Ein sowjetischer Spitalzug auf dem Weg von einer Front zu anderen. Darin ein Petersburger Intellektueller: Gepeinigt von Herzanfällen und Todesangst, liest er den Werther (auf deutsch). Aber in die Lektüre drängt sich die Geschäftigkeit der Militärärzte, Apotheker, Krankenschwestern um ihn herum. Es ist eine seltsame Gemeinschaft, hervorgebracht zwar vom Krieg, doch bestimmt von ganz alltäglichen Sorgen und kleinen Freuden:'Wir fuhren schon so lange, daß wir nach und nach die Vorstellung von der Zeit verloren hatten. Niemand wußte, wohin wir geschickt wurden. Wir fuhren von Station zu Station, als hätten wir uns verlaufen. Man hatte uns wohl vergessen.'Bei einem längeren Aufenthalt trifft er auf ein Mädchen, anders als alle anderen: Vera Muschnikowa, ruhelos und romantisch, grazil und ungestüm, und sie ist jederzeit zur Liebe bereit. Der Feingeist erliegt ihrem vulgären Zauber, erkennt in ihr seine 'sowjetische Manon' und erahnt damit bereits den dunklen Weg, den ihre Liebe nehmen wird.'Manon Lescaut von Turdej', entstanden 1946, erschien erst 60 Jahre später, im November 2006, in der Moskauer Zeitschrift 'Novyj Mir'.'Auf der Pritsche liegend, hatte ich mir die Liebe zu dieser sowjetischen Manon Lescaut ausgedacht. Ich hatte Angst davor, mir zu sagen, daß es nicht so war, daß ich mir nichts ausgedacht hatte, sondern tatsachlich alles vergessen und mich selbst verloren hatte und nur davon lebte, daß ich Vera liebte.Ich legte mich so auf die Pritsche, daß ich gleich den ganzen Waggon sehen konnte. Wo Vera auch auftauchte, ich konnte sie sehen. Wie ein Somnambuler drehte ich mich zu der Seite, wo sie war.'
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2012Warten auf ihre Schritte
Wsewolod Petrows Novelle „Die Manon Lescaut von Turdej“ ist ein Schlüssel zu den Geheimnissen der russischen
Kulturgeschichte – nun ist dieses wahre Kleinod der Literatur erstmals auf Deutsch zu entdecken
VON INA HARTWIG
Selten kommt es vor, dass ein Nachwort derartig vibriert vor Kenntnis, Begeisterung und Vermittlungswillen. Oleg Jurjew, in Deutschland lebender russischer Schriftsteller und Dichter, rollt seinem Landsmann Wsewolod Petrow (1912-1978) den roten Teppich aus: Dessen „Manon Lescaut von Turdej“, geschrieben 1946, postum erschienen im Jahr 2006, hier erstmals in eine andere Sprache übersetzt (von Oleg Jurjews Sohn Daniel), sei schlichtweg ein Kleinod, ein Meisterwerk und Höhepunkt der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Eine Novelle von knapp hundert Seiten, eine Liebesgeschichte aus dem Krieg?
Der Ich-Erzähler, ein gebildeter Offizier und „Werther“-Leser, dem jegliche sowjetischen Attribute fehlen, verfällt einem Mädchen aus dem Volk. Ihr Name ist Vera, ein flatterhaftes hübsches Ding. Der völlig abstrakt bleibende Krieg führt sie zusammen in einem Eisenbahnwagen des Militärspitals, der mitten im Nirgendwo auf Weiterfahrt wartet. Die Zeit scheint stillzustehen („Man hatte uns wohl vergessen“), derweil im Spitalwagen zwei Offiziere, ein Apotheker, eine grobschlächtige Mutter mit Kind, zwei Ärztinnen und die Krankenschwestern, zu denen Vera zählt, mehr schlecht als recht zusammenleben, essen, schlafen, schnarchen und spucken, singen und tanzen. Flirtend mit den Soldaten der anderen Züge vertreiben die jungen Frauen sich die Zeit. Russland im Winter; in der Mitte des Militärwagens bollert der Holzofen.
