Uwe Wittstock, ein glänzender Journalist und profunder Kenner des Literaturbetriebs, erzählt das Leben Marcel Reich-Ranickis. Sein Buch, das zahlreiche Neuigkeiten enthält, beruht auf Gesprächen mit Reich-Ranicki selbst, aber auch mit Weggefährten wie Günter Grass, Joachim Fest und Walter Jens. Einfühlsam, aber nicht unkritisch nähert sich Wittstock einem Mann, den einst die Nazis verfolgten und der später zu einer prägenden Gestalt der deutschen Nachkriegskultur wurde.
"Literatur ist ein Spiel, man soll sie nicht so bierernst nehmen."
Marcel Reich-Ranicki
"Reich-Ranicki selbst hat in "Mein Leben" genau und offen Auskunft gegeben. Wittstock kann aber ergänzen. Motivationen aufdecken, die Reich-Ranicki selber nicht bewusst waren oder die er verschweigen wollte. Und der Biograf kann die Geschichte weitererzählen."
Focus
"Wittstocks Buch praktiziert auf beeindruckende Weise die journalistischen Tugenden einer lebendigen und illustrativen Schreibweise und der sorgfältigen Recherche." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Literatur ist ein Spiel, man soll sie nicht so bierernst nehmen."
Marcel Reich-Ranicki
"Reich-Ranicki selbst hat in "Mein Leben" genau und offen Auskunft gegeben. Wittstock kann aber ergänzen. Motivationen aufdecken, die Reich-Ranicki selber nicht bewusst waren oder die er verschweigen wollte. Und der Biograf kann die Geschichte weitererzählen."
Focus
"Wittstocks Buch praktiziert auf beeindruckende Weise die journalistischen Tugenden einer lebendigen und illustrativen Schreibweise und der sorgfältigen Recherche." Frankfurter Allgemeine Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.06.2015Das Geschenk der Kritik
Eine Ausstellung unbekannter Fotos und Dokumente begleitet die
Neuausgabe von Uwe Wittstocks Biografie Marcel Reich-Ranickis
VON VOLKER BREIDECKER
Was ihn vor dem Tod am meisten schrecke, sei „die Gewissheit, nicht mehr die Zeitung des nächsten Tages lesen zu können“. Marcel Reich-Ranicki hatte noch ein Jahr zu leben, als er dies im September 2012 seinem Biografen Uwe Wittstock anvertraute. Unzählige Ausschnitte aus Zeitungen vergangener Tage bekleiden im langgezogenen Foyer einer Ausstellung des Literaturarchivs der Goethe-Universität zwei gegenüberliegende Wände: Es ist eine Auswahl aus Tausenden von Kritiken, die MRR seit den späten fünfziger Jahren für die Feuilletons von FAZ und ZEIT verfasst hatte, anfangs als freier Mitarbeiter, dann von 1973 bis 1988 – nach einem langjährigen Hamburger Zwischenspiel – als Literaturchef, der das Frankfurter Blatt auch nach seiner Pensionierung weiter mit seinen Beiträgen bediente.
