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Produktdetails
  • Verlag: Brandstätter
  • Seitenzahl: 312
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 528g
  • ISBN-13: 9783854980063
  • ISBN-10: 385498006X
  • Artikelnr.: 24480130
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2000

Manisch, depressiv und meisterlich
Psychodynamik und Produktivität in den Künsten – Leo Navratil liefert eine schöpferische Bilanz
Auf einem der größeren Kongresse der Psycho-Zunft kam ein Referent, Horvath paraphrasierend, mit dem Bonmot, er sei zwar manisch-depressiv, zum Depressivsein fehle ihm jedoch die Zeit. Zustimmendes Gelächter.
Im Gegensatz zu solcher Selbstironie verfügt Leo Navratil, der ehemalige Primararzt des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie zu Klosterneuburg, noch über unumstößliche Kriterien, um das Gesunde vom Kranken, das Normale vom Wahn zu unterscheiden. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es her, da publizierte er, unbeirrt von der internationalen Antipsychiatrie-Bewegung, seine Untersuchungen Über Schizophrenie und die Federzeichnungen des Patienten 0. T. (1974), unter anderem in der Absicht, Stilmerkmale für schizophrene Kunst zu definieren. Reihung, Symmetrie, Stereotypien, Geometrisierung, Physiognomisierung durch Disproportionierungen, Neomorphismus, Deformation, schließlich ein „übersteigertes Ausdrucksbedürfnis” – all das kennzeichnet für ihn Schizo-Kunst – oder sollte schizophrene Kunst gemeint sein? Die suggestiven Vergleiche mit Kinder-„Kunst” bestätigen – ungewollt? – die vox populi, die es schon immer wusste: zur Kunst der Moderne ist ein Kind imstande, folglich ist sie selbst entweder infantil oder krank. Dass viele der angeführten „Merkmale” auf die Kunst ab dem Kubismus zutreffen, ganz zu schweigen von außereuropäischer Kunst, leuchtet ein – und irritiert zugleich.  
Unter dem Titel manisch-depressiv legt nun Navratil eine Sammlung von gut 50 Texten vor – die summa einer 40 Jahre währenden psychiatrischen Praxis? Gleich zu Beginn verweist die Annäherung von Weintrinker und Künstler kühn auf das eigentliche Theorem: „Das Verlangen nach mütterlicher Liebe, nach der Zuwendung und dem Einssein mit der Mutter ist für diese Menschen charakteristisch, ebenso ihre geringe Frustrationstoleranz und die Neigung, bei Ausbleiben des Erwünschten mit Depression zu reagieren – und das Suchen nach ,Ersatzobjekten‘, unter denen der Wein und die Kunst die herausragendsten sind. ”
Kunst als Symptom also, Ersatz für die allmächtige, rundum beglückende Mama der frühen Kindheit? Freud – aber dieser Psychiater mag die Analytiker wirklich nicht, sollte er sie auch zitieren – nannte diesen Aufschub des Begehrens, seine qualitative Transformation Sublimierung, den Sprung vom Trieb also zum symbolischen Ausdruck, zur Kunstübung. In seinen Ausführungen zur „Persönlichkeit des Trinkers” behauptet Navratil, dass „sowohl Verwöhnung als auch Entbehrung von Mutterliebe während der Kindheit und frühen Jugend” eine Rolle spielten. Das Vage und Ungefähre ist gleichsam charakteristisch für den Argumentationsstil des Psychiaters: „Zusammen mit der Radierung ,Schwangere Frau‘ scheint mir jedenfalls Hausers ,Leichenwagen‘ ein anschaulicher und überzeugender Hinweis auf die Mutterbezogenheit des Manikers und des Künstlers zu sein. ” Nicht die oft missverstandene Formel vom Künstler in jedem Menschen des Joseph Beuys hat es Navratil angetan, sondern Winnicotts These vom kindlichen Übergangsobjekt, mit dessen Hilfe er die Hausfrau, den Briefmarkensammler, den Sonntagsmaler, den Museumsbesucher oder gar den Fernsehkonsumenten zum Kreativen promoviert. Zur befriedigend-beglückenden Rezeption einer Volksmusiksendung heißt es darum: „Kunst, die auf solche Weise konsumiert wird, kann in psychodynamischem Sinn als etwas Mütterliches erlebt werden, ein ,Mutterersatz‘ sein. ”
