moment zahllose Städter wie Pakete durch den Raum geschoben werden. Es ist ein Raum, der mit bizarren geometrischen Formen aufwartet: Wolkenkratzer, Konstruktionen aus Stahl und Glas, ragen ins Blickfeld und verteilen Schatten und Licht. In der Nacht kommt Manhattan keineswegs zur Ruhe, sondern schreibt mit nervöser Neonschrift weiter. Der Roman zeigt alle Figuren, vom Tramp über den Journalisten bis zum windigen Lokalpolitiker, als Schaum auf der riesigen Welle des Urbanen. Den Tramp trägt sie in den Tod; den Zeitungsmann spült sie vor der nächsten Flut wieder nach draußen, egal wohin, nur fort.
Die Dinge umkurven den Menschen.
Die schlichte Wahrheit, daß sich aus Romanen das Selbstverständnis einer Epoche ablesen lasse, trifft auf "Manhattan Transfer" in besonderem Maß zu. Dos Passos wahrt nämlich peinlich genau Abstand zu seinem Sujet und antwortet auf die Unübersichtlichkeit der Modernisierung mit einer geradezu asketischen Erzählhaltung. Anders als in seinem Antikriegsroman "Drei Soldaten" von 1921, der anhand dreier Figuren, darunter dem unvermeidlich sensiblen Künstler, das Mahlwerk der militärischen Institutionen vorführt, gleicht sich die Zivilisationskritik in "Manhattan Transfer" ihrem Gegenstand komplizenhaft an. Sie spricht nicht aus einer Figur und schon gar nicht aus dem Autor, sondern durch die Sachen selbst. Und damit durch den Stil, in dem die Dingwelt beschrieben wird.
Die Sätze, meist parataktisch gebaut, um das indifferente Nebeneinander der City ahnen zu lassen, ergeben ein meisterhaft komponiertes Register von allem, was die Großstadt zu bieten hat: Kleidung, Mobiliar, Fahrzeuge, Arbeits- und Eßgerät. Die Objekte umkurven die Figuren, nicht umgekehrt. Überhaupt gewährt Dos Passos den Menschen nur knappe Dialoge, deren Reste die Straßengeräusche davontragen, und alle Hoffnungen und Zerknirschungen wecken den beunruhigenden Verdacht, zur selben Zeit von vielen anderen empfunden zu werden. Hier, in der gleichzeitigen Zersplitterung und Kollektivierung des Bewußtseins, trifft Dos Passos sich mit seinen Kollegen der europäischen Moderne; doch vor allen anderen gebührt ihm das Verdienst, für die Beschreibung der Außenwelt, die auf die menschliche Wahrnehmung einwirkt, eine plausible, auch heute noch faszinierende Erzählform gefunden zu haben.
Um sich ihre Kühle, ja Verschwiegenheit zu erklären, braucht man nicht zu psychologisieren. Das Leben des Autors steckt voller Prägungen und Abwehrreaktionen, die sich in seinen Büchern gegenseitig in Schach halten - ein Grund, warum er weit weniger zur glamourösen Identifikationsfigur taugte als seine Generationsgenossen Hemingway und Fitzgerald. John Roderigo Dos Passos wurde am 14. Januar 1896 als unehelicher Sohn eines Anwalts in Chicago geboren. Sein Großvater war als mittelloser Einwanderer aus Portugal gekommen; sein Vater begann in der Kriminaljustiz, eröffnete dann eine Kanzlei an der New Yorker Börse und wurde rasch zum begehrten Firmenberater. Als er sah, daß es kein vernünftiges Buch über die juristischen Probleme des Wertpapierhandels gab, schrieb er selbst eins; es wurde zum Standardwerk.
Aus der Arbeit des Vaters im Nervenzentrum des Kapitalismus ließe sich der Haß des Sohnes auf Großkonzerne, ungerechte Löhne und die Verelendung der Arbeiter, das beherrschende Thema seiner "USA-Trilogie", bequem erklären. Ebenso wie eine chronisch kranke Mutter in "Manhattan Transfer" auf jene Lucy Madison schließen läßt, die John Dos Passos der Ältere erst 1911, nach dem Tod seiner ersten Frau, heiratete. Doch der Fall ist komplizierter. Dos Passos verbrachte zwar eine Kindheit der wohlhabenden Mittelklasse, mit jahrelangen Aufenthalten in Brüssel und London; aber seine Herkunft band ihn an die Ärmsten unter den europäischen Einwanderern, die sich auf Ellis Island, dem großen Wartesaal der Nationen, demütigenden Prozeduren ausgesetzt sahen, bevor sie dann - wenn überhaupt - ins Land gelassen wurden.
