Mit Worten schreibt John Berger Bilder und zeichnet Porträts von Freunden und Unbekannten. Diese 29 Texte sind präzise Momentaufnahmen, in denen die Erinnerung ihre Spuren hinterlassen hat. »Sie erhalten ihren Impuls durch ein Nachdenken darüber, was Sein und Schein, Leben und Tod bedeuten.« Der Tagesspiegel
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.1995Papier auf dem Gras
Bildbetrachtung: John Berger sucht den intensiven Augenblick
Jedes Gemälde, schrieb Wilhelm Heinse, ist im Grunde nichts als der Titel von einem Buch, das der Anschauende selbst machen muß. Die durch Horaz kanonisch gewordene Auffassung, die Malerei sei eine stumme Dichtkunst, ist andererseits in ihrer Geltung seit dem achtzehnten Jahrhundert, seit Diderot und Lessing in systematisierender Absicht immer wieder bekämpft worden. Unbekümmert darum hat sich die Bilderzählung in einer Tradition, die von Storm und Flaubert bis zu Simon, Robbe-Grillet und nun John Berger reicht, als eigentümliches Genre distanziert-realistischen Erzählens ausgeprägt.
Ohne sich um ältere und neuere Diskussionen zu Form und Gehalt der Werke zu kümmern, nimmt Berger an, daß Bilder aus einem Lebenszusammenhang heraus entstehen und daß dieser sich dem Betrachter als sichtbare Sprache erschließt. "Sie sprechen, diese Bleistiftzeichnungen von Klee, und zwar unter anderem vom Aufstieg des Faschismus, von Klees verschiedenen Lieben, seiner Gesundheit und seinem vorhergesagten Tod. Sie sind wie Briefe, weil du das Gefühl hast, daß sie gezeichnet wurden, ohne daß der Zeichner je aufgeblickt hat, und daß der Vertraute, an den sie gerichtet sind, dem Papier selbst innewohnt." In Bergers beseelendem Blick steckt der Betrachter immer schon mit im Bild. So ist jedes Anschauen ein Akt der Freundschaft und Menschenliebe, die sich als Text ebenso niederschlagen kann wie im gezeichneten Porträt.
Die Abneigung gegen Systemzwang und ästhetisches Expertentum, die schon Bergers Essays über "das Sichtbare und das Verborgene" auszeichnete, bestimmt auch den auf das Lebendige konzentrierten Blick des reflektierten Erzählers der zweiundzwanzig Porträts, aus denen das schön gemachte Bändchen besteht. Sie beschreiben Menschen, Freunde und halten intensive Augenblicke fest, aber noch in der äußersten Nähe zum Tun und Leiden der Beschriebenen versuchen sie, sich Rechenschaft über das zu geben, was man sieht und sehen kann. Jedes Gemälde, jede Zeichnung, jede Photographie wie der Anblick der Personen selbst und der Dinge, mit denen sie umgehen, eröffnet ein virtuell unendliches Spiel von Ähnlichkeiten, von Koinzidenzen, die der Erzähler verbindend entziffert. Oft zweifelnd, den eigenen Blick durch den der anderen, die Imagination des fremden Blicks in Frage stellend, aber auf dem festen Grund der Gewißheit, daß das geübte Auge in allen Bildern die Bewegung des Lebendigen erkennen kann.
Henri Michaux fand Bücher langweiliger als Bilder, weil sie die Bewegungsfreiheit einschränken, weil der Weg der Erfahrung vorbestimmt ist. Natürlich bleiben auch Bergers erzählte Bilder an die Linearität der Sprache gebunden. Seine metaphorisch durchtränkte Darstellungsweise, ein Herübertragen im Wortsinn, läßt jedoch auch dem Leser Raum zur Aktivierung eigener Vorstellungsbilder. Die Texte tragen Bildtitel und folgen keiner Erzähllogik. Die Beobachtungen scheinen sich auf einer Fläche zu Bildmustern zu fügen, die verschiedene Blicke auf die geschilderten Menschen zulassen. Dabei wird das Sichtbare gerade dadurch überschritten, daß es ernst genommen wird. Die Personen wie die Dinge sind mehr als das, was man sieht, aber ebendies vermittelt der Sprache werdende Blick.
Wie für den Erzähler, der sich am Schluß nicht mehr sicher ist, "wo die Grenze zwischen Kunst und Natur, Werden und Ursprung zu ziehen ist", wird auch für den Leser der Unterschied zwischen "gemaltem Zeichen" und "geschriebener Zeichnung" im Laufe der Lektüre immer kleiner. Entspannt lernt er, die Lebensspuren im Bild wie in der Schrift zu entziffern und auszulegen, und am Ende scheinen die Stücke selbst dazuliegen wie "Papierbögen, im Gras ausgebreitet", wie der Titel der an den Anfang zurückkehrenden letzten Schilderung lautet.