„Vera war mädchenhaft romantisch, sie war eingenommen von allem Überraschenden und Bizarren, von den großen Themen – nichts Geringeres als Liebe und Tod –, über die sie, zum Glück, nichts sagen konnte.“ Themen, über die sie „zum Glück“ nichts sagen konnte? In dieser scheinbaren Unlogik – denn warum sollte es ein Glück sein, dass der Angebeteten zu Liebe und Tod nichts einfällt? – verbirgt sich das Geheimnis der Anziehung: Ihr fällt nichts ein, während ihm alles Mögliche einfällt, zu viel vermutlich für die unbeständige Vera. Seine Liebe lässt sie sich dennoch gefallen, erwidert sie auch, zeitweise zumindest, mit Leidenschaft.
Nicht lang müssen wir warten, bis der namenlose Erzähler, während er auf seiner Pritsche liegt und das Treiben beobachtet, über die (nicht nur ihn) entzückende Vera sein Assoziationsnetz wirft: eine „Manon Lescaut“ sei sie (Abbé Prévosts Roman von 1731 als bekannt voraussetzend), aber auch an Marie-Antoinette (ausgerechnet die Geköpfte!) erinnere sie ihn und an die rotwangigen Damen auf Watteaus Gemälden. Das heißt: Nicht nur eine Überhöhung des einfachen Mädchens, das über sich selbst wenig weiß, findet hier statt. Nicht nur eine Mésalliance nimmt ihren Lauf, die selbstverständlich nicht im Glück, sondern im Tod endet. Ferner, und darauf macht Oleg Jurjew mit Nachdruck aufmerksam, verschafft sich das 18. Jahrhundert hier sein poetisches Recht; jenes Jahrhundert also, das die französisch parlierende russische Aristokratie so liebte und das die sowjetischen Funktionäre so hassten.
Überhaupt muss dieses aufwühlend-glühende Stück Literatur als gegen alles offiziell Sowjetische gelesen werden: gegen den Heldenkult, gegen die Kriegspropaganda, gegen den verordneten Klassenkampf, gegen die Lehre vom Neuen Menschen. Vielmehr befindet sich diese „Manon“ sozusagen im Gespräch mit der russischen Literatur selbst: Turdej, wo der Zug bald wieder zum Stehen kommt und wo der Erzähler und Vera ein kurzes intensives Liebesglück erleben, dieses weithin unbekannte Turdej liegt bei Tula, zweihundert Kilometer von Moskau entfernt, in der Heimat der größten russischen Schriftsteller, Tolstoi, Turgenjew oder Leskow.
Petrow, ein Sprössling des Petersburger Adels, war selbst als Offizier im Zweiten Weltkrieg gewesen; aus der Armee entlassen, schrieb er die „Manon Lescaut von Turdej“. Er war eigentlich Kunsthistoriker, arbeitete am Russischen Museum in Leningrad; die „Manon“ ist das einzige bekannte literarische Werk aus seiner Feder. Aber offenbar war sich Petrow deren Qualität bewusst, er las Freunden oft daraus vor. Nur veröffentlicht hat er die Novelle nie. Erst knapp drei Jahrzehnte nach seinem Tod sollte sie in der Zeitschrift Nowyi mir erscheinen, was einer Sensation gleichkam. Nicht weniger als den „Schlüssel zu einigen Geheimnissen der russischen Kulturgeschichte“ erkennt Oleg Jurjew darin.
Gewidmet ist die Novelle dem Andenken des Dichters Michail Kusmin (1872-1936), der nicht nur ein Manon-Lescaut-Gedicht geschrieben hat, wie im übrigen Marina Zwetajewa auch (die Information verdankt sich Olga Martynovas Stellenkommentar), sondern der zudem in seinem Leningrader Kommunalka-Zimmerchen als literarischer Gastgeber fungierte. Und erinnert der „klassenlose“ Militärspitalszug der Novelle nicht ebenfalls an die furchtbar überbelegten Gemeinschaftswohnungen? Das Leben in zwei Kulturen, dem sowjetischen Alltag und dem literarischen Untergrund, war jedenfalls typisch für bestimmte Kreise.