Das Thema des Sohnes wurde die Industrialisierung der Vereinigten Staaten. Es war, auf ungewöhnliche Weise, auch das Thema des Vaters. Die Streitschriften von John Dos Passos dem Älteren appellierten an bürgerliches Verantwortungsgefühl, an Verfassungsvernunft und Moral im Geschäftsleben. Die Widersprüche, in denen er sich dabei bewegte, entsprechen der ungehemmten Expansion um die Jahrhundertwende. So forderte er, ohne einen Gedanken an Nationalstolz zu verschwenden, eine Union zwischen den Vereinigten Staaten und England samt den Kolonien, die in gemeinsamen Bürgerrechten, freiem Handel und einer einheitlichen Währung bestehen sollte. Hatte er eben noch die Assimilationsleistung der Immigranten betont und die Neuankömmlinge als Wächter der Demokratie gewürdigt, so plädierte er wenige Jahre später dafür, dem "Abhub fremder Länder" das Wahlrecht zu verweigern. Nicht lange darauf, 1907, schrieb er ein Buch über die Korrumpierung seines eigenen Berufsstandes. Und 1916 widerrief er eine Kernthese seines Wirtschaftsliberalismus und warnte vor dem gefährlichen Einfluß übermächtiger Korporationen auf die Unabhängigkeit der Staatsorgane.
Glaubte der Vater an Reformen von oben, hielt es der Sohn mit den Underdogs, zumindest bis zu den dreißiger Jahren. Sein Einsatz als Sanitätsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg hatte ihm die technischen Möglichkeiten der Vernichtung vor Augen geführt; das Studium in Harvard empfand er nun als Betäubung, die das Geräusch der Wirklichkeit von ihm ferngehalten habe. Was Dos Passos in den folgenden anderthalb Jahrzehnten las, sah und erlebte, bildete die Stoffmasse für die Romane "Der 42. Breitengrad" (1930), "Neunzehnhundertneunzehn" (1932) und "Die Hochfinanz" (1936), die zwei Jahre später unter dem Titel "USA-Trilogie" zusammengefaßt wurden.
Die Grube und das Pendel.
"Ich hatte das Gefühl, daß alles hinein sollte", schrieb Dos Passos wenige Jahre vor seinem Tod. Die Fracht an miteinander verzahnten Details ist imposant, und kein Erzählwerk der amerikanischen Literatur hat die schiere Zahl an Figuren, Schauplätzen und Textarten, an historischen wie fiktionalen Ereignissen überboten. Kein anderer Romancier hat den Versuch unternommen, den ganzen nordamerikanischen Kontinent abzudecken und das Resümee aus den formative years einer Weltmacht zu ziehen: Dos Passos beschreibt die da oben und die da unten und die in der Mitte, schildert Karrieren und Niederstürze, Arbeitskämpfe, Börsenkrach und Depression.
Neu ist, daß er neben die erfundenen Figuren, deren Lebensläufe einen gesellschaftlichen Querschnitt durch die ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts bilden, die Biographien von Politikern, Unternehmern, Gewerkschaftlern, Architekten und Künstlern stellt: Sauber auf Kapitel verteilt, treten Woodrow Wilson, Thomas Edison, Joe Hill und Rudolph Valentino auf. Fiktion und Historiographie fließen zur Sozial- und Mentalitätsstudie zusammen. Weiteres Montagematerial kommt in Textschnipseln hinzu und verschränkt abermals das Kollektive mit dem Individuellen: die "Weltwochenschau" mit Schlagzeilen, Slogans und Liedern der Epoche sowie autobiographische Bruchstücke unter dem Titel "Das Kamera-Auge".
