»Wer war dieser Andrew Marbot, dessen Name kein Lexikon verzeichnet? Er war, so wird uns mitgeteilt, ein englischer Adliger aus dem frühen 19. Jahrhundert, 1801-1830, Ästhetiker und Kunst-Psychologe, der auf erstaunliche Weise Kunsteinsichten Freuds und der Moderne vorwegnahm. Er bereiste Frankreich, Italien und Deutschland, besuchte Goethe in Weimar, kannte Byron und Shelley, Turner und Delacroix, Leopardi, Platen und Schopenhauer. Postum 1834, erschien sein Buch Art and Life, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. Bald fand Marbot seinen ersten Biographen, Hadley-Chase - und wurde dann gründlich vergessen. Zu Unrecht, wie Hildesheimer zeigt. Denn Marbot war auch ein interessanter Charakter, nicht zuletzt durch die inzestuöse Beziehung, die er zu seiner Mutter, Lady Catherine Marbot, unterhielt.« Hanjo Kesting, Frankfurter Rundschau
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2007Die Wirklichkeit erfinden
Wolfgang Hildesheimer: „Marbot. Eine Biographie”
Wie es von gewissen klugen Leuten heißt, dass sie nie geistvoller argumentieren, als wenn sie im Unrecht sind, so hat Wolfgang Hildesheimer nie brillanter, reaktionssicherer, spannungsvoll origineller geschrieben als in „Marbot”, wo er etwas eigentlich Unmögliches versuchte.
Er wollte nämlich eine Biographie erfinden, die den Anspruch erfüllt, „Wirklichkeit” zu sein. Er selbst war erstaunlich überzeugt davon, sein 1801 als privilegierter, reicher englischer Großgrundbesitzersohn geborener Held Andrew Marbot habe tatsächlich gelebt, sei vom Kaplan der Familie, dem holländischen Jesuitenpater Gerardus van Rolsum vielsprachig und vielseitig erzogen worden und dann auf seinen Reisen mit Goethe, Schopenhauer, Leopardi mit zahlreichen zeitgenössischen Künstlern und Malern zusammengetroffen. Hildesheimer lässt bei alledem nicht die geringste historische Unwahrscheinlichkeit zu. Jede Begebenheit könnte genauso passiert sein.
Marbot gewinnt blutjung ein leidenschaftliches Interesse vor allem an bildender Kunst und Künstlern. Da er zu seinem Kummer feststellen muss, selbst kein kreatives Talent zu besitzen, wird er zum umso sensibleren Kunst-Betrachter, Bild-Interpreten, Ästhetik-Theoretiker. Seine Kunst-Schriften machen Marbot unter Kennern berühmt - 1888 erscheint über ihn die erste Biographie.
Da ist er allerdings längst tot. In eine unselige, skandalschwangere Inzestaffäre mit seiner schönen Mutter verstrickt, nahm er sich 29-jährig das Leben.
Die heitere, nie im mindesten parodistische Originalität, mit welcher Hildesheimer hier Reaktionen Goethes, Thomas de Quincey’s, Schopenhauers, Byrons und vieler anderer erfindet, die Interpretationen berühmter Gemälde zwischen Giorgione, Tintoretto, Rembrandt, Delacroix – alle diese genialen Kunst-Stücke machen verständlich, dass Hildesheimer, auf seine fiktive „Biographie” angesprochen, ernsthaft glaubte, damit das Wirkliche bereichert zu haben. Es war alles andere als ein „Scherz” für ihn – nie schrieb er besser, reicher, und dichter. Und das will wahrlich etwas heißen bei einem Autor, der bereits in seinem Erstling, den „Lieblosen Legenden”, meisterhaft mit der Sprache zu spielen und doch zurechtzukommen wusste, der nie stehen blieb bei dem, was er perfekt konnte, sondern immer neue Herausforderungen suchte in „Tynset”, „Masante” und einer Mozart-Biographie, welche ihm die Schwierigkeit hinreichender Durchdringung eines genialen Lebens derart eindringlich vor Augen führte, dass er sich als Antwort darauf eben „Marbot” erwählte. Und zwar mit der Begründung, es sei leichter, einem Talent gerecht zu werden als einem Genie.
