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Marcello Piacentini (1881-1960) gilt als der einflussreichste italienische Architekt des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Piazza della Vittoria in Brescia, die Via Roma in Turin oder der römische Stadtteil EUR wurden zu Ikonen des architektonischen Städtebaus. Trotzdem ist Piacentini in Deutschland - wenn überhaupt - nur als 'Architekt Mussolinis' bekannt. Christine Beese zeigt in ihrer Studie, dass es sich lohnt, den 'Dämonen' der italienischen Architekturgeschichte genauer zu betrachten. Denn trotz aller nationalistischen Rhetorik entwickelte Piacentini seine städtebaulichen Positionen im…mehr

Produktbeschreibung
Marcello Piacentini (1881-1960) gilt als der einflussreichste italienische Architekt des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Piazza della Vittoria in Brescia, die Via Roma in Turin oder der römische Stadtteil EUR wurden zu Ikonen des architektonischen Städtebaus. Trotzdem ist Piacentini in Deutschland - wenn überhaupt - nur als 'Architekt Mussolinis' bekannt. Christine Beese zeigt in ihrer Studie, dass es sich lohnt, den 'Dämonen' der italienischen Architekturgeschichte genauer zu betrachten. Denn trotz aller nationalistischen Rhetorik entwickelte Piacentini seine städtebaulichen Positionen im Kontext internationaler Leitbilder. Mit ihrer Arbeit hinterfragt die Autorin somit gängige Vorstellungen 'diktatorischen Städtebaus' und liefert einen wichtigen Beitrag zur europäischen Stadtbaugeschichte des 20. Jahrhunderts.
Autorenporträt
Die Autorin: Christine Beese ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin. Lehre und Forschung zur europäischen Architekturgeschichte, Publikationen zu Architektur und Städtebau in Italien und Deutschland im 20. Jahrhundert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2016

Mussolinis unwilliger Vollstrecker

Er wirkte mäßigend auf die Bauwut der italienischen Faschisten ein: Christine Beese zeichnet nach, wie Marcello Piacentini zu einer prägenden Figur des modernen Städtebaus wurde.

Wenn die ästhetische Wucht von Kunstwerken die politische Verkommenheit ihrer Urheber übertrifft, kann man sich an das Verdikt von Péter Esterházy über den französischen Antisemiten Louis-Ferdinand Céline halten: "Was für ein beschissener Mensch, was für ein großer Schriftsteller." Ähnliches ließe sich über Baukünstler sagen, die großartige Häuser für böse Menschen entwerfen, wie es Marcello Piacentini für die italienischen Faschisten tat. Doch ihm die Verdorbenheit Mussolinis vorzuhalten, so urteilte der Historiker und Architekt Paolo Portoghesi, sei genauso falsch, als würde man Bernini anklagen, für den Papst gebaut zu haben, der Galileo verdammt hat.

Mit dieser munteren Provokation eröffnet Christine Beese ihre Dissertation über den einflussreichsten italienischen Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts, der mit seinen Arbeiten einen neuen Nationalstil geschaffen und von Rom aus ganz Italien geprägt hat. Marcello Piacentini (1881 bis 1960), ein Autodidakt aus einer einflussreichen römischen Architektenfamilie, begann seine Laufbahn mitten im Gründungsfieber, das der Ausbau des seit Jahrhunderten stillstehenden Rom zur Hauptstadt des geeinten Königreichs ausgelöst hatte. Während viele Jungarchitekten um 1900 die Axt an die historischen Quartiere legen und das Labyrinth am Tiber zu einem modernen administrativen Zentrum umbauen wollten, plädierte Piacentini für die Bewahrung des Bauerbes und die Erweiterung Roms durch Neustädte.

Den großen Maßstab konnte er als Gesamtplaner für die Weltausstellung 1911 in Rom und auf der Expo 1915 in San Francisco üben, wo er ein italienisches Städtchen entwarf. Gemäß der Parole "Rom ans Meer" trieb er den Ausbau der Hafenstadt Ostia voran und schuf damit die Ouvertüre für das gigantische Kolonisierungsprojekt, das Mussolini später in Form von fünf Neustädten in die Pontinischen Sümpfe stampfen ließ. Nach Piacentinis modern-monumentalen Entwürfen wurde ebenfalls die Universitätsstadt am Hauptbahnhof und die Ausstellungsstadt EUR im Süden errichtet, die dank seiner majestätischen Achsenplanung der Via Cristoforo Colombo gut angebunden ist und bis heute floriert.

Hinzu kamen Plätze mit Triumphbögen und Prachtstraßen von Bergamo bis Bari, die mit ihrem neusachlichen Kältepathos zum obersten baukulturellen Erbe Italiens gehören. Ihre weltweit wohl einzigartige Synthese aus traditionellem Städtebau und scharfkantiger Architekturmoderne verdanken die italienischen Städte vor allem Piacentini.

Während die werkmonographischen Teile der Piacentini-Studie überaus opulent ausfallen und auch sämtliche unrealisierten Projekte aufführen, bleiben der Meister, seine Auftraggeber und auch die politische Physiognomie des Faschismus wenig greifbar. Sicher ist nur, dass Piacentini - anders als der deutsche Generalbauinspektor Albert Speer - niemals ein staatliches Amt besaß. Stattdessen agierte der Römer in Verbänden, Jurys, Kommissionen sowie als gut vernetzter Privatarchitekt für mächtige Investoren. Unentwegt verfasste er Zeitschriftenaufsätze, attackierte Mitbewerber und Konkurrenzprojekte; doch über seinen Kontakt zum Duce weiß die Autorin nur zu berichten, dass Piacentini sich bei ihm für die Ernennung zum Chefarchitekten der Universität per Telegramm bedankte.

