Cambridge, Budapest, New York, Zürich, Den Haag, Tel Aviv, der Süden Englands: Überall ist der Erzähler gewesen. Als Beobachter bei einigen der großen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts - wie dem Sechs-Tage-Krieg, dem Prager Frühling - hat er auf Schritt und Tritt Freunde, Geliebte und Leidenschaften gesammelt. Mit dem Alter werden seine Erinnerungen an die Vergangenheit schärfer, die Ereignisse seiner Kindheit lebendiger, so lebendig, daß sein gegenwärtiges Leben in Vergessenheit gerät. Er bewohnt eine mit Geistern und Schatten bevölkerte Welt, eine Welt der Abwesenheit. Auf all seinen Spaziergängen durch Zeit und Raum aber zeichnet sich eine Abwesenheit sehr deutlich ab: Die Gestalt des toten Vaters zieht den Erzähler zurück ins Gestern. Seine Erinnerungen an Frauen, Orte der Kindheit, ans Schlittschuhlaufen auf den Kanälen, an Theateraufführungen in der Schule, an Reisen, Hotels und Cafes im Ausland, an Begegnungen mit Fremden - sie alle kehren immer wieder zurück zum Vater und dessen Tod.
Mann in der Ferne ist ein hypnotisierendes, ein wunderbar schwebendes, sehnsuchtsvolles, melancholisches Buch, erzählt in einer eigenwillig schönen Sprache und mit kunstvollen Schnitten, wie wir sie aus dem Kino kennen, kurz: "ein wunderbarer Roman" (Cees Nooteboom).
Mann in der Ferne ist ein hypnotisierendes, ein wunderbar schwebendes, sehnsuchtsvolles, melancholisches Buch, erzählt in einer eigenwillig schönen Sprache und mit kunstvollen Schnitten, wie wir sie aus dem Kino kennen, kurz: "ein wunderbarer Roman" (Cees Nooteboom).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2003Da liegen Grachten zwischen uns
Otto de Kat erinnert sich an seinen schweigenden Vater
Wie heikel die Beziehung zwischen einem schreibenden Sohn und seinem schweigenden Vater sein kann, wissen wir spätestens seit Franz Kafka. Nicht zufällig sind auch die Notizen von Otto de Kat an einen abwesenden Erzeuger gerichtet; vielleicht fällt die Bilanz dieser heikelsten aller Männerbeziehungen einfach leichter, wenn der Vorgänger fern ist, vielleicht ist es einzig der imaginierte, abwesende Vater, der den Sohn überhaupt das Wort ergreifen läßt. De Kat - studierter Theologe, jetzt Verleger in den Niederlanden - hatte, anders als Kafka, eine Beziehung zu seinem Vater, die von Zuneigung und großer Hochachtung geprägt war. Doch gerade wegen der Bewunderung, gewiß auch wegen einer gewissen calvinistischen Scheuheit, kam er dem Vater nie recht nahe. Darum wohl nun dieses Büchlein.
"Mann in der Ferne" kann der Erzähler Buch und Erzeuger darum betiteln, weil dieser Vater seinen Sohn an der langen Leine läßt, ihn nur hier und da - beim Studium in Cambridge, auf einem Golfplatz - überraschend besucht, seine knurrige Billigung bezeugt und dann wieder verschwindet. Der Sohn, der diese wohlwollende Distanz augenscheinlich lieber überwunden sähe, wirkt nun, da es zu spät ist, durchaus wie ein artverwandter Sprößling: Auch er findet zu den Menschen keine leidenschaftliche Bindung, verliebt sich in die unnahbare Freundin K., sinniert dem toten Studienfreund Frank hinterher: "Menschen gehörten zur Ausstattung der Welt, sie waren da, aber man kannte sie nicht. Sie existierten, aber man hatte keine Verbindung zu ihnen, sie hatten keine bleibende Form oder Gestalt."
