Ein poetisches Tagebuch, ein lyrisches Handbuch
Das Jahr fängt an »im januar« und damit auch dieser Gedichtband, der Tagebuch und lyrisches Handbuch zugleich ist. Und bald folgt das Bekenntnis: »du weißt ich wollt mehr als pullover borgen«.
Um flüchtiges Glück und unser Sehnen, die Utopie unseres Begehrens geht es, um den Schrecken, wenn sich in der Küche jemand findet unter jammervollen Jackendecken. Statt eines Titels sind die Gedichte mit den Zahlen des jeweiligen Tages versehen und besitzen ebenso viele Zeilen. Zwei Gedichte pro Tag, eines mit der Tageszahl, eines mit der Monatszahl. Nicht für jeden Tag findet sich ein Eintrag, doch mit jedem neuen Datum wandeln sich die lyrischen Formen.
Das Jahr fängt an »im januar« und damit auch dieser Gedichtband, der Tagebuch und lyrisches Handbuch zugleich ist. Und bald folgt das Bekenntnis: »du weißt ich wollt mehr als pullover borgen«.
Um flüchtiges Glück und unser Sehnen, die Utopie unseres Begehrens geht es, um den Schrecken, wenn sich in der Küche jemand findet unter jammervollen Jackendecken. Statt eines Titels sind die Gedichte mit den Zahlen des jeweiligen Tages versehen und besitzen ebenso viele Zeilen. Zwei Gedichte pro Tag, eines mit der Tageszahl, eines mit der Monatszahl. Nicht für jeden Tag findet sich ein Eintrag, doch mit jedem neuen Datum wandeln sich die lyrischen Formen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2015Rechnen muss man können
Judith Zander versucht sich am Dichten nach Zahlen
Es gehört zu den anspruchsvollsten Wagnissen der Poesie, wenn sie mathematische und sprachliche Logik zu vereinen sucht. Wem ist es nach Novalis' Diktum gelungen, "unsre Buchstaben Zahlen, unsre Sprache Arythmetik" werden zu lassen? In Inger Christensens "alphabet" schweben die Gedichte nach der Choreographie der Fibonacci-Folge im poetischen Raum. Und in Oskar Pastiors "gewichteten Gedichten" ist jedem Buchstaben von a=1 bis z=26 ein Zahlenwert zugeordnet. Bei Ausnahmekönnern wie diesen balanciert die Poesie auf dem schmalen Grat zwischen Erkenntnis- und Einbildungskraft.
Wenn Judith Zander jetzt ihren zweiten Gedichtband "manual numerale" betitelt und ihn nach einer Zahlenordnung gliedert, reiht sie sich unvermeidlich in diese Tradition ein und verspricht somit Großes: Um der Zahl gegenüber der Sprache den Vorrang zu geben, weist ihr Buch weder Paginierung noch Gedichttitel auf. Stattdessen tragen ihre Texte rote Ziffern. Schnell erschließt sich, dass der Zahlenwert der Verszahl jedes Gedichts entspricht. Zudem zeigt sich, dass die Versziffern auf der linken Buchseite willkürlich zwischen 1 und 31 schwanken. Jene auf der rechten steigen von 1 bis 12. Auf vier Einzeiler folgt ein Quartett von Zweizeilern und so weiter. Allerdings gibt es fünf Terzette und Quartette, je drei Zehn- und Elfzeiler sowie ein isoliertes zwölfzeiliges Gedicht. Unterläuft Zander gekonnt jedes Ordnungsmuster?
Das Zahlenspiel ist aufwendig inszeniert, seine Lösung aber trivial. Fasst man die Gedichte der Doppelseiten jeweils als Paar auf, entpuppen sich die Zahlen schlicht als Datumsangaben: 29 Verse links und drei rechts stehen für den 29. März, zwei links und zehn rechts für den 2. Oktober. Das "manual numerale" führt qua Gedichtpaar durch das Kalenderjahr. Die annoncierte Engführung von Mathematik und Sprache fällt aus. Die formale Herausforderung schrumpft ins Kleinformat: An einem blauen Tag im September dreizehn und neun Verse zu verfassen bleibt vom poetischen Wagnis und der meisterhaften Kunstfertigkeit einer Christensen oder eines Pastior weit entfernt.