„Nichts für Eilige“ steht als Überschrift auf dem Faksimile eines langen literaturkritischen Grundsatzartikels vom Herbst 1977. Als wäre dies das Programm schlechthin, Anweisung sowohl an die Lektüre als auch an die Literatur und ihre Kritik, nimmt der Parcours hier seinen Ausgang. Es ist das Verdienst dieser kleinen, intimen Ausstellung den zuweilen schrillen „Popstar der Kritik“ wieder auf seine angestammte Bühne , das geschriebene und gedruckte Wort zurückzubringen. MRR selbst hatte noch die erste Sendung des „Literarischen Quartetts“ – in Unkenntnis kommender Erfolgsquoten und des einhergehenden Klamauks – mit der nüchternen Publikumsadresse eröffnet: „Dies ist keine Talkshow! Was wir Ihnen zu bieten haben, sind Worte, Worte, Worte.“
Bilder aus Marcel Reich-Ranickis und seiner Ehefrau Teofilas wechselvollem Leben liefert auch die Ausstellung: Über zweihundert unbekannte Fotos aus den Familienalben hat der in England aufgewachsene Sohn Andrew beigesteuert. Sie füllen ihrerseits eine lange Wand und dokumentieren das zweite Leben des Paares, das der Ermordung nur knapp entkommen war: Angefangen bei der Wiederbegegnung von Überlebenden im Warschau des Jahres 1946 und der Wiederbegehung des zerstörten Ghettos über die Stationen London, Hamburg, Frankfurt und die mit Verwandten oder Freunden bereisten Ferienziele bis zu den wohl letzten Szenen des Abschieds im Terminal eines Flughafens. Auch vor den Wänden steht der Besucher dem eher privaten Ambiente eines sonst „öffentlichen Menschen“ gegenüber: Der Sohn hat auch den schweren Ledersessel des Vaters gestiftet, vormals Mittelpunkt des Hauses, darin sich die Besucher niederlassen können. Und wie bei Reich-Ranickis vormals zu Hause ist die Wand dahinter mit der Sammlung von Karikaturen aus Künstler- und Autorenhänden in Faksimiles geschmückt. Nicht weit davon steht der noch aus kargen Hamburger Jahren stammende schlichte, stark abgenutzte Schreibtisch, dazwischen zwei Ablagen mit namhaft betitelten Kladden, die Schriftstücke und Dossiers zu vier Autoren enthalten: Grass und Walser, Heine und Kafka.
„Mir Angst machen“, heißt es zum Beispiel auf einem Blatt mit der Kompilation von Zitaten aus Kafkas Briefen, „das ist wie Eulen nach Athen tragen.“ Die Angst des Verfolgten vor der Vernichtung, des Opfers vor den Tätern und ihren Landsleuten, die Angst des einsamen Außenseiters, des Nirgends-Zugehörigen vor dem Ausschluss aus sozialen und anderen menschlichen Bindungen, die Angst vor der Verweigerung oder dem Entzug der Anerkennung – das Ensemble der Ängste und die zugrunde liegenden Traumata sind auch Schlüsselthemen von Wittstocks Biografie. Für die Neuausgabe nach zehn Jahren hat der ehemalige Mitarbeiter von MRR und heutige Literaturredakteur des Focus das Buch überarbeitet, aktualisiert und um die Schilderung der letzten Lebensjahre ergänzt. Mehr als in der Erstausgabe, die schwächer wurde, je mehr sich der Autor der mit seinem einstigen Chef geteilten Gegenwart ostentativ nähert, bemüht sich Wittstock diesmal um eine Historisierung im Wechsel von Binnenperspektive, die sich auf die Autobiografie „Mein Leben“ zu stützen weiß, und Außenperspektive, deretwegen er mit vielen Zeitzeugen, Freunden und unversöhnlichen Feinden, Gespräche geführt hat.
Freilich neigt Wittstock überall da, wo MRR einst entweder polarisierte oder selbst bemüht war, Konfliktzonen „kleinzureden“, zur Milderung und Verharmlosung. Der Mann, von dem der Briefpartner Peter Rühmkorf sagte, er sei „ein besonders seltsam innerviertes Subjekt, fast möchte ich sagen, ein zart besaitetes, das sich der eigenen Sache keineswegs immer derart bombensicher war, wie es öffentlich den Anschein haben mochte“, hatte mehr Gesichter, als Wittstock zulässt. Sein wichtigstes Anliegen versteht der Autor gleichwohl plausibel zu machen: Die kulturelle Bedeutung der von dem einst verfolgten Juden gegen alle Ressentiments und Anfeindungen restituierten Form der Kritik.
Kritik, wie sie in Deutschland lange Zeit verfemt und diffamiert wurde, Kritik als Vehikel von Literatur und humanem Geist: Dies war MRRs Geschenk an die Deutschen, das er selbst denjenigen, die keine Leser von anspruchsvoller Literatur waren, bis in ihre Wohnzimmer brachte. Mit dieser Kulturleistung aber ist die Messlatte für vermeintliche Wiedergänger in unerreichbarer Höhe angebracht. Aber schon in Wittstocks Buch franst die Intention dort aus, wo – dies zeigt auch der Vergleich der Neu- zur Erstausgabe – der Literaturbetrieb und alles, was medial, sprachlich oder personell daran hängt oder ihn ausfüllt, die Oberhand über die Literatur gewinnt.
Am Dienstag dieser Woche wäre Marcel Reich-Ranicki 95 Jahre alt geworden.
Sein Leben in unbekannten Fotos und Dokumenten. Eine Ausstellung des Literaturarchivs der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dantestraße 9, bis 30. Juni.
Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biographie. Blessing Verlag, München 2015, 429 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
„Mir Angst machen,
das ist wie Eulen nach
Athen tragen“
In dieser Woche hätte der
Kritiker MRR
seinen 95. Geburtstag gefeiert
Blicke, die zu denken geben: Marcel Reich-Ranicki (links) und Walter Jens 1967 auf Sylt.
Foto: Privatarchiv
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Ausstellung unbekannter Fotos und Dokumente begleitet die
Neuausgabe von Uwe Wittstocks Biografie Marcel Reich-Ranickis
VON VOLKER BREIDECKER
Was ihn vor dem Tod am meisten schrecke, sei „die Gewissheit, nicht mehr die Zeitung des nächsten Tages lesen zu können“. Marcel Reich-Ranicki hatte noch ein Jahr zu leben, als er dies im September 2012 seinem Biografen Uwe Wittstock anvertraute. Unzählige Ausschnitte aus Zeitungen vergangener Tage bekleiden im langgezogenen Foyer einer Ausstellung des Literaturarchivs der Goethe-Universität zwei gegenüberliegende Wände: Es ist eine Auswahl aus Tausenden von Kritiken, die MRR seit den späten fünfziger Jahren für die Feuilletons von FAZ und ZEIT verfasst hatte, anfangs als freier Mitarbeiter, dann von 1973 bis 1988 – nach einem langjährigen Hamburger Zwischenspiel – als Literaturchef, der das Frankfurter Blatt auch nach seiner Pensionierung weiter mit seinen Beiträgen bediente.
„Nichts für Eilige“ steht als Überschrift auf dem Faksimile eines langen literaturkritischen Grundsatzartikels vom Herbst 1977. Als wäre dies das Programm schlechthin, Anweisung sowohl an die Lektüre als auch an die Literatur und ihre Kritik, nimmt der Parcours hier seinen Ausgang. Es ist das Verdienst dieser kleinen, intimen Ausstellung den zuweilen schrillen „Popstar der Kritik“ wieder auf seine angestammte Bühne , das geschriebene und gedruckte Wort zurückzubringen. MRR selbst hatte noch die erste Sendung des „Literarischen Quartetts“ – in Unkenntnis kommender Erfolgsquoten und des einhergehenden Klamauks – mit der nüchternen Publikumsadresse eröffnet: „Dies ist keine Talkshow! Was wir Ihnen zu bieten haben, sind Worte, Worte, Worte.“
Bilder aus Marcel Reich-Ranickis und seiner Ehefrau Teofilas wechselvollem Leben liefert auch die Ausstellung: Über zweihundert unbekannte Fotos aus den Familienalben hat der in England aufgewachsene Sohn Andrew beigesteuert. Sie füllen ihrerseits eine lange Wand und dokumentieren das zweite Leben des Paares, das der Ermordung nur knapp entkommen war: Angefangen bei der Wiederbegegnung von Überlebenden im Warschau des Jahres 1946 und der Wiederbegehung des zerstörten Ghettos über die Stationen London, Hamburg, Frankfurt und die mit Verwandten oder Freunden bereisten Ferienziele bis zu den wohl letzten Szenen des Abschieds im Terminal eines Flughafens. Auch vor den Wänden steht der Besucher dem eher privaten Ambiente eines sonst „öffentlichen Menschen“ gegenüber: Der Sohn hat auch den schweren Ledersessel des Vaters gestiftet, vormals Mittelpunkt des Hauses, darin sich die Besucher niederlassen können. Und wie bei Reich-Ranickis vormals zu Hause ist die Wand dahinter mit der Sammlung von Karikaturen aus Künstler- und Autorenhänden in Faksimiles geschmückt. Nicht weit davon steht der noch aus kargen Hamburger Jahren stammende schlichte, stark abgenutzte Schreibtisch, dazwischen zwei Ablagen mit namhaft betitelten Kladden, die Schriftstücke und Dossiers zu vier Autoren enthalten: Grass und Walser, Heine und Kafka.