Voller Unvereinbarkeiten, dicht und rätselhaft schön ist diese kleine große Literatur. „Ich wartete auf Vera, blätterte im Goethe, rauchte, schaute aus dem Fenster, wie die Eiszapfen vom Dach tauten, und horchte auf alle Schritte.“ Vera, denkt ihr zu Atemnot und Herzrasen neigender Verehrer, zähle zu den „flammenden Menschen, die außerhalb der Form leben“. Nun ja. Flammend ist vor allem ihre Untreue. „Rebellion aber ist spießig“, heißt es wiederum in einer längeren Passage über die formsprengende Kraft der Romantik, deren Geist der Erzähler sich – mit Goethe – widersetzt. Wenn „Die Manon Lescaut von Turdej“ eine Hommage ist, dann an die Zeit, die nicht vergeht.
Nicht den Weg eines „antisowjetischen Sozrealismus“ wie etwa Solschenizyn sei Petrow gegangen, betont Oleg Jurjew, sondern den Weg der Reduktion aufs Wesentliche. Damit ist unter anderem die abstrakte Reduktion der Schauplätze gemeint: ein Eisenbahnwagen wie auf weiter, leerer Bühne in einem Krieg, den man historisch nicht festmachen kann; ein Krieg ohne Parolen, ohne Pathos, nicht einmal Gegen-Pathos. Statt dessen ein Kriegsidyll, das der Illusion erliegt, man könne die Realität ignorieren; der Illusion, der Krieg spüle alles Sowjetische weg, hole ein urtümliches Russland wieder hervor. Und doch, die Kriegsgewalt hält in Petrows „Manon Lescaut“ sehr wohl Einzug, am Ende und mit voller tödlicher Wucht.
Das einfache Mädchen, das alle
betört, wird zur Ikone eines
urtümlichen Russland überhöht
Sein einziges literarisches Werk
hat Petrow, selbst Offizier im
Weltkrieg, nie veröffentlicht
Petrow ignorierte alles Sowjetische: den Heldenkult, die Kriegspropaganda, den verordneten Klassenkampf – eine tödliche Illusion.
FOTO: WWW.BRIDGEMANART.COM
Wsewolod Petrow: Die Manon Lescaut von Turdej. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Stellenkommentar von Olga Martynova, Nachwort von Oleg Jurjew. Weidle Verlag, Bonn 2012. 125 Seiten, 16,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wsewolod Petrows Novelle „Die Manon Lescaut von Turdej“ ist ein Schlüssel zu den Geheimnissen der russischen
Kulturgeschichte – nun ist dieses wahre Kleinod der Literatur erstmals auf Deutsch zu entdecken
VON INA HARTWIG
Selten kommt es vor, dass ein Nachwort derartig vibriert vor Kenntnis, Begeisterung und Vermittlungswillen. Oleg Jurjew, in Deutschland lebender russischer Schriftsteller und Dichter, rollt seinem Landsmann Wsewolod Petrow (1912-1978) den roten Teppich aus: Dessen „Manon Lescaut von Turdej“, geschrieben 1946, postum erschienen im Jahr 2006, hier erstmals in eine andere Sprache übersetzt (von Oleg Jurjews Sohn Daniel), sei schlichtweg ein Kleinod, ein Meisterwerk und Höhepunkt der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Eine Novelle von knapp hundert Seiten, eine Liebesgeschichte aus dem Krieg?
Der Ich-Erzähler, ein gebildeter Offizier und „Werther“-Leser, dem jegliche sowjetischen Attribute fehlen, verfällt einem Mädchen aus dem Volk. Ihr Name ist Vera, ein flatterhaftes hübsches Ding. Der völlig abstrakt bleibende Krieg führt sie zusammen in einem Eisenbahnwagen des Militärspitals, der mitten im Nirgendwo auf Weiterfahrt wartet. Die Zeit scheint stillzustehen („Man hatte uns wohl vergessen“), derweil im Spitalwagen zwei Offiziere, ein Apotheker, eine grobschlächtige Mutter mit Kind, zwei Ärztinnen und die Krankenschwestern, zu denen Vera zählt, mehr schlecht als recht zusammenleben, essen, schlafen, schnarchen und spucken, singen und tanzen. Flirtend mit den Soldaten der anderen Züge vertreiben die jungen Frauen sich die Zeit. Russland im Winter; in der Mitte des Militärwagens bollert der Holzofen.