Daß auch in der "USA-Trilogie" erzählerische Ökonomie herrscht, mag ironisch klingen, wenn man die drei kompakten Bände der deutschen Ausgabe mit rund 1600 Seiten Gesamtlänge in der Hand wiegt. Doch das Werk ist nicht mit dem breiten Pinsel des historischen Romans gemalt. Dos Passos besaß die Fähigkeit, Polemik schon aus der Aufzählung von Fakten und Lebensdaten sprechen zu lassen; der Kontrast ist die Botschaft. Der Justizskandal um Sacco und Vanzetti belegt, wie streng der Stoff vom Autor gefiltert wurde. Im Roman taucht der Prozeß gegen die Anarchisten zwar als das symbolische Ereignis auf, das es für die Arbeiterbewegung der zwanziger Jahre war, doch es bleibt ein Motiv unter vielen. In der Wirklichkeit hatte Dos Passos sich für die Inhaftierten vehement eingesetzt, 1926 mit dem Aufsatz "Die Grube und das Pendel", ein Jahr darauf, im Jahr der Hinrichtung, mit der über 120 Seiten starken Streitschrift "Facing the Chair", die das unrechtmäßige Vorgehen der Justiz analysierte. Sacco und Vanzetti, so das Fazit, seien als Gegner im Klassenkampf und nicht aufgrund einer fairen Verhandlung verurteilt worden.
Der Zweite Weltkrieg markiert den Einschnitt - für Amerika, für Dos Passos' Leben und für sein Werk. Er machte in der bewährten Technik weiter, aber die Themen waren nicht mehr danach. Daß er zum Konservativen wurde und den Wahlkampf Goldwaters unterstützte, hat ihm an den Universitäten wenig Sympathien eingebracht. Der junge Gore Vidal beschrieb ihn 1961 in einer gnadenlosen Rezension des Romans "Midcentury" als amerikanisches Phänomen: als Sprinter, nicht als Langstreckenläufer. Möglich, daß andere dasselbe über Gore Vidal schreiben werden. John Dos Passos starb, ein Verwalter seines frühen Ruhms, 1970 in Baltimore. Er wußte, welche seiner Bücher überleben würden.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John Dos Passos und das amerikanische Jahrhundert
Wenn ein Schriftsteller dem anderen Kränze flicht, mögen viele Motive im Spiel sein, auch ehrenwerte. In der amerikanischen Literatur, jedenfalls bis in die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts, diente das Kollegenlob unter anderem der nationalen Selbstvergewisserung; eine ernstzunehmende Sache, wenn man bedenkt, daß Literatur im neunzehnten Jahrhundert auf dem nordamerikanischen Kontinent nur in kleinen Auflagen zirkulierte und den Farmer nicht eben leicht erreichte. Poe etwa rühmte in einer grundlegenden Rezension seinen Kollegen Hawthorne dafür, daß er eine Erzählform geschaffen hatte, die sowohl der Gattung Kurzgeschichte als auch dem Erfahrungshorizont der jungen Nation gerecht wurde. (Allerdings empfahl er, das Allegorische zu meiden.) Und wenige Jahre später spielte Melville die "Twice-Told Tales" Hawthornes gegen die gesammelte europäische Überlieferung aus, Boccaccio und Milton eingeschlossen. Buy American! könnte sein Essay überschrieben sein.
Die Lage hatte sich geändert, als der Schriftsteller Sinclair Lewis 1926 eine hymnische Rezension zu "Manhattan Transfer" veröffentlichte, dem vierten Roman des gerade dreißigjährigen John Dos Passos. Die ehemalige Kolonie war in einen europäischen Krieg eingetreten und Siegermacht geworden. Inzwischen kaufte alle Welt amerikanisch. Nur nicht in Kunst und Literatur. Also legte Sinclair Lewis für Dos Passos die Lanze ein und zog gegen die empfindsameren unter den modernen Romanciers zu Felde: erlegte zunächst die europäisierte Amerikanerin Gertrude Stein; dann den verzärtelten Marcel Proust; und schließlich den "großen weißen Eber" James Joyce. Was diese könnten, schreibt Lewis, das könne Dos Passos auch: "Der Unterschied aber ist - Dos Passos versteht zu fesseln!"