Auch der Siegeszug der römischen Architekten um Piacentini gegen die Konkurrenz der Mailänder "Rationalisten" geschah auf denkbar gesittete Weise: Die faschistischen Gewerkschaften setzten italienweit die Ausschreibung öffentlicher Wettbewerbe durch, so dass auch die Hauptstädter überall mitmischen konnten. Mehr Transparenz können sich auch heutige Architektenverbände nicht wünschen.

So ergibt sich ein nebulöses Bild der italienischen Zwischenkriegszeit: halb als Papierkrieg, halb als ritualisiertes Verfahrensmuster. Nichts erfährt man von Mussolinis sozialrevolutionärem Modernisierungsprogramm aus antistädtischem Ruralismus, Arbeitsbeschaffung, Siedlungsbau und Industriepolitik. Denn genau dafür sollten Künstler und Architekten einen neuen nationalen Stil für das italienische Weltreich erschaffen, das sogar den Neid von Hitler und Stalin erregte. Zwar deutet die Autorin die entfernte Verwandtschaft der monumentalen Ordnungssysteme der dreißiger Jahre von Washington bis Moskau an, aber der Verweis auf Wolfgang Schivelbuschs grundlegende Arbeit dazu fehlt leider.

Und was war der Beitrag Piacentinis zu alledem? Er spielte laut Beese "die Rolle eines Intellektuellen des Regimes", der mäßigend auf die futuristische Innovationswut der Schwarzhemden einwirkte. Piacentinis Stadtverständnis wird im Buch jedoch auf tantenhafte Beschaulichkeit reduziert: "Geschlossene Räume, gestaltete Sinneinheiten, abgestimmte Kopfbauten, vereinheitlichte Blöcke, öffentliche Nutzung markanter Punkte." Das könnte auch auf den aktuellen Wiederaufbau des Dom-Römer-Gebietes in Frankfurt am Main passen.

Ganz zufrieden mit seinem Leibarchitekten, der sich für die Wiener Sezession und Berliner Reformarchitektur, für Wilhelm Kreis und Paul Bonatz begeisterte, scheint Mussolini nicht gewesen zu sein. Denn er verwarf dessen Pläne für den faschistischen Repräsentationsraum eines "foro littorio" vom Hauptbahnhof quer durch Rom und favorisierte den Kahlschlag von Antonio Muñoz zwischen Piazza Venezia und Kolosseum. Und als Mussolini nach seinem Berlin-Besuch 1937 für Nazi-Bauten schwärmte, verlangt er von seinen Architekten einen ähnlichen römischen Monumentalstil, den Piacentini nur unwillig vollstreckte.

Um zu prüfen, ob er wirklich kein schlechter Mensch und Stilist war, hätte man gern eine bündige Auswahl seiner Aufsätze gelesen, die aber nur als Zitat-Konfetti durch das ganze Buch gestreut werden. Der große Recherche-Eifer der Autorin verfolgt zwar die Projekte Piacentinis bis in die kleinsten Verfahrensstufen, aber als Gesamteindruck ergibt sich nur das Bild eines unablässigen Herumschiebens von Bauklötzchen. War die faschistische Stadt wirklich bloß eine Synthese aus dem malerischen Städtebau von Piacentinis großem Idol Camillo Sitte und den Beaux-Arts-Planungen europäischer Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts? Oder wehte in den immer kälter und archaischer werdenden Totenburgen von Mussolinis Staatsbauten nicht doch der Geist einer diktatorischen Modernisierung, die das Individuum mit Massenwirkungen erschlagen wollte? Das kann der biographische Zugang zur Epoche ohne sozialgeschichtliche Kontextualisierung einfach nicht leisten.

So greift man lieber zurück auf die bislang beste deutsche Arbeit zum "Städtebau für Mussolini" (F.A.Z. vom 2. April 2012) von Harald Bodenschatz und seinen Mitarbeitern.

MICHAEL MÖNNINGER.

Christine Beese: "Marcello Piacentini". Moderner Städtebau in Italien.

Reimer-Verlag, Berlin 2016. 624 S., 250 Abb., geb., 77,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Michael Mönninger ist letztlich enttäuscht von Christine Beeses Dissertation über den einflussreichen italienischen Architekten Marcello Piacentini. Gern hätte er erfahren, ob und inwieweit Piacentini und die politische Physiognomie des Faschismus unter Mussolini Hand in Hand gingen. Leider bietet ihm die Autorin in dieser Hinsicht nichts Aufschlussreiches. Auch wenn Beese den werkmonografischen Teil gut bedient, wie Mönninger einräumt, was den Kontakt des Architekten zum Duce angeht, aber auch betreffend Piacentinis Städteverständnis bleibt sie für ihn zu vage bzw. "tantenhaft" beschaulich. Ob Piacentini nun ein Architekt des Faschismus war oder nicht, vermag Mönninger nach der Lektüre nicht zu sagen.

© Perlentaucher Medien GmbH