„Mir Angst machen“, heißt es zum Beispiel auf einem Blatt mit der Kompilation von Zitaten aus Kafkas Briefen, „das ist wie Eulen nach Athen tragen.“ Die Angst des Verfolgten vor der Vernichtung, des Opfers vor den Tätern und ihren Landsleuten, die Angst des einsamen Außenseiters, des Nirgends-Zugehörigen vor dem Ausschluss aus sozialen und anderen menschlichen Bindungen, die Angst vor der Verweigerung oder dem Entzug der Anerkennung – das Ensemble der Ängste und die zugrunde liegenden Traumata sind auch Schlüsselthemen von Wittstocks Biografie. Für die Neuausgabe nach zehn Jahren hat der ehemalige Mitarbeiter von MRR und heutige Literaturredakteur des Focus das Buch überarbeitet, aktualisiert und um die Schilderung der letzten Lebensjahre ergänzt. Mehr als in der Erstausgabe, die schwächer wurde, je mehr sich der Autor der mit seinem einstigen Chef geteilten Gegenwart ostentativ nähert, bemüht sich Wittstock diesmal um eine Historisierung im Wechsel von Binnenperspektive, die sich auf die Autobiografie „Mein Leben“ zu stützen weiß, und Außenperspektive, deretwegen er mit vielen Zeitzeugen, Freunden und unversöhnlichen Feinden, Gespräche geführt hat.
Freilich neigt Wittstock überall da, wo MRR einst entweder polarisierte oder selbst bemüht war, Konfliktzonen „kleinzureden“, zur Milderung und Verharmlosung. Der Mann, von dem der Briefpartner Peter Rühmkorf sagte, er sei „ein besonders seltsam innerviertes Subjekt, fast möchte ich sagen, ein zart besaitetes, das sich der eigenen Sache keineswegs immer derart bombensicher war, wie es öffentlich den Anschein haben mochte“, hatte mehr Gesichter, als Wittstock zulässt. Sein wichtigstes Anliegen versteht der Autor gleichwohl plausibel zu machen: Die kulturelle Bedeutung der von dem einst verfolgten Juden gegen alle Ressentiments und Anfeindungen restituierten Form der Kritik.
Kritik, wie sie in Deutschland lange Zeit verfemt und diffamiert wurde, Kritik als Vehikel von Literatur und humanem Geist: Dies war MRRs Geschenk an die Deutschen, das er selbst denjenigen, die keine Leser von anspruchsvoller Literatur waren, bis in ihre Wohnzimmer brachte. Mit dieser Kulturleistung aber ist die Messlatte für vermeintliche Wiedergänger in unerreichbarer Höhe angebracht. Aber schon in Wittstocks Buch franst die Intention dort aus, wo – dies zeigt auch der Vergleich der Neu- zur Erstausgabe – der Literaturbetrieb und alles, was medial, sprachlich oder personell daran hängt oder ihn ausfüllt, die Oberhand über die Literatur gewinnt.
Am Dienstag dieser Woche wäre Marcel Reich-Ranicki 95 Jahre alt geworden.
Sein Leben in unbekannten Fotos und Dokumenten. Eine Ausstellung des Literaturarchivs der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dantestraße 9, bis 30. Juni.
Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biographie. Blessing Verlag, München 2015, 429 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
„Mir Angst machen,
das ist wie Eulen nach
Athen tragen“
In dieser Woche hätte der
Kritiker MRR
seinen 95. Geburtstag gefeiert
Blicke, die zu denken geben: Marcel Reich-Ranicki (links) und Walter Jens 1967 auf Sylt.
Foto: Privatarchiv
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
'Literatur ist ein Spiel, man soll sie nicht so bierernst nehmen.'