Neben der Hemdsärmeligkeit, mit der Lewis am Kunstdiktat des europäischen Romans rüttelt, erscheint auch seine ästhetische Einschätzung von "Manhattan Transfer" bemerkenswert. Sie besteht aus einem dichten Geflecht von Einsicht und Verkennung, das seinerseits viel darüber verrät, aus welcher Richtung der amerikanische Roman seine Inspiration für die kommenden Jahrzehnte erwartete. In einer neuartigen Montagetechnik, die mit dem Naturalismus der Vorgänger nur noch die Aufmerksamkeit fürs Detail, aber nicht mehr dessen epische Schilderung und logische Verknüpfung mit dem Geschehen teilt, erzählt das Buch das Leben von über dreißig Figuren in Manhattan; die Handlung reicht von den späten neunziger Jahren des vorigen bis in die frühen zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts. Doch "erzählt" ist fast schon zuviel gesagt. Der eigentliche Akteur ist die Stadt.
Gerade diese Verschiebung erkennt Lewis nicht, vielleicht auch deswegen, weil er die Beschleunigungskräfte, die der Roman beschreibt, zu dicht vor Augen hat. Daß er die Figuren von Dos Passos als besonders wirklichkeitsnah empfindet, daß er in dem Buch nicht nur den "starken Duft echten Lebens" atmet, sondern auch "Fleisch und Blut ewiger Menschlichkeit" zu schauen glaubt, spricht für Dos Passos' Kalkül. Sein Buch verklammert den Menschen erbarmungslos mit dem Material, das er gefertigt hat; selbst wenn die Ampel von Menschenhand eingestellt wurde, am Ende sieht man nur noch Füße, in grobem Leder oder feinem, die gehorsam dem Signal folgen.
Auch die Zeit wird bei Dos Passos im Rhythmus der städtischen Melodie zerschnitten. Lange vor Woody Allen bringt der Manhattan-Roman seinen eigenen Typus des Stadtneurotikers hervor: Lebensläufe zerfallen in Segmente; Absicht und Plan reichen immer nur bis zur nächsten Taxifahrt. Die Schicksale, wenn das Wort angebracht ist, kreuzen sich nicht dank einer erkennbaren Macht des Autors, sondern durch das Gesetz des Straßenverkehrs oder die Tücke einer Drehtür. Während zwei sich unterhalten, hämmert oben die Hochbahn übers Gleis und erinnert daran, daß in jedem Moment zahllose Städter wie Pakete durch den Raum geschoben werden. Es ist ein Raum, der mit bizarren geometrischen Formen aufwartet: Wolkenkratzer, Konstruktionen aus Stahl und Glas, ragen ins Blickfeld und verteilen Schatten und Licht. In der Nacht kommt Manhattan keineswegs zur Ruhe, sondern schreibt mit nervöser Neonschrift weiter. Der Roman zeigt alle Figuren, vom Tramp über den Journalisten bis zum windigen Lokalpolitiker, als Schaum auf der riesigen Welle des Urbanen. Den Tramp trägt sie in den Tod; den Zeitungsmann spült sie vor der nächsten Flut wieder nach draußen, egal wohin, nur fort.
Die Dinge umkurven den Menschen.
Die schlichte Wahrheit, daß sich aus Romanen das Selbstverständnis einer Epoche ablesen lasse, trifft auf "Manhattan Transfer" in besonderem Maß zu. Dos Passos wahrt nämlich peinlich genau Abstand zu seinem Sujet und antwortet auf die Unübersichtlichkeit der Modernisierung mit einer geradezu asketischen Erzählhaltung. Anders als in seinem Antikriegsroman "Drei Soldaten" von 1921, der anhand dreier Figuren, darunter dem unvermeidlich sensiblen Künstler, das Mahlwerk der militärischen Institutionen vorführt, gleicht sich die Zivilisationskritik in "Manhattan Transfer" ihrem Gegenstand komplizenhaft an. Sie spricht nicht aus einer Figur und schon gar nicht aus dem Autor, sondern durch die Sachen selbst. Und damit durch den Stil, in dem die Dingwelt beschrieben wird.