Dieser Erfahrung der Gestaltlosigkeit paßt sich auch de Kats Prosa an. Erzählt wird arg vernebelt und impressionistisch, mit vagen Protagonisten und dann wieder überraschend exakten Sinneswahrnehmungen, ob es nun um einen strengen Faschingstag in Zürich, um eine Dienstreise nach Budapest oder Eindrücke vom Pferderennen in England geht. Nur der Zusammenhang will sich nicht herstellen. Der Vater taugt allein schon darum nicht als Bindeglied, weil er dem Sohn offenbar nichts zu vermitteln und vorzuschreiben hat, und vielleicht ist das auch das Beste, was ein Vater tun kann. Der Sohn eifert ihm nach, wenn er mit viel Mühe eine Verabredung mit einer ungarischen Tänzerin zustande bekommt, die ihn fasziniert. Als er sie dann sieht, geht er schnell wieder, ohne sie anzusprechen.
Die Welt de Kats ist nicht zufällig geprägt von einer merkwürdig verschatteten Negativtheologie. Vom "Grauen des unendlichen Raumes" ist mit Anspielung auf Blaise Pascal die Rede, das "unbeschreiblich Wohltuende des Verlusts" wird etwas wohlfeil beschworen, und niemals scheint dieser Erzähler das Leben anders genießen zu können denn als Zuschauer, Abschiednehmer, Dulder: "Nie gehörte er irgendwo wirklich dazu." Ganz ähnlich reflektiert auch Maarten t'Haart in seinen Erinnerungen an den Vater einen unzugänglichen Mann, der seine Liebe nur schwer zeigen konnte und seinen Sohn wohl dadurch dauerhaft schädigte. Und vielleicht ist dieser kleine Roman, der in den Niederlanden bereits vor fünf Jahren erschien, als Anmerkung zu t'Haarts ebenso literarischem wie theologischem Vaterdenkmal gedacht. Denn auch Christus scheint ja, wenn man der Bibel einmal glauben darf, mit seinem eigenen Vater gehadert und keine zureichenden Antworten von ihm bekommen zu haben. So gelesen, ist der "Mann in der Ferne" auch Dokument einer religiösen Verlusterfahrung.
Am intimsten verkehrt unser Erzähler mit dem allzu fernen Mann noch beim Eislaufen rund um das heimische Kinderdijk - naturgemäß eine weit zurückliegende Jugenderinnerung. Da können zwei Söhne ausnahmsweise mit ihrem Vater Schritt halten, stundenlang und schweigend über zugefrorene Grachten gleiten, vereint im unermüdlichen Wiegeschritt, im Kratzen der hölzernen Kufen und im gefrorenen Atem der Zeit. Dieser zurückhaltende und gerade dadurch sehr holländische Erzähler dürfte die Einschätzung teilen, daß Menschen sich nicht arg viel näher kommen können.
DIRK SCHÜMER
Otto de Kat: "Mann in der Ferne". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 94 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Otto de Kat erinnert sich an seinen schweigenden Vater
Wie heikel die Beziehung zwischen einem schreibenden Sohn und seinem schweigenden Vater sein kann, wissen wir spätestens seit Franz Kafka. Nicht zufällig sind auch die Notizen von Otto de Kat an einen abwesenden Erzeuger gerichtet; vielleicht fällt die Bilanz dieser heikelsten aller Männerbeziehungen einfach leichter, wenn der Vorgänger fern ist, vielleicht ist es einzig der imaginierte, abwesende Vater, der den Sohn überhaupt das Wort ergreifen läßt. De Kat - studierter Theologe, jetzt Verleger in den Niederlanden - hatte, anders als Kafka, eine Beziehung zu seinem Vater, die von Zuneigung und großer Hochachtung geprägt war. Doch gerade wegen der Bewunderung, gewiß auch wegen einer gewissen calvinistischen Scheuheit, kam er dem Vater nie recht nahe. Darum wohl nun dieses Büchlein.
"Mann in der Ferne" kann der Erzähler Buch und Erzeuger darum betiteln, weil dieser Vater seinen Sohn an der langen Leine läßt, ihn nur hier und da - beim Studium in Cambridge, auf einem Golfplatz - überraschend besucht, seine knurrige Billigung bezeugt und dann wieder verschwindet. Der Sohn, der diese wohlwollende Distanz augenscheinlich lieber überwunden sähe, wirkt nun, da es zu spät ist, durchaus wie ein artverwandter Sprößling: Auch er findet zu den Menschen keine leidenschaftliche Bindung, verliebt sich in die unnahbare Freundin K., sinniert dem toten Studienfreund Frank hinterher: "Menschen gehörten zur Ausstattung der Welt, sie waren da, aber man kannte sie nicht. Sie existierten, aber man hatte keine Verbindung zu ihnen, sie hatten keine bleibende Form oder Gestalt."
