"Die Geschichte meines Lebens gibt es nicht", heißt es in "Der Liebhaber", dem berühmtesten Buch von Marguerite Duras - provozierende Behauptung einer Autorin, die ihrem romanhaften, exzessiven Leben für ihr Schreiben immer neue Facetten abzugewinnen schien. Mit journalistischer Professionalität hat sich Laure Adler der Herausforderung gestellt, Fiktion und Wirklichkeit im Leben der französischen Bestsellerautorin auseinander zu halten. Dabei macht sie auch vor den heiklen Fragen nicht Halt: Welcher Gewalt war Marguerite Duras innerhalb ihrer Familie ausgesetzt? War die Geschichte mit dem Liebhaber eine Art versteckter Prostitution? Hat Duras während der Okkupation mit den Deutschen kollaboriert? Hat sie sich in der Resistance an Folterhandlungen beteiligt? Weshalb wurde sie nach dem Krieg aus der KPF ausgeschlossen? Und nicht zuletzt: Wie sah ihr Verhältnis zu den Lebenspartnern aus? Als erster Biographin war Laure Adler der gesamte Nachlass zugänglich. Akribische Reche rchen unter anderem im Parteiarchiv der KPF sowie zahlreiche Gespräche, die sie mit der Autorin selbst wie auch mit vielen ihrer Weggefährten geführt hat, bringen unvermutete Wahrheiten zu Tage. Das Ergebnis ist eine lebendige, tatsachenorientierte Biographie, die der Versuchung entgegenwirkt, die Legende Duras unreflektiert fortzuschreiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Wie grausam ist dies fette Händchen!
Das Leben der Marguerite Duras / Von Hannelore Schlaffer
Wahrheit in Dichtung zu verwandeln ist die Tendenz vieler Autobiographien. Der Dichtung aber den Anschein eines authentischen Erlebnisses zu geben ist das Illustrationsangebot des Romans. Marguerite Duras hat dieses Stilmittel in ihren Romanen virtuos gehandhabt. Kaum einem Autor gelang die Täuschung des Lesers so vollkommen wie ihr, die, obgleich sie von sich selbst behauptet, nichts über sich zu verraten, "die Scham, die größte Stille" selbst zu sein, in obsessiver Wiederholung ihre Kindheit in Indochina entweder zum einzigen Gegenstand eines Werkes oder zum Hintergrund melodramatischer Liebesgeschichten machte. Von ihrem frühen Werk, "Heiße Küste" (1950), über "Der Liebhaber", den Roman, für den sie 1984 den Prix Goncourt erhielt, und "Der Schmerz" (1985) bis zu "Der Liebhaber aus Nordchina" (1991) sind die Haßliebe zur Mutter, die Angst vor deren geliebtem, aber brutalem Sohn, die Nähe zum jüngeren, schüchternen Bruder das Motiv aller literarischen Fluchtversuche und Sehnsüchte des erzählenden Ich. Die bedrückende Atmosphäre dieses Matriarchats teilt sich dem Leser trotz der Sachlichkeit der Darstellung mit. Nicht die Wärme des nacherlebenden, sich erinnernden Herzens rührt, sondern die Kälte des rückblickenden, zu Schrecken erstarrten Beobachters. Jedes subjektive Erinnerungsbild wird durch den Stil der Ungerührtheit, der "impassibilité", zur unumstößlichen Tatsache.
Der Verführung zum Glauben an die Kindheitsgeschichte unterliegt der einfühlsame Leser - und nicht einmal die Biographien dieser Autorin widerstehen ihr. Auch sie halten sich unverhältnismäßig lange bei dieser Lebensphase auf, eben weil sie das Sujet vieler Werke ist, und alle erzählen von demselben Mädchen, dessen Liebe von der Mutter mißachtet wird, das die Aufdringlichkeit einer ältlichen Pensionsbesitzerin zu ertragen hat, das mit sehnsüchtigen Blicken ihre schöne Internatsfreundin verfolgt, das im älteren Bruder den Mörder erahnt und den Tod des jüngeren nie verschmerzt.