„Vera war mädchenhaft romantisch, sie war eingenommen von allem Überraschenden und Bizarren, von den großen Themen – nichts Geringeres als Liebe und Tod –, über die sie, zum Glück, nichts sagen konnte.“ Themen, über die sie „zum Glück“ nichts sagen konnte? In dieser scheinbaren Unlogik – denn warum sollte es ein Glück sein, dass der Angebeteten zu Liebe und Tod nichts einfällt? – verbirgt sich das Geheimnis der Anziehung: Ihr fällt nichts ein, während ihm alles Mögliche einfällt, zu viel vermutlich für die unbeständige Vera. Seine Liebe lässt sie sich dennoch gefallen, erwidert sie auch, zeitweise zumindest, mit Leidenschaft.
Nicht lang müssen wir warten, bis der namenlose Erzähler, während er auf seiner Pritsche liegt und das Treiben beobachtet, über die (nicht nur ihn) entzückende Vera sein Assoziationsnetz wirft: eine „Manon Lescaut“ sei sie (Abbé Prévosts Roman von 1731 als bekannt voraussetzend), aber auch an Marie-Antoinette (ausgerechnet die Geköpfte!) erinnere sie ihn und an die rotwangigen Damen auf Watteaus Gemälden. Das heißt: Nicht nur eine Überhöhung des einfachen Mädchens, das über sich selbst wenig weiß, findet hier statt. Nicht nur eine Mésalliance nimmt ihren Lauf, die selbstverständlich nicht im Glück, sondern im Tod endet. Ferner, und darauf macht Oleg Jurjew mit Nachdruck aufmerksam, verschafft sich das 18. Jahrhundert hier sein poetisches Recht; jenes Jahrhundert also, das die französisch parlierende russische Aristokratie so liebte und das die sowjetischen Funktionäre so hassten.
Überhaupt muss dieses aufwühlend-glühende Stück Literatur als gegen alles offiziell Sowjetische gelesen werden: gegen den Heldenkult, gegen die Kriegspropaganda, gegen den verordneten Klassenkampf, gegen die Lehre vom Neuen Menschen. Vielmehr befindet sich diese „Manon“ sozusagen im Gespräch mit der russischen Literatur selbst: Turdej, wo der Zug bald wieder zum Stehen kommt und wo der Erzähler und Vera ein kurzes intensives Liebesglück erleben, dieses weithin unbekannte Turdej liegt bei Tula, zweihundert Kilometer von Moskau entfernt, in der Heimat der größten russischen Schriftsteller, Tolstoi, Turgenjew oder Leskow.
Petrow, ein Sprössling des Petersburger Adels, war selbst als Offizier im Zweiten Weltkrieg gewesen; aus der Armee entlassen, schrieb er die „Manon Lescaut von Turdej“. Er war eigentlich Kunsthistoriker, arbeitete am Russischen Museum in Leningrad; die „Manon“ ist das einzige bekannte literarische Werk aus seiner Feder. Aber offenbar war sich Petrow deren Qualität bewusst, er las Freunden oft daraus vor. Nur veröffentlicht hat er die Novelle nie. Erst knapp drei Jahrzehnte nach seinem Tod sollte sie in der Zeitschrift Nowyi mir erscheinen, was einer Sensation gleichkam. Nicht weniger als den „Schlüssel zu einigen Geheimnissen der russischen Kulturgeschichte“ erkennt Oleg Jurjew darin.
Gewidmet ist die Novelle dem Andenken des Dichters Michail Kusmin (1872-1936), der nicht nur ein Manon-Lescaut-Gedicht geschrieben hat, wie im übrigen Marina Zwetajewa auch (die Information verdankt sich Olga Martynovas Stellenkommentar), sondern der zudem in seinem Leningrader Kommunalka-Zimmerchen als literarischer Gastgeber fungierte. Und erinnert der „klassenlose“ Militärspitalszug der Novelle nicht ebenfalls an die furchtbar überbelegten Gemeinschaftswohnungen? Das Leben in zwei Kulturen, dem sowjetischen Alltag und dem literarischen Untergrund, war jedenfalls typisch für bestimmte Kreise.
Voller Unvereinbarkeiten, dicht und rätselhaft schön ist diese kleine große Literatur. „Ich wartete auf Vera, blätterte im Goethe, rauchte, schaute aus dem Fenster, wie die Eiszapfen vom Dach tauten, und horchte auf alle Schritte.“ Vera, denkt ihr zu Atemnot und Herzrasen neigender Verehrer, zähle zu den „flammenden Menschen, die außerhalb der Form leben“. Nun ja. Flammend ist vor allem ihre Untreue. „Rebellion aber ist spießig“, heißt es wiederum in einer längeren Passage über die formsprengende Kraft der Romantik, deren Geist der Erzähler sich – mit Goethe – widersetzt. Wenn „Die Manon Lescaut von Turdej“ eine Hommage ist, dann an die Zeit, die nicht vergeht.
Nicht den Weg eines „antisowjetischen Sozrealismus“ wie etwa Solschenizyn sei Petrow gegangen, betont Oleg Jurjew, sondern den Weg der Reduktion aufs Wesentliche. Damit ist unter anderem die abstrakte Reduktion der Schauplätze gemeint: ein Eisenbahnwagen wie auf weiter, leerer Bühne in einem Krieg, den man historisch nicht festmachen kann; ein Krieg ohne Parolen, ohne Pathos, nicht einmal Gegen-Pathos. Statt dessen ein Kriegsidyll, das der Illusion erliegt, man könne die Realität ignorieren; der Illusion, der Krieg spüle alles Sowjetische weg, hole ein urtümliches Russland wieder hervor. Und doch, die Kriegsgewalt hält in Petrows „Manon Lescaut“ sehr wohl Einzug, am Ende und mit voller tödlicher Wucht.
Das einfache Mädchen, das alle
betört, wird zur Ikone eines
urtümlichen Russland überhöht
Sein einziges literarisches Werk
hat Petrow, selbst Offizier im
Weltkrieg, nie veröffentlicht
Petrow ignorierte alles Sowjetische: den Heldenkult, die Kriegspropaganda, den verordneten Klassenkampf – eine tödliche Illusion.
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Wsewolod Petrow: Die Manon Lescaut von Turdej. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Stellenkommentar von Olga Martynova, Nachwort von Oleg Jurjew. Weidle Verlag, Bonn 2012. 125 Seiten, 16,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als entzückende, "atmosphärisch-bukolische Trouvaille" würdigt Rezensent Jörg Plath Wsewolod Petrows nun auch auf Deutsch erschienene Liebesgeschichte "Die Manon Lescaut von Turdej" aus dem Jahre 1946. Ganz hingerissen liest er die Geschichte um einen namenlosen Arzt, der sich in einem Eisenbahnwaggon der Roten Armee nicht nur mit Goethes "Werther" und Rousseauismus beschäftigt, sondern sich auch in die junge Krankenschwester Vera verliebt, die ihm als Wiedergängerin der Manon Lescaut erscheint. Der Kritiker folgt Petrows eigensinnigem Helden bei seinen Versuchen der Kriegsgegenwart durch seine Träume vom 18. Jahrhundert zu entfliehen und seine Geliebte nach eben jenen Vorstellungen zu formen. Der russische Autor, der als Belletrist kaum in Erscheinung trat, habe aus seiner Novelle fast alle historischen Spuren - etwa Sowjetisches oder militärische Rituale - getilgt, berichtet der Rezensent. Auch wenn ihm die im Zweiten Weltkrieg spielende Geschichte bisweilen allzu sehr in die Vorstellungswelt des 18. Jahrhunderts abgleitet, kann Plath diese wunderbare Novelle nicht zuletzt aufgrund der exzellenten Übersetzung und des informativen Nachwortes nur unbedingt empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2012Ein Marsmensch konnte nicht fremder sein
Weltliteratur, um sechs Jahrzehnte verspätet: Wsewolod Petrows Novelle "Die Manon Lescaut von Turdej".