Berger ist ein ungemein gebildeter Erzähler, und sein Verfahren ist offensichtlich artifiziell, an jeder Stelle von ästhetischer Erfahrung getränkt: zu jedem intensiven Anblick in der Lebenswelt fällt ihm ein antiker Dichter oder ein moderner Maler ein. Das erzeugt gelegentlich Formulierungen von etwas betulicher Weisheit; in den besten Passagen dieses Buchs der Freunde aber scheint in schöner Unzeitgemäßheit eine verloren geglaubte Erfahrung auf: die einfache und ruhige sinnliche Anschauung des Daseins. FRIEDMAR APEL
John Berger: "Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehend".Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. Carl Hanser Verlag, München 1995. 119 S., geb., 25,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bildbetrachtung: John Berger sucht den intensiven Augenblick
Jedes Gemälde, schrieb Wilhelm Heinse, ist im Grunde nichts als der Titel von einem Buch, das der Anschauende selbst machen muß. Die durch Horaz kanonisch gewordene Auffassung, die Malerei sei eine stumme Dichtkunst, ist andererseits in ihrer Geltung seit dem achtzehnten Jahrhundert, seit Diderot und Lessing in systematisierender Absicht immer wieder bekämpft worden. Unbekümmert darum hat sich die Bilderzählung in einer Tradition, die von Storm und Flaubert bis zu Simon, Robbe-Grillet und nun John Berger reicht, als eigentümliches Genre distanziert-realistischen Erzählens ausgeprägt.
Ohne sich um ältere und neuere Diskussionen zu Form und Gehalt der Werke zu kümmern, nimmt Berger an, daß Bilder aus einem Lebenszusammenhang heraus entstehen und daß dieser sich dem Betrachter als sichtbare Sprache erschließt. "Sie sprechen, diese Bleistiftzeichnungen von Klee, und zwar unter anderem vom Aufstieg des Faschismus, von Klees verschiedenen Lieben, seiner Gesundheit und seinem vorhergesagten Tod. Sie sind wie Briefe, weil du das Gefühl hast, daß sie gezeichnet wurden, ohne daß der Zeichner je aufgeblickt hat, und daß der Vertraute, an den sie gerichtet sind, dem Papier selbst innewohnt." In Bergers beseelendem Blick steckt der Betrachter immer schon mit im Bild. So ist jedes Anschauen ein Akt der Freundschaft und Menschenliebe, die sich als Text ebenso niederschlagen kann wie im gezeichneten Porträt.
Die Abneigung gegen Systemzwang und ästhetisches Expertentum, die schon Bergers Essays über "das Sichtbare und das Verborgene" auszeichnete, bestimmt auch den auf das Lebendige konzentrierten Blick des reflektierten Erzählers der zweiundzwanzig Porträts, aus denen das schön gemachte Bändchen besteht. Sie beschreiben Menschen, Freunde und halten intensive Augenblicke fest, aber noch in der äußersten Nähe zum Tun und Leiden der Beschriebenen versuchen sie, sich Rechenschaft über das zu geben, was man sieht und sehen kann. Jedes Gemälde, jede Zeichnung, jede Photographie wie der Anblick der Personen selbst und der Dinge, mit denen sie umgehen, eröffnet ein virtuell unendliches Spiel von Ähnlichkeiten, von Koinzidenzen, die der Erzähler verbindend entziffert. Oft zweifelnd, den eigenen Blick durch den der anderen, die Imagination des fremden Blicks in Frage stellend, aber auf dem festen Grund der Gewißheit, daß das geübte Auge in allen Bildern die Bewegung des Lebendigen erkennen kann.
Henri Michaux fand Bücher langweiliger als Bilder, weil sie die Bewegungsfreiheit einschränken, weil der Weg der Erfahrung vorbestimmt ist. Natürlich bleiben auch Bergers erzählte Bilder an die Linearität der Sprache gebunden. Seine metaphorisch durchtränkte Darstellungsweise, ein Herübertragen im Wortsinn, läßt jedoch auch dem Leser Raum zur Aktivierung eigener Vorstellungsbilder. Die Texte tragen Bildtitel und folgen keiner Erzähllogik. Die Beobachtungen scheinen sich auf einer Fläche zu Bildmustern zu fügen, die verschiedene Blicke auf die geschilderten Menschen zulassen. Dabei wird das Sichtbare gerade dadurch überschritten, daß es ernst genommen wird. Die Personen wie die Dinge sind mehr als das, was man sieht, aber ebendies vermittelt der Sprache werdende Blick.
Wie für den Erzähler, der sich am Schluß nicht mehr sicher ist, "wo die Grenze zwischen Kunst und Natur, Werden und Ursprung zu ziehen ist", wird auch für den Leser der Unterschied zwischen "gemaltem Zeichen" und "geschriebener Zeichnung" im Laufe der Lektüre immer kleiner. Entspannt lernt er, die Lebensspuren im Bild wie in der Schrift zu entziffern und auszulegen, und am Ende scheinen die Stücke selbst dazuliegen wie "Papierbögen, im Gras ausgebreitet", wie der Titel der an den Anfang zurückkehrenden letzten Schilderung lautet.
Berger ist ein ungemein gebildeter Erzähler, und sein Verfahren ist offensichtlich artifiziell, an jeder Stelle von ästhetischer Erfahrung getränkt: zu jedem intensiven Anblick in der Lebenswelt fällt ihm ein antiker Dichter oder ein moderner Maler ein. Das erzeugt gelegentlich Formulierungen von etwas betulicher Weisheit; in den besten Passagen dieses Buchs der Freunde aber scheint in schöner Unzeitgemäßheit eine verloren geglaubte Erfahrung auf: die einfache und ruhige sinnliche Anschauung des Daseins. FRIEDMAR APEL
John Berger: "Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehend".Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. Carl Hanser Verlag, München 1995. 119 S., geb., 25,- DM.
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