Die Hoffnung, daß diese Versatzstücke des Werks auf ihre Realität überprüft würden, erweckt nun die Biographie von Laure Adler, die Einblick in den Nachlaß Marguerite Duras' nehmen konnte. Laure Adler, die zum Kreis derer gehört, die mit Marguerite Duras in den letzten Lebensjahren Umgang hatten und die sich damals schon mit der Absicht zu einer Biographie trug, verspricht im Vorwort ihres Buches mehr Objektivität, als sich von einer Schrift über einen Autor vier Jahre nach seinem Tod überhaupt erwarten läßt. Die Biographin hat noch eine "maliziöse Marguerite" kennengelernt, "die so viele Masken aufsetzte und sich im Laufe der Zeit einen Spaß daraus machte, die Spuren zu verwischen und . . . uns ihre eigenen Lügen glaubhaft zu machen". Solche Skepsis, wenngleich noch immer von Bewunderung getragen, müßte sich, zumal sie dem Buch im Vorwort vorangestellt ist, die Enthüllung der Verhüllung zum Ziel nehmen. Nur etwa siebzig Seiten später aber werden die poetischen Gleichungen der Marguerite Duras von ihrer Autorin doch wieder bestätigt: "Es gab den Chinesen", die Hauptfigur nämlich aus dem "Liebhaber"; und nicht anders stellt Laure Adler wenig später über den Helden aus "Ein ruhiges Leben" fest: "Tiéne - das ist Dionys", also Dionys Mascolo, der zweite Lebenspartner der Marguerite Duras.
Laure Adler läßt sich, wie so mancher Biograph vor ihr, ganz von den Szenen der Literatur inspirieren, um deren Lebensnähe mit den neu zur Verfügung stehenden Dokumenten zu stützen. Über das wirkliche Leben der Duras jenseits ihrer Literatur erfährt der Leser nicht allzuviel, um so mehr aber über die Figuren des Werkes selbst, die Laure Adler für Kopien nach dem Leben hält. Mit Genugtuung berichtet die Biographin daher von ihren Forschungsreisen zu den Ursprüngen von Duras' Existenz, wenn sie, wie etwa beim Chinesen aus dem "Liebhaber", fündig geworden ist: "Ich habe sein Grab und sein Haus gesehen. Und es gab die Geschichte mit dem Chinesen. Das berichtete mir sein Neffe, mit dem ich mich in einer Pagode traf, die sein Großvater in Sadec hatte errichten lassen." Vom "blauen Haus des Liebhabers" erfährt man, daß es "vor einigen Jahren zu einer Polizeiwache umfunktioniert" wurde.
Wie oft die Biographin Haken schlagen muß, um den Lebensgehalt der Literatur zu retten, zeigt sich im Kapitel über Duras' Verhalten zur Zeit der deutschen Besatzung. Ihr Buch "Der Schmerz", zu Teilen hervorgegangen aus Tagebuchaufzeichnungen aus den vierziger Jahren, aber erst 1986 erschienen, beschreibt ihr Verhältnis zur Résistance, zu Mitterrand, der sich Morland nannte, die Verhaftung ihres Mannes Antelme, ihren Versuch, ihn in den Lagern ausfindig zu machen, schließlich seine Pflege nach der Befreiung. Eine Liebesgeschichte mit einem Kollaborateur der Gestapo schließt, wie stets bei Marguerite Duras, die politische Situation an den subjektiven Gefühlshaushalt des Lesers an. Nicht nur die Existenz dieses unwürdigen Verehrers wird allgemein als Fiktion angesehen, sondern die Authentizität des Tagebuches überhaupt. Als Handschrift ist der Text nun, "ramponiert, mit Eselsohren versehen und eng beschrieben", im Nachlaß einzusehen.