Die Sätze, meist parataktisch gebaut, um das indifferente Nebeneinander der City ahnen zu lassen, ergeben ein meisterhaft komponiertes Register von allem, was die Großstadt zu bieten hat: Kleidung, Mobiliar, Fahrzeuge, Arbeits- und Eßgerät. Die Objekte umkurven die Figuren, nicht umgekehrt. Überhaupt gewährt Dos Passos den Menschen nur knappe Dialoge, deren Reste die Straßengeräusche davontragen, und alle Hoffnungen und Zerknirschungen wecken den beunruhigenden Verdacht, zur selben Zeit von vielen anderen empfunden zu werden. Hier, in der gleichzeitigen Zersplitterung und Kollektivierung des Bewußtseins, trifft Dos Passos sich mit seinen Kollegen der europäischen Moderne; doch vor allen anderen gebührt ihm das Verdienst, für die Beschreibung der Außenwelt, die auf die menschliche Wahrnehmung einwirkt, eine plausible, auch heute noch faszinierende Erzählform gefunden zu haben.
Um sich ihre Kühle, ja Verschwiegenheit zu erklären, braucht man nicht zu psychologisieren. Das Leben des Autors steckt voller Prägungen und Abwehrreaktionen, die sich in seinen Büchern gegenseitig in Schach halten - ein Grund, warum er weit weniger zur glamourösen Identifikationsfigur taugte als seine Generationsgenossen Hemingway und Fitzgerald. John Roderigo Dos Passos wurde am 14. Januar 1896 als unehelicher Sohn eines Anwalts in Chicago geboren. Sein Großvater war als mittelloser Einwanderer aus Portugal gekommen; sein Vater begann in der Kriminaljustiz, eröffnete dann eine Kanzlei an der New Yorker Börse und wurde rasch zum begehrten Firmenberater. Als er sah, daß es kein vernünftiges Buch über die juristischen Probleme des Wertpapierhandels gab, schrieb er selbst eins; es wurde zum Standardwerk.
Aus der Arbeit des Vaters im Nervenzentrum des Kapitalismus ließe sich der Haß des Sohnes auf Großkonzerne, ungerechte Löhne und die Verelendung der Arbeiter, das beherrschende Thema seiner "USA-Trilogie", bequem erklären. Ebenso wie eine chronisch kranke Mutter in "Manhattan Transfer" auf jene Lucy Madison schließen läßt, die John Dos Passos der Ältere erst 1911, nach dem Tod seiner ersten Frau, heiratete. Doch der Fall ist komplizierter. Dos Passos verbrachte zwar eine Kindheit der wohlhabenden Mittelklasse, mit jahrelangen Aufenthalten in Brüssel und London; aber seine Herkunft band ihn an die Ärmsten unter den europäischen Einwanderern, die sich auf Ellis Island, dem großen Wartesaal der Nationen, demütigenden Prozeduren ausgesetzt sahen, bevor sie dann - wenn überhaupt - ins Land gelassen wurden.
Das Thema des Sohnes wurde die Industrialisierung der Vereinigten Staaten. Es war, auf ungewöhnliche Weise, auch das Thema des Vaters. Die Streitschriften von John Dos Passos dem Älteren appellierten an bürgerliches Verantwortungsgefühl, an Verfassungsvernunft und Moral im Geschäftsleben. Die Widersprüche, in denen er sich dabei bewegte, entsprechen der ungehemmten Expansion um die Jahrhundertwende. So forderte er, ohne einen Gedanken an Nationalstolz zu verschwenden, eine Union zwischen den Vereinigten Staaten und England samt den Kolonien, die in gemeinsamen Bürgerrechten, freiem Handel und einer einheitlichen Währung bestehen sollte. Hatte er eben noch die Assimilationsleistung der Immigranten betont und die Neuankömmlinge als Wächter der Demokratie gewürdigt, so plädierte er wenige Jahre später dafür, dem "Abhub fremder Länder" das Wahlrecht zu verweigern. Nicht lange darauf, 1907, schrieb er ein Buch über die Korrumpierung seines eigenen Berufsstandes. Und 1916 widerrief er eine Kernthese seines Wirtschaftsliberalismus und warnte vor dem gefährlichen Einfluß übermächtiger Korporationen auf die Unabhängigkeit der Staatsorgane.