Von Kerstin Holm
Die Mottenkiste der russischen Kultur fördert noch immer Juwelen zutage. So die zartbittere Kriegserzählung "Die Manon Lescaut von Turdej" des Leningrader Kunstwissenschaftlers Wsewolod Petrow (1902 bis 1978), eine der schönsten Liebesnovellen des zwanzigsten Jahrhunderts, die in Petrows Nachlass verstaubte, bis die Zeitschrift "Nowyj mir" sie 2006 publizierte. Dank der in Frankfurt lebenden Literatenfamilie Oleg Jurjew, Olga Martynowa und ihrem Sohn Daniel Jurjew erscheint im Weidle Verlag jetzt eine asketisch-edle deutsche Ausgabe, für die Daniel Jurjew die vorzügliche Übersetzung beigesteuert hat und seine Eltern die ebenso knappen wie wichtigen Kommentare.
Auch Petrow, der einer vornehmen Petersburger Familie entstammte, war ein Kulturvermittler. Der strenge Mentor vieler widerständiger Intellektueller hatte seinen einzigen belletristischen Text über einen Lazarettzug der Sowjetarmee im Nachkriegsjahr 1946 verfasst, als Antwort auf die klassisch sowjetische Spitalzuggeschichte "Weggefährten" von Vera Panowa, die im selben Jahr erschienen war. Sowohl die "Weggefährten" als auch Petrows "Manon" schildern eine Abteilung aus Ärzten, Sanitätern, Krankenschwestern, die von einem russischen Kriegsschauplatz zum andern unterwegs sind, mit ihren menschlichen Schwächen von männlicher Trunksucht bis zu weiblicher Koketterie. Doch während bei der Journalistin Panowa die Figuren im Augenblick der Feindberührung heroisch über sich hinaus- und zusammenwachsen, blendet Petrow alle kriegsrelevanten Einzelheiten wie Orte, Dienstgrade, Bewaffnung oder Kampfmoral aus, als stellte er sein Objektiv absichtlich unscharf.
Petrow kommt zur Essenz der Situation durch die kulturelle Fokussierung. Sein von Erstickungsanfällen verfolgter Ich-Erzähler liest den "Werther" auf Deutsch, was damals, nach dem Nazi-Einmarsch, doppelt undenkbar war. An der blassen jungen Krankenpflegerin, in die er sich verliebt, bewundert er die raffiniert-temperamentvollen Züge des achtzehnten Jahrhunderts, weshalb er glaubt, durch ihr Mädchengesicht hindurch auch in das der untergangsgeweihten Marie Antoinette zu blicken.
Sein Gefühl überfällt den Eigenbrötler unvermittelt: Er offenbart sich der Kindfrau, macht ihr Avancen. Er sieht in ihr eine tanzende Flamme, selbst Rücksichtslosigkeit und Betrügereien findet er an ihr nur bezaubernd. Ihr Herz gewinnt er (auch weil er ihr trotz gegenteiliger Geständnisse nicht verfällt) an einer Haltestelle namens Turdej - ein altslawisches Toponym, das in seinen Ohren französisch klingt wie ein russifiziertes Tourdeille. Dort in einer winzigen Hütte einquartiert, genießt er, hinter seinem Rücken als Narr verspottet, beengte Zweisamkeit mit seiner Manon Lescaut.
Wsewolod Petrow versteckte seine Prosadichtung nicht. Er zeigte sie Bekannten und las Freunden daraus vor. Er versuchte nur nie, sie zu veröffentlichen - wissend, dass für die Gesellschaft, die ihn umgab, seine Weltwahrnehmung inakzeptabler war als die eines Marsmenschen. Petrows Manon betrügt auch den Helden; doch als sie bei einem Bombenangriff stirbt, rennt er los ins Nichts, um wenigstens dort sie noch einmal zu spüren. Inzwischen hat sich die sowjetische Lagergesellschaft aufgelöst. Und Petrows höchstwahrscheinlich selbsterlebte Geschichte ist, wie zuvor schon Nikolai Lesskows "Lady Macbeth von Mzensk" oder Iwan Turgenjews "König Lear der Steppe", ein zwar mikroskopisch kleiner, aber unzerstörbarer Teil der Weltkultur geworden.
Wsewolod Petrow: "Die Manon Lescaut von Turdej". Roman.
Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Weidle Verlag, Bonn 2012. 125 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltliteratur, um sechs Jahrzehnte verspätet: Wsewolod Petrows Novelle "Die Manon Lescaut von Turdej".