Laure Adlers Beschreibung des Textkorpus, die editorische Gepflogenheiten zu kennen vorgibt, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie die Frage nach der genauen Entstehungszeit einzelner Textpassagen nicht zu beantworten vermag, so daß auch gar nicht zu entscheiden ist, was sich in Marguerite Duras' literarischer Bearbeitung auf wirkliche Erlebnisse beziehen könnte. Das Fehlen der Liebesgeschichte in den Manuskripten des Nachlasses gesteht die Biographin zwar ein, doch will sie auf ihre Verwendung für die Biographie nicht verzichten. Unbeeinflußt durch das Studium der Quellen, spinnt sie den Lebensroman doch weiter fort: "Die Geschichte Rabier/Delval wirft auch ein - und zwar grausames - Licht auf die Komplikationen in ihrer Liebesbeziehung zu Dionys."
Die Eigenartigkeit, ja Ungeheuerlichkeit dieses Buches wurde immer bemerkt. Die Grausamkeiten in "Schmerz" haben die Kritiker empört und erschreckt. Die Folterung etwa, die die weibliche Hauptfigur für einen Verräter vorsieht und vollzieht, brüskiert den Geschmack jedes bürgerlichen Lesers. Der Gestus der Authentizität, der auch hier von den Autorin gewählt wird, ist selbst Teil einer literarischen Tradition. Pornographische Wünsche und sadistische Gewaltphantasien, selbst wenn sie sich als politische Vergehen oder Entgleisungen maskieren, kommen aus dem Roman des französischen Libertinismus. Die "Impassibilité", die man an Duras rühmte, verdankt sie de Sade, nicht Flaubert.
Laure Adler greift, wenn sie nicht die Literatur ausbeutet, hinein ins volle Menschenleben, und zwar dahin, wo Marguerite Duras noch lebendig ist, in die Erinnerung ihrer Freunde, Bekannten oder deren Nachkommen, die wenigsten vom Hörensagen etwas über sie wissen. Solche Aussagen, unzuverlässig wie sie sind, bedürfen selbst erst der Überprüfung. Laure Adler ist eine gutgläubige Moderatorin, die das Geplauder zur Belebung ihres Textes nutzt. Die Stimmen, dem O-Ton in den Medien abgehorcht, sind nicht eindringlicher als dort; sie ziehen bündige Fakten in die Breite, bis ein dickes Buch entstanden ist.
Fettleibigkeit ist das Erkennungsmerkmal eines Genres, in das auch dieses Buch, wenngleich erst nach dem Tod erschienen, gehört und das man dennoch "Biographie zu Lebzeiten" nennen möchte. Diese Gattung stellt einen Spezialfall der Lebensbeschreibung dar. Knappheit verbietet sich in ihr, denn Esprit, Witz, Präzision sind Feinde der Bewunderung. Die "Biographie zu Lebzeiten" ist ein Gruppenphänomen: Sie ist gedacht für die Gemeinde, die den Autor umgibt oder ihm lesend nahekommen will. Sie bevorzugt deshalb Interviews und Wallfahrten zu "seinen" Orten. Es ist kein Zufall, daß dieses Genre besonders in Paris gedeiht - man denke an die Biographien über Roland Barthes oder Michel Foucault, die nur kurze Zeit nach deren Tod erschienen. Geschlossene Intellektuellenkreise bringen sie hervor, für sie sind sie ein Kommunikationsmittel.
In Deutschland, wo kaum intellektuelle Zentren existieren, ist die Gattung weniger bekannt. Wer wann wem vorgestellt wurde, was er als die Initiation in welchen Kreis erfuhr, spielt daher bei Laure Adler eine so große Rolle wie in den Salons der Herzogin von Guermantes und der Madame Verdurin, von denen Proust erzählt. Sein Roman ist eine Satire auf die eitle Welt, in der er seine Zeit verloren hat, Adlers Biographie eine Dokumentation des Glücks, zu den Auserwählten gehört zu haben.