Warum führt man die Leser ohne Leitfaden in ein Zahlenlabyrinth, wenn es gar kein intellektuelles Abenteuer zu bestehen gibt? Die Rätselhaftigkeit ohne Geheimnis spiegelt sich in den Versen: "suburbane ablenkungen / sind als substitut-substrat / nicht subtil doch stets probat." Die eingängige Melodie kann nicht verdecken, dass sich das "substitut-substrat" weder zum Bild noch zur Bedeutung fügt. Hat der Band erst seine Balance verloren, sind die Gedichte vor dem Sturz nicht mehr zu bewahren.
CHRISTIAN METZ
Judith Zander: "manual numerale". Gedichte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014. 100 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Judith Zander versucht sich am Dichten nach Zahlen
Es gehört zu den anspruchsvollsten Wagnissen der Poesie, wenn sie mathematische und sprachliche Logik zu vereinen sucht. Wem ist es nach Novalis' Diktum gelungen, "unsre Buchstaben Zahlen, unsre Sprache Arythmetik" werden zu lassen? In Inger Christensens "alphabet" schweben die Gedichte nach der Choreographie der Fibonacci-Folge im poetischen Raum. Und in Oskar Pastiors "gewichteten Gedichten" ist jedem Buchstaben von a=1 bis z=26 ein Zahlenwert zugeordnet. Bei Ausnahmekönnern wie diesen balanciert die Poesie auf dem schmalen Grat zwischen Erkenntnis- und Einbildungskraft.
Wenn Judith Zander jetzt ihren zweiten Gedichtband "manual numerale" betitelt und ihn nach einer Zahlenordnung gliedert, reiht sie sich unvermeidlich in diese Tradition ein und verspricht somit Großes: Um der Zahl gegenüber der Sprache den Vorrang zu geben, weist ihr Buch weder Paginierung noch Gedichttitel auf. Stattdessen tragen ihre Texte rote Ziffern. Schnell erschließt sich, dass der Zahlenwert der Verszahl jedes Gedichts entspricht. Zudem zeigt sich, dass die Versziffern auf der linken Buchseite willkürlich zwischen 1 und 31 schwanken. Jene auf der rechten steigen von 1 bis 12. Auf vier Einzeiler folgt ein Quartett von Zweizeilern und so weiter. Allerdings gibt es fünf Terzette und Quartette, je drei Zehn- und Elfzeiler sowie ein isoliertes zwölfzeiliges Gedicht. Unterläuft Zander gekonnt jedes Ordnungsmuster?
Das Zahlenspiel ist aufwendig inszeniert, seine Lösung aber trivial. Fasst man die Gedichte der Doppelseiten jeweils als Paar auf, entpuppen sich die Zahlen schlicht als Datumsangaben: 29 Verse links und drei rechts stehen für den 29. März, zwei links und zehn rechts für den 2. Oktober. Das "manual numerale" führt qua Gedichtpaar durch das Kalenderjahr. Die annoncierte Engführung von Mathematik und Sprache fällt aus. Die formale Herausforderung schrumpft ins Kleinformat: An einem blauen Tag im September dreizehn und neun Verse zu verfassen bleibt vom poetischen Wagnis und der meisterhaften Kunstfertigkeit einer Christensen oder eines Pastior weit entfernt.
Warum führt man die Leser ohne Leitfaden in ein Zahlenlabyrinth, wenn es gar kein intellektuelles Abenteuer zu bestehen gibt? Die Rätselhaftigkeit ohne Geheimnis spiegelt sich in den Versen: "suburbane ablenkungen / sind als substitut-substrat / nicht subtil doch stets probat." Die eingängige Melodie kann nicht verdecken, dass sich das "substitut-substrat" weder zum Bild noch zur Bedeutung fügt. Hat der Band erst seine Balance verloren, sind die Gedichte vor dem Sturz nicht mehr zu bewahren.
CHRISTIAN METZ
Judith Zander: "manual numerale". Gedichte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014. 100 S., br., 14,90 [Euro].
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Man muss lange suchen, um in der deutschen Gegenwartslyrik so tiefe, originelle und witzige Verse zu finden, wie sie Judith Zander schreibt. Alexander Solloch NDR Kultur 20140913