Wenn die Lehrerin in die Dorfschneiderei kommt, um sich von der Großmutter "was Neues" nähen zu lassen, sitzt deren Enkel im Stoffballenversteck und sieht gebannt zu. Es wäre sterbenslangweilig auf dieser Welt, gäbe es die Anproben nicht - und nicht die Geburtstage und Besuche der Verwandtschaft, bei denen mit Leidenschaft Nachbarn, Müllers Kuh, Kartoffelernte und Familienmitglieder durchgenommen werden. Oder, nach drei Gläschen, Marcel. Marcel, der nie heimgekehrt ist nach Flandern in seiner schwarzen Uniform und im Silberrahmenfoto einmal die Woche sorgfältig abgestaubt wird, ruiniert die Feststimmung gründlich. Schnell werden Rechnungen aufgemacht, wer wen damals "an die Deutschen verkauft" hat und "deswegen heute Mercedes fährt" - aber warum lasst ihr Marcel nicht in Ruh, fragt der Enkel die Großmutter, und die sagt, ach, das ist eine ganz besondere Geschichte mit meinem Bruder. Erwin Mortiers preisgekrönter Roman erzählt von einer Familie, die nicht zueinanderkommt wegen "dieser schiefen Vergangenheit", und von einem Jungen, der alles tut, um hinter Marcels Geheimnis, hinter die Geheimnisse der Erwachsenen zu kommen. Mit Marcel ist Mortier ein "sprachliches Meisterwerk" gelungen und das Kunststück, ein verschlafenes Dorf und eine sehr wache Großmutter auf 150 Seiten zum Mittelpunkt der Welt zu machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2001Wo ist Marcel?
Briefbegräbnis: Erwin Mortier sucht und wird nicht fündig
Jeden Freitag ist Allerseelen. Dann werden die Fotos der toten Verwandten abgestaubt und, falls nötig, umgestellt. Denn in der Vitrine regiert nicht der Zufall, sondern die Großmutter. Sie bestimmt über den angemessenen Platz: Hölle, Paradies oder Fegefeuer - im Wohnzimmerschrank ist Unordnung tabu.
Bei diesem Totenpflege-Ritual assistiert der Enkelsohn, ein Knabe zwischen Sandkasten und Pubertät. Aus seiner Sicht wird das Leben rund um die Vitrine erzählt. Dabei erfährt man viel von der Großmutter, weniger vom Großvater und von den beiden zerstrittenen Sippen. Dazwischen tauchen immer wieder die Verstorbenen auf, mal als Portraits, mal als Protagonisten sonderbarer Krankengeschichten oder auch als Regenmäntel unterm Dach (dem geheimen Versteck des Erzählers). All diese Toten scheinen zum Leben des Enkels zu gehören. Mit einer Ausnahme: Marcel.
"Marcel wie aus dem Gesicht geschnitten . . ." Ein sterbender Verwandter führt den Leser endlich auf die entscheidende Spur - nach gut der Hälfte des Romans. Natürlich ist man wegen des Titels von Anfang an aufmerksam auf diese Figur. Doch leider bleibt das Geheimnis um Marcel allzusehr im Dunkeln. Man würde schon gern mehr von diesem verschollenen Bruder der Großmutter (mithin dem Großonkel des Erzählers) erfahren als bloß die Beschreibung zweier Fotos und eines alten Koffers, zwei Bemerkungen über seine Ideale im Krieg und den Inhalt seines letzten Briefes vor dem Abmarsch an die Front.
Vor allem wüßte man gar zu gern, welche Bedeutung all dies für den Ich-Erzähler hat. Nur ein einziges Mal gewährt dieser einen Einblick in sein Seelenleben: Als er von den Schritten in der Nacht berichtet, die ihn am Einschlafen hindern und in ihm die Sehnsucht nach Feen wecken, damit man draufloswünschen könnte - und "Marcel fände seine Ruhe und brauchte nicht mehr umherzuirren oder haltzumachen vor meiner Tür, totenstill, eifersüchtig auf mich, der ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bin (bis auf die Augen meiner Mutter)".
Warum aber behauptet er später, der Dachboden gehöre ihm - und Marcel? Und was hält er eigentlich von jenem Brief, in dem der Kamerad SS Grenadier Marcel Ornelis bekennt, wofür er kämpfe: "Für unser Flandern, und nicht für den Schnurrbart?" Wer ist dieser Marcel für ihn - ein Vorbild, ein Verbündeter oder doch eher ein unheimliches Phantom?
Von seinen Gedanken erfährt man fast nichts. Nur die ausführlichen Beschreibungen der weißen Schenkel der Lehrerin verraten die ersten sexuellen Empfindungen des Knaben. Allerdings ist diese Nebengeschichte ziemlich peinlich geraten. Insbesondere auf jenes "prasselnde Duett" in der Schultoilette hätte man wirklich gern verzichtet.
Am Ende schaufelt der Erzähler dem letzten Brief Marcels ein Grab. Nun ist er es - und einmal nicht die Großmutter -, der dem Toten, dessen Grab keiner kennt, einen Platz zuweist. Das allerdings ist auch schon das einzige, was sich hier gegenüber dem Anfang entwickelt hat. Für einen Roman ist das ein bißchen wenig.