Laure Adler: "Marguerite Duras". Eine Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Petra Willim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 715 S., zahlr. Abb., geb., 78,- DM.
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Das Leben der Marguerite Duras / Von Hannelore Schlaffer
Wahrheit in Dichtung zu verwandeln ist die Tendenz vieler Autobiographien. Der Dichtung aber den Anschein eines authentischen Erlebnisses zu geben ist das Illustrationsangebot des Romans. Marguerite Duras hat dieses Stilmittel in ihren Romanen virtuos gehandhabt. Kaum einem Autor gelang die Täuschung des Lesers so vollkommen wie ihr, die, obgleich sie von sich selbst behauptet, nichts über sich zu verraten, "die Scham, die größte Stille" selbst zu sein, in obsessiver Wiederholung ihre Kindheit in Indochina entweder zum einzigen Gegenstand eines Werkes oder zum Hintergrund melodramatischer Liebesgeschichten machte. Von ihrem frühen Werk, "Heiße Küste" (1950), über "Der Liebhaber", den Roman, für den sie 1984 den Prix Goncourt erhielt, und "Der Schmerz" (1985) bis zu "Der Liebhaber aus Nordchina" (1991) sind die Haßliebe zur Mutter, die Angst vor deren geliebtem, aber brutalem Sohn, die Nähe zum jüngeren, schüchternen Bruder das Motiv aller literarischen Fluchtversuche und Sehnsüchte des erzählenden Ich. Die bedrückende Atmosphäre dieses Matriarchats teilt sich dem Leser trotz der Sachlichkeit der Darstellung mit. Nicht die Wärme des nacherlebenden, sich erinnernden Herzens rührt, sondern die Kälte des rückblickenden, zu Schrecken erstarrten Beobachters. Jedes subjektive Erinnerungsbild wird durch den Stil der Ungerührtheit, der "impassibilité", zur unumstößlichen Tatsache.
Der Verführung zum Glauben an die Kindheitsgeschichte unterliegt der einfühlsame Leser - und nicht einmal die Biographien dieser Autorin widerstehen ihr. Auch sie halten sich unverhältnismäßig lange bei dieser Lebensphase auf, eben weil sie das Sujet vieler Werke ist, und alle erzählen von demselben Mädchen, dessen Liebe von der Mutter mißachtet wird, das die Aufdringlichkeit einer ältlichen Pensionsbesitzerin zu ertragen hat, das mit sehnsüchtigen Blicken ihre schöne Internatsfreundin verfolgt, das im älteren Bruder den Mörder erahnt und den Tod des jüngeren nie verschmerzt.
Die Hoffnung, daß diese Versatzstücke des Werks auf ihre Realität überprüft würden, erweckt nun die Biographie von Laure Adler, die Einblick in den Nachlaß Marguerite Duras' nehmen konnte. Laure Adler, die zum Kreis derer gehört, die mit Marguerite Duras in den letzten Lebensjahren Umgang hatten und die sich damals schon mit der Absicht zu einer Biographie trug, verspricht im Vorwort ihres Buches mehr Objektivität, als sich von einer Schrift über einen Autor vier Jahre nach seinem Tod überhaupt erwarten läßt. Die Biographin hat noch eine "maliziöse Marguerite" kennengelernt, "die so viele Masken aufsetzte und sich im Laufe der Zeit einen Spaß daraus machte, die Spuren zu verwischen und . . . uns ihre eigenen Lügen glaubhaft zu machen". Solche Skepsis, wenngleich noch immer von Bewunderung getragen, müßte sich, zumal sie dem Buch im Vorwort vorangestellt ist, die Enthüllung der Verhüllung zum Ziel nehmen. Nur etwa siebzig Seiten später aber werden die poetischen Gleichungen der Marguerite Duras von ihrer Autorin doch wieder bestätigt: "Es gab den Chinesen", die Hauptfigur nämlich aus dem "Liebhaber"; und nicht anders stellt Laure Adler wenig später über den Helden aus "Ein ruhiges Leben" fest: "Tiéne - das ist Dionys", also Dionys Mascolo, der zweite Lebenspartner der Marguerite Duras.