Zu den Köstlichkeiten gehören auch mannigfache (fiktive) englische Zitate, die mitgeteilt sowie vom Autor hilfreich übersetzt werden. Sie machen fühlbar, dass Hildesheimer nicht nur wunderbares Deutsch zu schreiben vermochte, sondern auch ein faszinierend anmutiges Englisch. JOACHIM KAISER
Wolfgang Hildesheimer Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Wolfgang Hildesheimer: „Marbot. Eine Biographie”
Wie es von gewissen klugen Leuten heißt, dass sie nie geistvoller argumentieren, als wenn sie im Unrecht sind, so hat Wolfgang Hildesheimer nie brillanter, reaktionssicherer, spannungsvoll origineller geschrieben als in „Marbot”, wo er etwas eigentlich Unmögliches versuchte.
Er wollte nämlich eine Biographie erfinden, die den Anspruch erfüllt, „Wirklichkeit” zu sein. Er selbst war erstaunlich überzeugt davon, sein 1801 als privilegierter, reicher englischer Großgrundbesitzersohn geborener Held Andrew Marbot habe tatsächlich gelebt, sei vom Kaplan der Familie, dem holländischen Jesuitenpater Gerardus van Rolsum vielsprachig und vielseitig erzogen worden und dann auf seinen Reisen mit Goethe, Schopenhauer, Leopardi mit zahlreichen zeitgenössischen Künstlern und Malern zusammengetroffen. Hildesheimer lässt bei alledem nicht die geringste historische Unwahrscheinlichkeit zu. Jede Begebenheit könnte genauso passiert sein.
Marbot gewinnt blutjung ein leidenschaftliches Interesse vor allem an bildender Kunst und Künstlern. Da er zu seinem Kummer feststellen muss, selbst kein kreatives Talent zu besitzen, wird er zum umso sensibleren Kunst-Betrachter, Bild-Interpreten, Ästhetik-Theoretiker. Seine Kunst-Schriften machen Marbot unter Kennern berühmt - 1888 erscheint über ihn die erste Biographie.
Da ist er allerdings längst tot. In eine unselige, skandalschwangere Inzestaffäre mit seiner schönen Mutter verstrickt, nahm er sich 29-jährig das Leben.
Die heitere, nie im mindesten parodistische Originalität, mit welcher Hildesheimer hier Reaktionen Goethes, Thomas de Quincey’s, Schopenhauers, Byrons und vieler anderer erfindet, die Interpretationen berühmter Gemälde zwischen Giorgione, Tintoretto, Rembrandt, Delacroix – alle diese genialen Kunst-Stücke machen verständlich, dass Hildesheimer, auf seine fiktive „Biographie” angesprochen, ernsthaft glaubte, damit das Wirkliche bereichert zu haben. Es war alles andere als ein „Scherz” für ihn – nie schrieb er besser, reicher, und dichter. Und das will wahrlich etwas heißen bei einem Autor, der bereits in seinem Erstling, den „Lieblosen Legenden”, meisterhaft mit der Sprache zu spielen und doch zurechtzukommen wusste, der nie stehen blieb bei dem, was er perfekt konnte, sondern immer neue Herausforderungen suchte in „Tynset”, „Masante” und einer Mozart-Biographie, welche ihm die Schwierigkeit hinreichender Durchdringung eines genialen Lebens derart eindringlich vor Augen führte, dass er sich als Antwort darauf eben „Marbot” erwählte. Und zwar mit der Begründung, es sei leichter, einem Talent gerecht zu werden als einem Genie.
Zu den Köstlichkeiten gehören auch mannigfache (fiktive) englische Zitate, die mitgeteilt sowie vom Autor hilfreich übersetzt werden. Sie machen fühlbar, dass Hildesheimer nicht nur wunderbares Deutsch zu schreiben vermochte, sondern auch ein faszinierend anmutiges Englisch. JOACHIM KAISER
Wolfgang Hildesheimer Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH