24,99 €
inkl. MwSt.

Versandfertig in über 4 Wochen
Produktdetails
  • Folio
  • Verlag: Gallimard Education
  • Seitenzahl: 576
  • Erscheinungstermin: Juli 1999
  • Französisch
  • Abmessung: 182mm x 111mm x 26mm
  • Gewicht: 295g
  • ISBN-13: 9782070409808
  • ISBN-10: 2070409805
  • Artikelnr.: 21563704

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2008

Es werde Proust

Nach zwölf Jahren ist sie endlich fertig: die deutsche Übersetzung von Jean-Yves Tadiés großer Biographie des Schriftstellers Marcel Proust. Hat man die Zeit genutzt, um sie noch zu verbessern?

Von Andreas Platthaus

Das hätte Albert Flament sich nicht träumen lassen. Als er am 5. Januar 1905 von seinem Freund Lucien Daudet zu einem Diner bei Marcel Proust mitgenommen wurde, beschrieb er den Gastgeber als einen "der Männer, die das Französische am besten sprechen, doch nur ganz selten bereit sind, einen schriftlichen Beweis dafür zu liefern". In der Tat: Der damals dreiunddreißigjährige Proust hatte mit Ausnahme des Buchs "Freuden und Tage", das bereits vor neun Jahren erschienen war und von dem bis 1918, also in zweiundzwanzig Jahren sage und schreibe 329 Exemplare regulär verkauft werden sollten, noch nichts Eigenes publiziert. Zwar war 1904 noch Prousts Ruskin-Übersetzung "La Bible d'Amiens" erschienen, doch von dem Großroman "Jean Santeuil", an dem er damals schon seit Jahren schrieb, wusste kaum jemand etwas, und das Buch sollte auch nie beendet werden.

Erst neun Jahre nach dem Diner mit Flament wurde dieser endlich Lügen gestraft. Im November 1913 erschien "Du coté de chez Swann", der erste Teil eines Werks, das Proust berühmt machen sollte: "A la recherche du temps perdu" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Die Idee dazu stand seit 1904 fest; damals schrieb Proust an einen Bekannten: "Es gibt sehr wohl eine mögliche Wiederholung davon, Vergangenheit in Besitz zu nehmen. Man unternimmt sie dann, wenn man den Gang der verzauberten Erinnerungen zurückverfolgt und indem man ein schönes Buch schreibt." Dieses Buch plante er bei Erscheinen des ersten Teils noch als Trilogie, die bereits 1914 abgeschlossen werden sollte. Doch Proust, der mit der Niederschrift dieses großen Projekts bereits 1909 begonnen hatte, arbeitete dreizehn Jahre daran, weitete das Konzept schließlich auf sieben Teile aus und starb darüber. Heute ist der Romanzyklus der "Recherche" Inbegriff der französischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ihren besten Kenner haben Proust wie sein Hauptwerk in dem 1936 geborenen Jean-Yves Tadié gefunden, jenem Mann, der Ende der achtziger Jahre die maßstabsetzende kritische Pléiade-Ausgabe der "Recherche" betreute. An ihr orientieren sich mittlerweile weltweit alle neuen Übersetzungen. 1996 erschien in Frankreich Tadiés lang angekündigte Biographie des Schriftstellers: fast tausend Seiten stark und allein darauf aus zu erklären, wie Proust für seine Bücher aus dem eigenen Leben schöpfte, denn "der Romancier lebt, um zu erzählen", wie der Autor feststellt. Über den Rang dieser Biographie muss man kein Wort verlieren; sie ist in der Flut der internationalen Proust-Studien das allgemein anerkannte Opus magnum, und das nicht nur dem Umfang nach. Eine deutsche Übersetzung war längst überfällig.

Jetzt ist sie da - endlich. Denn ursprünglich hätte Tadiés Buch schon 2004 auf Deutsch erscheinen sollen. Und was heißt da "schon", wo doch Spanier und Engländer beim Übersetzen deutlich schneller waren? Doch 1988 hatte Luzius Keller die "Frankfurter Ausgabe" der Werke Prousts begonnen, in der erstmals sämtliche Prosa auf Deutsch erscheinen und dazu die alte Übersetzung der "Recherche" überarbeitet werden sollte. Als Tadiés Buch im Original erschien, war Kellers Vorhaben schon zur Hälfte fertiggestellt, also entschloss sich der Übersetzer der Biographie, Max Looser, den ganzen umfangreichen französischen Anmerkungsteil auf die "Frankfurter Ausgabe" umzustellen. Dazu aber musste das Erscheinen der vollständigen Reihe abgewartet werden; deren letzter Band, "Hinterlassenes und Wiedergefundenes", erschien dann fünf Jahre später als erwartet, weil die Forschung seit 1988 noch einiges bislang Unbekannte von Proust entdeckt hatte. Und so war das Jahr 2007 erreicht.

Da war Looser schon seit einem Jahr tot. Seine Übersetzung war jedoch fertig. Allerdings hatte er so viel Geschmack an der Überarbeitung des Tadiéschen Anmerkungsapparats gefunden, dass er die schon im Original monumentale Arbeit noch weiter ausbaute. Raimund Fellinger, Cheflektor des Suhrkamp Verlags, nahm sich dann der endgültigen Fertigstellung an, die wiederum ein Jahr benötigte, wobei die größte Mühe sicher in der Rückführung der deutschen Anmerkungen auf ein vertretbares Maß bestand.