Laure Adler läßt sich, wie so mancher Biograph vor ihr, ganz von den Szenen der Literatur inspirieren, um deren Lebensnähe mit den neu zur Verfügung stehenden Dokumenten zu stützen. Über das wirkliche Leben der Duras jenseits ihrer Literatur erfährt der Leser nicht allzuviel, um so mehr aber über die Figuren des Werkes selbst, die Laure Adler für Kopien nach dem Leben hält. Mit Genugtuung berichtet die Biographin daher von ihren Forschungsreisen zu den Ursprüngen von Duras' Existenz, wenn sie, wie etwa beim Chinesen aus dem "Liebhaber", fündig geworden ist: "Ich habe sein Grab und sein Haus gesehen. Und es gab die Geschichte mit dem Chinesen. Das berichtete mir sein Neffe, mit dem ich mich in einer Pagode traf, die sein Großvater in Sadec hatte errichten lassen." Vom "blauen Haus des Liebhabers" erfährt man, daß es "vor einigen Jahren zu einer Polizeiwache umfunktioniert" wurde.
Wie oft die Biographin Haken schlagen muß, um den Lebensgehalt der Literatur zu retten, zeigt sich im Kapitel über Duras' Verhalten zur Zeit der deutschen Besatzung. Ihr Buch "Der Schmerz", zu Teilen hervorgegangen aus Tagebuchaufzeichnungen aus den vierziger Jahren, aber erst 1986 erschienen, beschreibt ihr Verhältnis zur Résistance, zu Mitterrand, der sich Morland nannte, die Verhaftung ihres Mannes Antelme, ihren Versuch, ihn in den Lagern ausfindig zu machen, schließlich seine Pflege nach der Befreiung. Eine Liebesgeschichte mit einem Kollaborateur der Gestapo schließt, wie stets bei Marguerite Duras, die politische Situation an den subjektiven Gefühlshaushalt des Lesers an. Nicht nur die Existenz dieses unwürdigen Verehrers wird allgemein als Fiktion angesehen, sondern die Authentizität des Tagebuches überhaupt. Als Handschrift ist der Text nun, "ramponiert, mit Eselsohren versehen und eng beschrieben", im Nachlaß einzusehen.
Laure Adlers Beschreibung des Textkorpus, die editorische Gepflogenheiten zu kennen vorgibt, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie die Frage nach der genauen Entstehungszeit einzelner Textpassagen nicht zu beantworten vermag, so daß auch gar nicht zu entscheiden ist, was sich in Marguerite Duras' literarischer Bearbeitung auf wirkliche Erlebnisse beziehen könnte. Das Fehlen der Liebesgeschichte in den Manuskripten des Nachlasses gesteht die Biographin zwar ein, doch will sie auf ihre Verwendung für die Biographie nicht verzichten. Unbeeinflußt durch das Studium der Quellen, spinnt sie den Lebensroman doch weiter fort: "Die Geschichte Rabier/Delval wirft auch ein - und zwar grausames - Licht auf die Komplikationen in ihrer Liebesbeziehung zu Dionys."
Die Eigenartigkeit, ja Ungeheuerlichkeit dieses Buches wurde immer bemerkt. Die Grausamkeiten in "Schmerz" haben die Kritiker empört und erschreckt. Die Folterung etwa, die die weibliche Hauptfigur für einen Verräter vorsieht und vollzieht, brüskiert den Geschmack jedes bürgerlichen Lesers. Der Gestus der Authentizität, der auch hier von den Autorin gewählt wird, ist selbst Teil einer literarischen Tradition. Pornographische Wünsche und sadistische Gewaltphantasien, selbst wenn sie sich als politische Vergehen oder Entgleisungen maskieren, kommen aus dem Roman des französischen Libertinismus. Die "Impassibilité", die man an Duras rühmte, verdankt sie de Sade, nicht Flaubert.