SUSANNE STAERK
Erwin Mortier: "Marcel". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 150 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Briefbegräbnis: Erwin Mortier sucht und wird nicht fündig
Jeden Freitag ist Allerseelen. Dann werden die Fotos der toten Verwandten abgestaubt und, falls nötig, umgestellt. Denn in der Vitrine regiert nicht der Zufall, sondern die Großmutter. Sie bestimmt über den angemessenen Platz: Hölle, Paradies oder Fegefeuer - im Wohnzimmerschrank ist Unordnung tabu.
Bei diesem Totenpflege-Ritual assistiert der Enkelsohn, ein Knabe zwischen Sandkasten und Pubertät. Aus seiner Sicht wird das Leben rund um die Vitrine erzählt. Dabei erfährt man viel von der Großmutter, weniger vom Großvater und von den beiden zerstrittenen Sippen. Dazwischen tauchen immer wieder die Verstorbenen auf, mal als Portraits, mal als Protagonisten sonderbarer Krankengeschichten oder auch als Regenmäntel unterm Dach (dem geheimen Versteck des Erzählers). All diese Toten scheinen zum Leben des Enkels zu gehören. Mit einer Ausnahme: Marcel.
"Marcel wie aus dem Gesicht geschnitten . . ." Ein sterbender Verwandter führt den Leser endlich auf die entscheidende Spur - nach gut der Hälfte des Romans. Natürlich ist man wegen des Titels von Anfang an aufmerksam auf diese Figur. Doch leider bleibt das Geheimnis um Marcel allzusehr im Dunkeln. Man würde schon gern mehr von diesem verschollenen Bruder der Großmutter (mithin dem Großonkel des Erzählers) erfahren als bloß die Beschreibung zweier Fotos und eines alten Koffers, zwei Bemerkungen über seine Ideale im Krieg und den Inhalt seines letzten Briefes vor dem Abmarsch an die Front.
Vor allem wüßte man gar zu gern, welche Bedeutung all dies für den Ich-Erzähler hat. Nur ein einziges Mal gewährt dieser einen Einblick in sein Seelenleben: Als er von den Schritten in der Nacht berichtet, die ihn am Einschlafen hindern und in ihm die Sehnsucht nach Feen wecken, damit man draufloswünschen könnte - und "Marcel fände seine Ruhe und brauchte nicht mehr umherzuirren oder haltzumachen vor meiner Tür, totenstill, eifersüchtig auf mich, der ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bin (bis auf die Augen meiner Mutter)".
Warum aber behauptet er später, der Dachboden gehöre ihm - und Marcel? Und was hält er eigentlich von jenem Brief, in dem der Kamerad SS Grenadier Marcel Ornelis bekennt, wofür er kämpfe: "Für unser Flandern, und nicht für den Schnurrbart?" Wer ist dieser Marcel für ihn - ein Vorbild, ein Verbündeter oder doch eher ein unheimliches Phantom?
Von seinen Gedanken erfährt man fast nichts. Nur die ausführlichen Beschreibungen der weißen Schenkel der Lehrerin verraten die ersten sexuellen Empfindungen des Knaben. Allerdings ist diese Nebengeschichte ziemlich peinlich geraten. Insbesondere auf jenes "prasselnde Duett" in der Schultoilette hätte man wirklich gern verzichtet.
Am Ende schaufelt der Erzähler dem letzten Brief Marcels ein Grab. Nun ist er es - und einmal nicht die Großmutter -, der dem Toten, dessen Grab keiner kennt, einen Platz zuweist. Das allerdings ist auch schon das einzige, was sich hier gegenüber dem Anfang entwickelt hat. Für einen Roman ist das ein bißchen wenig.
SUSANNE STAERK
Erwin Mortier: "Marcel". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 150 S., geb., 29,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nach Hans-Peter Kunisch ist Mortier hier ein "Bildungsroman eines kleinen Jungen" geglückt. Doch zunächst werde der Leser im Unklaren darüber gelassen, um welches Thema es hier in erster Linie geht. Dies kristallisiert sich, so Kunisch, erst nach und nach heraus, was er jedoch als besondere "Erzähl-Raffinesse" Mortiers betrachtet. Denn der Kinderblick des Jungen Marcel registriert auf seine eigene Weise die Spätfolgen sowohl der Kollaboration wie des Widerstands im Zweiten Weltkrieg, von denen das belgische Dorf bis in die siebziger Jahre hinein geprägt war. Dass der kleine Marcel dabei eine "weitgehend wertungsfreie Offenheit" zeigt, gehört für Kunisch zu den ausgemachten Stärken dieses Buchs, weil der Leser dadurch die Möglichkeit hat, seinen Unsicherheiten zu folgen, bald darauf aber auch "ein paar klare Fronten verschwinden" zu sehen. Insgesamt sei es Mortier gelungen, die belgische Vergangenheit und auch die Kollaboration, die die Stimmung im Land noch lange belastet hat, "undogmatisch neu in den Blick" zu nehmen. "Man möchte weiter lesen", findet Kunisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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