"Die Geschichte meines Lebens gibt es nicht", heißt es in "Der Liebhaber", dem berühmtesten Buch von Marguerite Duras - provozierende Behauptung einer Autorin, die ihrem romanhaften, exzessiven Leben für ihr Schreiben immer neue Facetten abzugewinnen schien. Mit journalistischer Professionalität hat sich Laure Adler der Herausforderung gestellt, Fiktion und Wirklichkeit im Leben der französischen Bestsellerautorin auseinander zu halten. Dabei macht sie auch vor den heiklen Fragen nicht Halt: Welcher Gewalt war Marguerite Duras innerhalb ihrer Familie ausgesetzt? War die Geschichte mit dem Liebhaber eine Art versteckter Prostitution? Hat Duras während der Okkupation mit den Deutschen kollaboriert? Hat sie sich in der Resistance an Folterhandlungen beteiligt? Weshalb wurde sie nach dem Krieg aus der KPF ausgeschlossen? Und nicht zuletzt: Wie sah ihr Verhältnis zu den Lebenspartnern aus? Als erster Biographin war Laure Adler der gesamte Nachlass zugänglich. Akribische Reche rchen unter anderem im Parteiarchiv der KPF sowie zahlreiche Gespräche, die sie mit der Autorin selbst wie auch mit vielen ihrer Weggefährten geführt hat, bringen unvermutete Wahrheiten zu Tage. Das Ergebnis ist eine lebendige, tatsachenorientierte Biographie, die der Versuchung entgegenwirkt, die Legende Duras unreflektiert fortzuschreiben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2001Dieser Absturz war Genuss
Unsägliche Kindheit, vereinsamtes Alter – Laure Adler erzählt das Leben der Marguerite Duras
„Ich schreibe”, hatte die Duras bekundet, „um mein Ich ins Buch zu verlagern. Um meine Bedeutung zu verringern. Damit das Buch an meine Stelle trete. Um mich bei der Geburt des Buches zu massakrieren, zu vergeuden, zu ruinieren. Mich verständlich zu machen . . . In dem Maße, wie ich schreibe, existiere ich weniger. ” Ein Bekenntnis ist dies wie bei Maurice Blanchot, für den das Schreiben ebenfalls zu den Übungen der Selbstverzehrung gehört. Marguerite Duras unterzog sich ihnen in 54 Büchern.
Ihr Leben, das am 4. April 1914 in Gia Dhin nahe Saigon begann, bietet Stoff für mehr als einen Roman – und das Buch von Laure Adler wird nicht die letzte ihr gewidmete Biografie sein. Die Mutter, Marie Obscur, war noch verheiratet, als sie nach Kotschinchina, dem heutigen Vietnam, ausreiste, um dort als Lehrerin im Kolonialdienst zu arbeiten. Als sich Marguerites künftiger Vater, Henri Donnadieu, der Direktor der staatlichen Schulbehörde, in Marie verliebte, starb dessen erste Frau, mit der er zwei Söhne hatte. Aus dem Schwemmland von Gia Dinh zieht die Familie 1917 nach Hanoi um, ins „tropische Paris”. Da Marie keine Anstellung findet, erwirbt sie auf Kredit ein Haus, in dem sie eine Privatschule betreibt. Die Tochter wächst im Milieu von Zöglingen aus begüterten Familien Hanois auf, wo sie als Vierjährige von einem elfjährigen Vietnamesen verführt wird. „Dieser traumatische Augenblick aus ihrer frühen Kindheit”, interpretiert Adler, „wird sie nachhaltig prägen . . . Für die Frau der Genuss des Gesehenwerdens, für den Mann ein sich Hineinsteigern in eine einsame und alles überflutende Lust. In der sexuellen Beziehung bleibt jeder für sich. ”
Rückzug des Vaters
Im nächsten Akt dieser „unsäglichen Kindheit” ziehen die Donnadieus 1920 nach Pnom Penh, wo sie in einem riesigen Wohnsitz mit Park residieren. Im Frühjahr 1921 kehrt ihr kränkelnder Vater in die Heimat zurück. Er zieht sich in sein Haus in Pardaillan bei Duras (Lot-et-Garonne) zum Sterben zurück. Im Alter von sieben Jahren ist das Mädchen Halbwaise.
Ende 1928 erwirbt Marie ein Reisfeld bei Prey Nop in Kambodscha. Gleichzeitig lässt sie auf ihrem Land am Golf von Siam einen Bungalow errichten. Mit ihrem Bruder Paul führt Marguerite dort ein wildes Leben, zu welchem die Jagd auf Affen, Vögel, Reptilien, Raubkatzen zählt. Das Land ist unbestellbar, da es Jahr für Jahr von Überschwemmungen heimgesucht wird. In der Erkenntnis, dass sie die Ersparnisse von zehn Jahren Arbeit den Wogen des Stillen Ozeans geopfert hat, verliert Marie fast den Verstand. „In meiner Kindheit”, wird die Duras schreiben, „hat das Unglück meiner Mutter den Platz des Traums eingenommen. ” Diesen Albtraum gestaltet sie 1950 in ihrem Roman „Heiße Küste” sowie auf der Bühne. Die 15-Jährige wird auf das Gymnasium von Saigon geschickt, wo sie in der Pension einer alten lüsternen Jungfer logiert, die sich regelmäßig vor der Kleinen entblößt.