Laure Adler greift, wenn sie nicht die Literatur ausbeutet, hinein ins volle Menschenleben, und zwar dahin, wo Marguerite Duras noch lebendig ist, in die Erinnerung ihrer Freunde, Bekannten oder deren Nachkommen, die wenigsten vom Hörensagen etwas über sie wissen. Solche Aussagen, unzuverlässig wie sie sind, bedürfen selbst erst der Überprüfung. Laure Adler ist eine gutgläubige Moderatorin, die das Geplauder zur Belebung ihres Textes nutzt. Die Stimmen, dem O-Ton in den Medien abgehorcht, sind nicht eindringlicher als dort; sie ziehen bündige Fakten in die Breite, bis ein dickes Buch entstanden ist.
Fettleibigkeit ist das Erkennungsmerkmal eines Genres, in das auch dieses Buch, wenngleich erst nach dem Tod erschienen, gehört und das man dennoch "Biographie zu Lebzeiten" nennen möchte. Diese Gattung stellt einen Spezialfall der Lebensbeschreibung dar. Knappheit verbietet sich in ihr, denn Esprit, Witz, Präzision sind Feinde der Bewunderung. Die "Biographie zu Lebzeiten" ist ein Gruppenphänomen: Sie ist gedacht für die Gemeinde, die den Autor umgibt oder ihm lesend nahekommen will. Sie bevorzugt deshalb Interviews und Wallfahrten zu "seinen" Orten. Es ist kein Zufall, daß dieses Genre besonders in Paris gedeiht - man denke an die Biographien über Roland Barthes oder Michel Foucault, die nur kurze Zeit nach deren Tod erschienen. Geschlossene Intellektuellenkreise bringen sie hervor, für sie sind sie ein Kommunikationsmittel.
In Deutschland, wo kaum intellektuelle Zentren existieren, ist die Gattung weniger bekannt. Wer wann wem vorgestellt wurde, was er als die Initiation in welchen Kreis erfuhr, spielt daher bei Laure Adler eine so große Rolle wie in den Salons der Herzogin von Guermantes und der Madame Verdurin, von denen Proust erzählt. Sein Roman ist eine Satire auf die eitle Welt, in der er seine Zeit verloren hat, Adlers Biographie eine Dokumentation des Glücks, zu den Auserwählten gehört zu haben.
Laure Adler: "Marguerite Duras". Eine Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Petra Willim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 715 S., zahlr. Abb., geb., 78,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Bernd Mattheus geht in einer umfangreichen Rezension zunächst ausführlich auf den Lebensweg Maguerite Duras` ein, bevor er am Ende in einigen wenigen Zeilen auf die Qualitäten der vorliegenden Biografie zu sprechen kommt. Das kurze Fazit fällt dabei recht positiv aus: So stellt das Werk Laure Adlers für den Rezensenten "zweifellos (...) bis auf weiteres das Referenzwerk" zu Duras dar, auch wenn er einräumt, dass es Adler trotz aller Akribie nicht wirklich gelungen ist, "diese chaotisch anmutende Vita schlüssig zu deuten". Dennoch würde Mattheus diesen Band eindeutig Frederique Lebellys Buch von 1996 vorziehen, was offenbar vor allem daran liegt, dass Adler das Privatarchiv Duras` für ihre Recherche zur Verfügung stand. Dass Adler insgesamt "acht mühselige Jahre" an dieser Biografie gearbeitet hat, ist - wie Mattheus lobend anmerkt - diesem Buch nicht anzumerken.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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