Hemmungszustand
Die eigentliche Frage, welche psychischen Prozesse Kreativität fördern, wird höchst widersprüchlich beantwortet. Mal sei der depressive Zustand produktiv, mal der manische. Zu seinem Patienten Oswald Tschirtner, einer grossen Begabung, heißt es, „in dieser Zeit” – gemeint ist ein jahrzehntelanger „depressiver Hemmungszustand” – seien „auf Aufforderung seine besten Federzeichnungen entstanden”. Für Johann Hauser (1926–1996) dagegen, auch er ein Ex-Pflegling von Gugging, die Klosterneuburger Anstalt, gilt offenbar das Gegenteil: „Ich bin überzeugt, dass Hauser ohne die zerebrale Schädigung und ohne die manisch-depressive Krankheit kein Künstler geworden wäre. ” Mit dem Terminus „zustandsgebundene Kunst” versucht der Autor dem Dilemma zu entrinnen, muss sich freilich die Frage gefallen lassen, was denn nicht-zustandsgebundene Kunst wäre – etwa das Werkeln eines Vertreters der Postpostmoderne, in heiliger Nüchternheit oder mit cooler Berechnung? Nein, Navratil bestimmt sie als „jene Art von Kunst, die in der Psychose entsteht, also zum Beispiel in den manischen Phasen Johann Hausers”.
Das Paradigma manisch-depressiv stellt gleichsam die Synthese der Befunde (statt einer Theorie der Kreativität) des Autors dar. Denn bei Berufskünstlern, heißen sie nun Jandl oder Mozart, Goya oder Novalis, stellt Navratil vorübergehende manisch-depressive Erscheinungen fest, wobei sich die manischen Phasen als die produktiven erweisen, die depressiven als die „stillen, gehemmten, unproduktiven Zeiten”. Ich fürchte, die Diagnose Zyklothymie reicht schwerlich aus, um die Meisterschaft eines Mozart zu „begründen”, wie es der Autor nahelegt: der Komponist verdanke „auch seiner manisch-depressiven Veranlagung” die „Außerordentlichkeit (Genialität) seiner Schöpfungen”. Denn wie verhält es sich dann mit den namenlosen unschöpferischen Zyklothymikern? Zu welcher Empathie Navratil fähig ist, beweist er, wenn er über seine Schützlinge (Hauser, Tschirtner) oder die wenig romantische Ehe von Clemens Brentano und Auguste Bussmann schreibt.
Zugegeben: dank Navratils Engagement wurden sowohl Hauser als auch Tschirtner 1980 die künstlerischen Weihen in Form von Einzelausstellungen zuteil. Mutiger und zugleich provokanter war jedoch Harald Szeemanns Geste, auf der documenta V (1972) Adolf Wölfli direkt neben Berufskünstlern wie Pichler und Rainer zu präsentieren. Besucht man heute eine Ausstellung von „Anstaltskunst”, kann es vorkommen, dass die Künstler durch schamlos-ironisches Zitieren der ,Stars‘ Hans Prinzhorns ihre Professionalität unter Beweis stellen.
Gleichwohl sind wir, was die psychiatrische Praxis betrifft wie auch die Kriterien des – gesunden, normalen – Ästhetischen, weit entfernt von jener mehr als vor drei Dezennien formulierten Utopie Michel Foucaults: „Vielleicht wird man eines Tages nicht mehr recht wissen, was Wahnsinn gewesen sein mag . . . All das, was wir heute als Grenze, Fremdheit, Unerträglichkeit empfinden, wird die Leidenschaftslosigkeit des Positiven erreicht haben. ”
BERND MATTHEUS
LEO NAVRATIL: manisch-depressiv. Zur Psychodynamik des Künstlers. Verlag Christian Brandstätter, Wien München 1999. 312 Seiten, 68 Mark.
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