Glaubte der Vater an Reformen von oben, hielt es der Sohn mit den Underdogs, zumindest bis zu den dreißiger Jahren. Sein Einsatz als Sanitätsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg hatte ihm die technischen Möglichkeiten der Vernichtung vor Augen geführt; das Studium in Harvard empfand er nun als Betäubung, die das Geräusch der Wirklichkeit von ihm ferngehalten habe. Was Dos Passos in den folgenden anderthalb Jahrzehnten las, sah und erlebte, bildete die Stoffmasse für die Romane "Der 42. Breitengrad" (1930), "Neunzehnhundertneunzehn" (1932) und "Die Hochfinanz" (1936), die zwei Jahre später unter dem Titel "USA-Trilogie" zusammengefaßt wurden.
Die Grube und das Pendel.
"Ich hatte das Gefühl, daß alles hinein sollte", schrieb Dos Passos wenige Jahre vor seinem Tod. Die Fracht an miteinander verzahnten Details ist imposant, und kein Erzählwerk der amerikanischen Literatur hat die schiere Zahl an Figuren, Schauplätzen und Textarten, an historischen wie fiktionalen Ereignissen überboten. Kein anderer Romancier hat den Versuch unternommen, den ganzen nordamerikanischen Kontinent abzudecken und das Resümee aus den formative years einer Weltmacht zu ziehen: Dos Passos beschreibt die da oben und die da unten und die in der Mitte, schildert Karrieren und Niederstürze, Arbeitskämpfe, Börsenkrach und Depression.
Neu ist, daß er neben die erfundenen Figuren, deren Lebensläufe einen gesellschaftlichen Querschnitt durch die ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts bilden, die Biographien von Politikern, Unternehmern, Gewerkschaftlern, Architekten und Künstlern stellt: Sauber auf Kapitel verteilt, treten Woodrow Wilson, Thomas Edison, Joe Hill und Rudolph Valentino auf. Fiktion und Historiographie fließen zur Sozial- und Mentalitätsstudie zusammen. Weiteres Montagematerial kommt in Textschnipseln hinzu und verschränkt abermals das Kollektive mit dem Individuellen: die "Weltwochenschau" mit Schlagzeilen, Slogans und Liedern der Epoche sowie autobiographische Bruchstücke unter dem Titel "Das Kamera-Auge".
Daß auch in der "USA-Trilogie" erzählerische Ökonomie herrscht, mag ironisch klingen, wenn man die drei kompakten Bände der deutschen Ausgabe mit rund 1600 Seiten Gesamtlänge in der Hand wiegt. Doch das Werk ist nicht mit dem breiten Pinsel des historischen Romans gemalt. Dos Passos besaß die Fähigkeit, Polemik schon aus der Aufzählung von Fakten und Lebensdaten sprechen zu lassen; der Kontrast ist die Botschaft. Der Justizskandal um Sacco und Vanzetti belegt, wie streng der Stoff vom Autor gefiltert wurde. Im Roman taucht der Prozeß gegen die Anarchisten zwar als das symbolische Ereignis auf, das es für die Arbeiterbewegung der zwanziger Jahre war, doch es bleibt ein Motiv unter vielen. In der Wirklichkeit hatte Dos Passos sich für die Inhaftierten vehement eingesetzt, 1926 mit dem Aufsatz "Die Grube und das Pendel", ein Jahr darauf, im Jahr der Hinrichtung, mit der über 120 Seiten starken Streitschrift "Facing the Chair", die das unrechtmäßige Vorgehen der Justiz analysierte. Sacco und Vanzetti, so das Fazit, seien als Gegner im Klassenkampf und nicht aufgrund einer fairen Verhandlung verurteilt worden.
Der Zweite Weltkrieg markiert den Einschnitt - für Amerika, für Dos Passos' Leben und für sein Werk. Er machte in der bewährten Technik weiter, aber die Themen waren nicht mehr danach. Daß er zum Konservativen wurde und den Wahlkampf Goldwaters unterstützte, hat ihm an den Universitäten wenig Sympathien eingebracht. Der junge Gore Vidal beschrieb ihn 1961 in einer gnadenlosen Rezension des Romans "Midcentury" als amerikanisches Phänomen: als Sprinter, nicht als Langstreckenläufer. Möglich, daß andere dasselbe über Gore Vidal schreiben werden. John Dos Passos starb, ein Verwalter seines frühen Ruhms, 1970 in Baltimore. Er wußte, welche seiner Bücher überleben würden.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main