Mehr als 250 äußerst klein gedruckte Seiten füllen sie indes immer noch - allerdings finden sich dort auch höchst nützliche und bisweilen amüsante Informationen. Hätten wir sonst je erfahren, dass Prousts Sekretär Albert Nahmias im Manuskript der "Recherche" einmal "cul" (Hintern) statt "cou" (Hals) las, was ihn angesichts der damit verbundenen Kuss-Szene zu der Randbemerkung "Oh, lieber Marcel!" hinriss? Er wusste nur zu gut von den homoerotischen Avancen des Arbeitgebers, der seine engsten Mitarbeiter eher nach Aussehen als nach Befähigung einstellte. Andererseits wies Proust einen Freund, der ihm Bücher von Magnus Hirschfeld schenken wollte, brüsk ab (auch dieses Faktum findet sich im Anmerkungsteil), weil ihm Homosexualität an sich als "nervliche Perversion mit kompensierenden Überlegenheiten" galt.

Die Anmerkungen sind aber auch das geeignete Forum für Tadié, um eigene Enttäuschungen bei der Arbeit an der Biographie anzudeuten. Zur Schelte von Proust gegenüber Autographensammlern, die ihre Schätze nicht zugänglich machten, bemerkt Tadié im Anhang bitter-lapidar: "Wir kennen einige Herren, die sich so verhalten." Der Schmerz über jedes ihm vorenthaltene Schriftstück ist spürbar, auch wenn Proust zum Ende seines Lebens hin die eigenen Korrespondenzpartner schriftlich angewiesen hatte, all seine Briefe zu vernichten. Die Aussicht, selbst als Person zum Gegenstand von Lektüre zu werden, war dem Romancier ein Graus. Über diese Empfindlichkeit indes muss sich auch der bewunderndste Biograph (und das ist Tadié allemal) hinwegsetzen, und mit einer entsprechenden Rechtfertigung hält er sich denn auch gar nicht erst auf.

Leider merkt man den deutschen Anmerkungen an, dass zuletzt nicht mehr der große Experte Looser am Werk war. Ihm wäre zum Beispiel nicht entgangen, dass ein von Tadié noch nach der in diesem Fall unvollständigen Briefausgabe zitiertes Proust-Schreiben an Lucien Daudet aus dem Jahr 1916 mittlerweile in voller Länge publiziert wurde: im Programm zum Internationalen Symposion "Marcel Proust und die Korrespondenz", das 2007 in Münster stattfand. Wie überhaupt der Bestand einer der wichtigsten privaten Proust-Autographensammlungen, der erst in jüngerer Zeit zusammengetragenen Bibliotheca Proustiana von Reiner Speck, unberücksichtigt blieb - unverständlich für einen Verlag, in dessen Haus auch die Publikationen der von Speck geleiteten deutschen Proust-Gesellschaft erscheinen.

Wie steht es sonst um die Qualität der deutschen Übersetzung? Einige Schnitzer sind enthalten, so eine Fehldatierung um neun Jahre durch einen Zahlendreher oder eine erstaunlich ungelenk formulierte Passage zu Prousts Interesse an der Eulenburg-Affäre im wilhelminischen Deutschland des Jahres 1907. Ihn faszinierte die Debatte um die Homosexualität des Kaiser-Intimus Philipp zu Eulenburg-Hertefeld. Die bei Tadié im Original enthaltene Fehlinformation, dass im Januar 1908 im Zuge dieser Affäre ein zweiter Prozess stattgefunden habe, wurde von der Übersetzung noch weiter verfälscht, indem sie behauptet, dass dieses Verfahren von Maximilian Harden gegen Kuno von Moltke angestrengt und schließlich der Kläger Harden verurteilt worden sei (eine juristische Unmöglichkeit). Dabei fand der Prozess im Dezember 1907 statt, und Harden war natürlich der Beklagte, den Moltke wegen Verleumdung bestraft sehen wollte.

Auch nicht geändert wurde Tadiés Seufzer, dass das Tagebuch des engen Proust-Freundes Reynaldo Hahn "erst in vierzig Jahren" zugänglich sein werde - das galt aber nur für das Jahr 1996. Heute sind es nur noch achtundzwanzig Jahre Wartezeit. Und geradezu hanebüchen ist die wörtliche Übersetzung von Tadiés Feststellung, dass Prousts Antwort auf die Frage, für welche Fehler er am ehesten Verständnis habe, "in sechs Wörtern ein Vorgefühl, ein Bekenntnis, ein Programm, eine Ästhetik" enthalte. Aber diese Antwort, "pour la vie privée des génies", besteht eben nur im Französischen aus sechs Wörtern; in der deutschen Ausgabe der Biographie stehen da fünf: "für das Privatleben der Genies".

Tadiés meisterhafter, unendlich akribischer Studie, die sich streckenweise selbst wie ein Roman liest, nehmen diese kleinen Mängel natürlich kein Jota. Proust notierte nicht ohne Stolz in einem seiner Notizbücher über die vielfältigen realen Vorbilder für die Figuren in der "Recherche": "Ein Buch ist ein großer Friedhof, wo man auf den meisten Gräbern die verwischten Namen nicht mehr lesen kann." Tadié aber identifiziert, was und wen es überhaupt zu identifizieren gibt. Dafür kann man ihm nicht genug danken. Denn wenn vom zwanzigsten Jahrhundert ein Roman bleiben wird, so ist es Prousts "Recherche". Und wenn man dazu ein Buch lesen sollte, dann das von Tadié.

- Jean-Yves Tadié: "Marcel Proust". Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Max Looser. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 1266 S., 58 Abb., geb., 68,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr