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»Ich befand mich inmitten eines Ereignisses von epochalen Ausmaßen, und ich wusste nicht, wo mein Platz ist.«
Er war noch ein kleiner Junge, als seine Mutter ihm das Familiengeheimnis anvertraute: dass sein Urgroßvater ein Indianer gewesen sei, in den sich die Urgroßmutter, die einst in Amerika als Lehrerin in der Missionsschule gearbeitet hatte, verliebte. Allerdings wurde er kurze Zeit später ermordet und die Urgroßmutter kehrte in die Schweiz zurück.
Es fiel gerade Schnee, als die Mutter über die Vorfahren sprach; Amerika und die Welt der Indianer waren sehr weit weg, die ganze Sache
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Produktbeschreibung
»Ich befand mich inmitten eines Ereignisses von epochalen Ausmaßen, und ich wusste nicht, wo mein Platz ist.«

Er war noch ein kleiner Junge, als seine Mutter ihm das Familiengeheimnis anvertraute: dass sein Urgroßvater ein Indianer gewesen sei, in den sich die Urgroßmutter, die einst in Amerika als Lehrerin in der Missionsschule gearbeitet hatte, verliebte. Allerdings wurde er kurze Zeit später ermordet und die Urgroßmutter kehrte in die Schweiz zurück.

Es fiel gerade Schnee, als die Mutter über die Vorfahren sprach; Amerika und die Welt der Indianer waren sehr weit weg, die ganze Sache klang wie ein fremdes, exotisches Märchen.

Doch viele Jahre später - aus dem Jungen ist inzwischen ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller geworden - begibt er sich auf die Spur seiner Ahnen. Die Tagebuchaufzeichnungen seiner Urgroßmutter sollen ihm wie der Faden der Ariadne dazu verhelfen, seine indianischen Wurzeln zu finden. Doch erweisen sich die Aufzeichnungen als ungenau,ja scheinen oft nicht zu stimmen. Die Geschichte seiner Abstammung wird immer löchriger, je tiefer er sich in sie hineinbegibt und das Schicksal der Arapaho und der anderen Indianerstämme kennenlernt, die in Reservate gedrängt wurden, weil Siedler aus Europa kamen, sich Land nahmen und es angeblich zivilisierten. Die Geringschätzung der hochentwickelten Indianerkultur ärgert ihn immer stärker, je mehr er sich sehnsüchtig mit ihr identifiziert.

Als er in einer einsam gelegenen Hütte in den Wäldern von Manitoba versucht, für eine Weile wie seine indianischen Vorfahren zu leben, muss er jedoch erfahren, dass auch er als unwillkommener Eindringling angesehen wird.
Autorenporträt
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt Die Sehnsucht der Atome erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman Der Assistent der Sterne wurde zum "Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung)" gewählt. Es folgten die Romane Das Leuchten in der Ferne (2012), In einem anderen Leben (2014), Keiths Probleme im Jenseits (2019) und zuletzt Señor Herreras blühende Intuition (2021).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2017

Die nächstgelegene Wildnis

Auf der Suche nach dem Liebhaber der Urgroßmutter: Linus Reichlin begibt sich in die Jagdgründe der nordamerikanischen Arapaho-Indianer.

Nicht wenige Leser der Romane von Karl May hegten die Vorstellung, sie würden irgendwie von Indianern abstammen, am liebsten natürlich vom edlen Winnetou. Der blieb allerdings bekanntlich unbeweibt und kinderlos, Arno Schmidt dichtete ihm daher eine homoerotische Neigung an. Das verschlug aber wenig: Es hätte ja sein können, dass Karl May mit Rücksicht auf sein jugendliches Publikum eine Liebesaffäre seines Helden mit einer Weißen verschwiegen hatte.

Eine solche Vorstellung gestaltet Linus Reichlin in seinem Reiseroman aus. Schon als Kind hatte die Mutter dem Ich-Erzähler anvertraut, dass sein Urgroßvater ein Arapaho war. Das hielt er für ein Märchen, bis ihm die Wachshefte seiner Urgroßmutter übergeben wurden. Seitdem weiß er: "Ich bin Indianer. Ich bin auch Schweizer und Berliner, aber ich bin es nicht mehr, als ich Indianer bin." In den Heften hatte die Urgroßmutter ihre Erlebnisse als Lehrerin an einer Missionsschule in Fort Washakie im heutigen Bundesstaat Wyoming aufgeschrieben. Insbesondere schilderte sie ihre Liebesbeziehung zu einem jungen Arapaho. Seitdem beschäftigt sich der Erzähler mit Forschungen über die nordamerikanischen Indianer, was seine Frau Hanna und sein Sohn Jonas für einen Tick halten.

Erst im reifen Alter von siebenundfünfzig Jahren, nach dem Scheitern seiner Ehe, unzufrieden mit seiner Existenz als wenig erfolgreicher Schriftsteller, herzkrank auch, macht er sich endlich auf ins Land seiner Vorfahren, über die er ein Buch verfassen will. Seine Reisebeschreibung durchsetzt er mit Zitaten aus den Heften seiner Urgroßmutter, die er aber auch noch mit eigenen Vorstellungen, wie es gewesen sein könnte, ergänzt. "Sicherlich trug mein Urgroßvater an einem feierlichen Anlass wie dem Markttag seine besten Kleider, enge, etwas abgedunkelte Wildlederhosen und ein besticktes Wildlederhemd, und verglichen mit den weißen Männern, denen meine Urgroßmutter in Fort Washakie begegnete, die unförmige, viel zu weite Hemden aus grobem Stoff und schmutzige, zerbeulte Hosen trugen, war ein gut gekleideter Arapaho der schönere Anblick."

Überdies versieht der Erzähler die Beschreibung seiner Begegnungen in wiederholten Spiegelungen mit Erinnerungen an seine Herkunft und die Konflikte in seiner Ehe sowie mit der Erzählung seiner Träume, deren Fremdartigkeit er auf die Wirkung seiner Herzmedikamente zurückführt. Schließlich werden auch die Probleme der Emigration und der Kolonialisierung mitreflektiert, und es entsteht ein farbiges Bild des heutigen Lebens der nordamerikanischen Indianer. Das ist ziemlich viel auf einmal, aber Reichlin ist ein geschickt disponierender Erzähler, als preisgekrönter Krimiautor versteht er sich auf Spannungsbögen. So folgt ihm der Leser auch gern in seine Abschweifungen.

Die Recherche vor Ort erscheint zunächst nicht schwierig. In der Behörde des Reservats finden sich penibel geführte Stammbücher und auch die Annalen der Missionsschule wurden mit jesuitischer Sorgfalt überliefert. Jedoch lässt sich in den Dokumenten weder der Name der Urgroßmutter noch irgendeine Spur ihres indianischen Liebhabers finden. Überhaupt zeigt sich, dass das angehäufte Wissen für die Ahnenforschung nicht entfernt ausreicht. So keimt ihm der Verdacht, dass seine Urgroßmutter nicht wahrheitsgetreu berichtet hat. Von seiner Vorstellung, ein Arapaho zu sein aber will er dennoch nicht lassen.

Um das Lebensgefühl seiner Vorfahren nachzuempfinden, hat er eine Blockhütte in der Wildnis von Manitoba angemietet. Nach einem kräftezehrenden Fußmarsch dort angelangt, bekommt er es aber schnell mit der Angst um sein Überleben zu tun. Zwar hat er sich ein Gewehr zugelegt, aber wie man jagt, weiß er nicht, und die Vorstellung, einem leibhaftigen Bären zu begegnen versetzt ihn in Panik. Schließlich wird ihm drastisch demonstriert, dass selbst in der Wildnis Fremde nicht willkommen sind.

Daher bricht er die Reise vorzeitig ab. Er tröstet sich damit, dass er nun doch an der Preisverleihung an seinen Sohn teilnehmen kann, der, so wähnt er, als Schriftsteller erfolgreicher ist als er. Vor der anschließenden Feier im kleinen Kreis aber wird er schnöde stehengelassen. Da wird dem Leser bewusst, dass "Manitoba" auch die Geschichte eines selbstbezogenen, in seine Vorstellungen versponnenen Mannes ist, die ihn in die Isolierung geführt haben.

Entsprechend endet Linus Reichlins Desillusionsroman mit einem unendlich traurigen Satz, von dem der mitfühlende, von diesem nicht durchweg sympathischen Helden gleichwohl eingenommene Leser hofft, dass dieser Satz nur in den Fremdträumen des Erzählers Gültigkeit besitzt.

FRIEDMAR APEL

Linus Reichlin: "Manitoba". Roman.

Galiani Verlag, Berlin 2016. 278 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Reichlins feinsinniger, leichter und melancholischer Roman erzählt am scheinbar entlegenen Fall eine hochaktuelle Parabel über das Eigene und Fremde, über die Begegnung von Kulturen und die Erfindung von Traditionen. Richard Kämmerlings Die Welt