Dieser Erfahrung der Gestaltlosigkeit paßt sich auch de Kats Prosa an. Erzählt wird arg vernebelt und impressionistisch, mit vagen Protagonisten und dann wieder überraschend exakten Sinneswahrnehmungen, ob es nun um einen strengen Faschingstag in Zürich, um eine Dienstreise nach Budapest oder Eindrücke vom Pferderennen in England geht. Nur der Zusammenhang will sich nicht herstellen. Der Vater taugt allein schon darum nicht als Bindeglied, weil er dem Sohn offenbar nichts zu vermitteln und vorzuschreiben hat, und vielleicht ist das auch das Beste, was ein Vater tun kann. Der Sohn eifert ihm nach, wenn er mit viel Mühe eine Verabredung mit einer ungarischen Tänzerin zustande bekommt, die ihn fasziniert. Als er sie dann sieht, geht er schnell wieder, ohne sie anzusprechen.
Die Welt de Kats ist nicht zufällig geprägt von einer merkwürdig verschatteten Negativtheologie. Vom "Grauen des unendlichen Raumes" ist mit Anspielung auf Blaise Pascal die Rede, das "unbeschreiblich Wohltuende des Verlusts" wird etwas wohlfeil beschworen, und niemals scheint dieser Erzähler das Leben anders genießen zu können denn als Zuschauer, Abschiednehmer, Dulder: "Nie gehörte er irgendwo wirklich dazu." Ganz ähnlich reflektiert auch Maarten t'Haart in seinen Erinnerungen an den Vater einen unzugänglichen Mann, der seine Liebe nur schwer zeigen konnte und seinen Sohn wohl dadurch dauerhaft schädigte. Und vielleicht ist dieser kleine Roman, der in den Niederlanden bereits vor fünf Jahren erschien, als Anmerkung zu t'Haarts ebenso literarischem wie theologischem Vaterdenkmal gedacht. Denn auch Christus scheint ja, wenn man der Bibel einmal glauben darf, mit seinem eigenen Vater gehadert und keine zureichenden Antworten von ihm bekommen zu haben. So gelesen, ist der "Mann in der Ferne" auch Dokument einer religiösen Verlusterfahrung.
Am intimsten verkehrt unser Erzähler mit dem allzu fernen Mann noch beim Eislaufen rund um das heimische Kinderdijk - naturgemäß eine weit zurückliegende Jugenderinnerung. Da können zwei Söhne ausnahmsweise mit ihrem Vater Schritt halten, stundenlang und schweigend über zugefrorene Grachten gleiten, vereint im unermüdlichen Wiegeschritt, im Kratzen der hölzernen Kufen und im gefrorenen Atem der Zeit. Dieser zurückhaltende und gerade dadurch sehr holländische Erzähler dürfte die Einschätzung teilen, daß Menschen sich nicht arg viel näher kommen können.
DIRK SCHÜMER
Otto de Kat: "Mann in der Ferne". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 94 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Zwiespältig wird dieses "Dokument einer religiösen Verlusterfahrung" von Rezensent Dirk Schümer aufgenommen. Zwar findet er in der vorliegenden Vater-Sohn-Geschichte gelegentlich überraschend exakte Sinneswahrnehmungen. Auch scheint ihm dieser Roman eine Art Anmerkung zu Maarten t'Haarts ebenso literarischem wie theologischem Vaterdenkmal "Gott fährt Fahrrad oder Die wunderliche Welt meines Vaters" zu sein. Insgesamt stellt sich für den Rezensenten jedoch in dieser "Bilanz der heikelsten aller Männerbeziehungen" kein Zusammenhang her. Denn erzählt wird Schümer zufolge mit vagen Protagonisten, und zudem "arg vernebelt und impressionistisch". Dass Otto de Kats Welt außerdem von einer "merkwürdig verschatteten Negativtheologie" geprägt zu sein scheint, dass vom Autor das "unbeschreiblich Wohltuende des Verlust" etwas zu wohlfeil beschrieben wird und der Erzähler insgesamt das Leben offensichtlich nur als Dulder genießen kann, wird von Schümer sichtlich genervt zu Protokoll gegeben.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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