Von Kerstin Holm
Die Mottenkiste der russischen Kultur fördert noch immer Juwelen zutage. So die zartbittere Kriegserzählung "Die Manon Lescaut von Turdej" des Leningrader Kunstwissenschaftlers Wsewolod Petrow (1902 bis 1978), eine der schönsten Liebesnovellen des zwanzigsten Jahrhunderts, die in Petrows Nachlass verstaubte, bis die Zeitschrift "Nowyj mir" sie 2006 publizierte. Dank der in Frankfurt lebenden Literatenfamilie Oleg Jurjew, Olga Martynowa und ihrem Sohn Daniel Jurjew erscheint im Weidle Verlag jetzt eine asketisch-edle deutsche Ausgabe, für die Daniel Jurjew die vorzügliche Übersetzung beigesteuert hat und seine Eltern die ebenso knappen wie wichtigen Kommentare.
Auch Petrow, der einer vornehmen Petersburger Familie entstammte, war ein Kulturvermittler. Der strenge Mentor vieler widerständiger Intellektueller hatte seinen einzigen belletristischen Text über einen Lazarettzug der Sowjetarmee im Nachkriegsjahr 1946 verfasst, als Antwort auf die klassisch sowjetische Spitalzuggeschichte "Weggefährten" von Vera Panowa, die im selben Jahr erschienen war. Sowohl die "Weggefährten" als auch Petrows "Manon" schildern eine Abteilung aus Ärzten, Sanitätern, Krankenschwestern, die von einem russischen Kriegsschauplatz zum andern unterwegs sind, mit ihren menschlichen Schwächen von männlicher Trunksucht bis zu weiblicher Koketterie. Doch während bei der Journalistin Panowa die Figuren im Augenblick der Feindberührung heroisch über sich hinaus- und zusammenwachsen, blendet Petrow alle kriegsrelevanten Einzelheiten wie Orte, Dienstgrade, Bewaffnung oder Kampfmoral aus, als stellte er sein Objektiv absichtlich unscharf.
Petrow kommt zur Essenz der Situation durch die kulturelle Fokussierung. Sein von Erstickungsanfällen verfolgter Ich-Erzähler liest den "Werther" auf Deutsch, was damals, nach dem Nazi-Einmarsch, doppelt undenkbar war. An der blassen jungen Krankenpflegerin, in die er sich verliebt, bewundert er die raffiniert-temperamentvollen Züge des achtzehnten Jahrhunderts, weshalb er glaubt, durch ihr Mädchengesicht hindurch auch in das der untergangsgeweihten Marie Antoinette zu blicken.
Sein Gefühl überfällt den Eigenbrötler unvermittelt: Er offenbart sich der Kindfrau, macht ihr Avancen. Er sieht in ihr eine tanzende Flamme, selbst Rücksichtslosigkeit und Betrügereien findet er an ihr nur bezaubernd. Ihr Herz gewinnt er (auch weil er ihr trotz gegenteiliger Geständnisse nicht verfällt) an einer Haltestelle namens Turdej - ein altslawisches Toponym, das in seinen Ohren französisch klingt wie ein russifiziertes Tourdeille. Dort in einer winzigen Hütte einquartiert, genießt er, hinter seinem Rücken als Narr verspottet, beengte Zweisamkeit mit seiner Manon Lescaut.
Wsewolod Petrow versteckte seine Prosadichtung nicht. Er zeigte sie Bekannten und las Freunden daraus vor. Er versuchte nur nie, sie zu veröffentlichen - wissend, dass für die Gesellschaft, die ihn umgab, seine Weltwahrnehmung inakzeptabler war als die eines Marsmenschen. Petrows Manon betrügt auch den Helden; doch als sie bei einem Bombenangriff stirbt, rennt er los ins Nichts, um wenigstens dort sie noch einmal zu spüren. Inzwischen hat sich die sowjetische Lagergesellschaft aufgelöst. Und Petrows höchstwahrscheinlich selbsterlebte Geschichte ist, wie zuvor schon Nikolai Lesskows "Lady Macbeth von Mzensk" oder Iwan Turgenjews "König Lear der Steppe", ein zwar mikroskopisch kleiner, aber unzerstörbarer Teil der Weltkultur geworden.
Wsewolod Petrow: "Die Manon Lescaut von Turdej". Roman.
Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Weidle Verlag, Bonn 2012. 125 S., br., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main