Obwohl Marguerite französische Eltern hat, verleihen die grünen, schräg geschnittenen Augen der Physiognomie der zierlichen, brünetten Person etwas Asiatisches. Im Saigon des Jahres 1929 widerfährt der Schönheit, einer wahren Lolita, was unter dem Titel „Der Liebhaber” in die Weltliteratur eingehen sollte. Das Tagebuch der Schülerin über diese zwei Jahre währende Affäre mit einem bedeutend älteren wohlhabenden Chinesen schließt Zweifel am Wahrheitsgehalt des Buchs aus. Allerdings erschöpft sich die „Liebesgeschichte” darin, dass die verarmte Familie Marguerite regelrecht verkuppelte, um an Bargeld zu kommen.
Ende 1933 beginnt Marguerite in Paris zu studieren – Rechtswissenschaften, Mathematik, Politik –, kehrt Indochina für immer den Rücken. Im November 1940 bezieht sie mit ihrem Mann, Robert Antelme, im Viertel Saint-Germain-des-Prés eine Wohnung. Während des Krieges wird die Rue Saint-Benoît Nr. 5 zum Versteck von Résistance-Kämpfern. Ab ihrem ersten Roman „Die Schamlosen” (1943) entscheidet sich die Autorin für das Pseudonym Duras: Es gewährt genügend Distanz zum Familiennamen (der übersetzt Gibgott bedeutet), verweist aber auf die Landschaft des Vaters.
1942 wird sie mit zwei Todesfällen konfrontiert – ihr Kind stirbt nach der Geburt, in Saigon ihr Bruder Paul. Während sie im Komitee zur Organisation des Buchwesens arbeitet, lernt sie den Gallimard-Lektor Dionys Mascolo kennen, mit dem sie eine Liaison eingeht. Mit Robert, der ebenfalls seine Nebenbeziehung hat, führt Marguerite eine offene Ehe. Verrat innerhalb des Widerstandsnetzes führt im Juni 1944 zur Verhaftung Antelmes durch die Gestapo. Marguerite ist der PCF beigetreten und leidet unter schweren Depressionen auf Grund der Ungewissheit um das Schicksal ihres Mannes. Im Mai 1945 kann Mascolo ihn aus dem KZ Dachau abholen.
Die Schrecken des Nazismus lässt die Duras sich mit dessen Opfern identifizieren. Als im Juni 1947 Jean, genannt Outa, ihr Sohn mit Mascolo, geboren wird, nennt sie sich, nach der Scheidung von Antelme, wieder Donnadieu. In der Rue Saint-Benoît führt sie ein offenes Haus: Die Besucher schildern sie als lebendig, fröhlich, aber auch als autoritär. Nach dem Bruch mit Dionys, der sie permanent betrügt, kennzeichnen 1957 Exzesse, Sauftouren, Schläge ihre Liebe zu dem Journalisten und Romancier Gérard Jarlot, den sie „Lügenmann” nennen wird.
Mit „Moderato cantabile” (1958) wird eine Lösung vom Realismus à la Faulkner und Vittorini offensichtlich – so dass man sie den Nouveaux romanciers zuordnet. Die Ähnlichkeiten mit Beckett, Blanchot und Bataille sind freilich ungleich größer. Den Tod ihrer Mutter nimmt sie scheinbar emotionslos auf, doch ab diesem Moment trinkt sie forciert.
Mit der Verfilmung von „Heiße Küste” stellt sich endlich auch der materielle Erfolg ein, der es ihr ermöglicht, 1960 ein Landhaus in Neauphle-le-Château (Seine-et-Oise) zu erwerben, drei Jahre darauf kommt eine weitere Rückzugshöhle im normannischen Seebad Trouville hinzu, wo sie sich ein kleines Appartement kauft. Die 50-jährige Duras, bei der man Leberzirrhose diagnostiziert, macht ihre erste Entziehungskur. Zunehmend wird ihr der flüssige Stoff zum Lebens-Mittel, Therapeutikum, Ersatz für menschliche Wärme, Erotik.
Der Mai 1968 lässt sie aufleben: Flankiert von Mascolo, Blanchot und Morin nimmt sie an den Demonstrationen der Studenten teil – in der Hoffnung auf den Sieg der Anarchie! Gut ein Jahrzehnt lang wird der Film für sie zum Medium ihrer Wahl, persönlich führt sie dagegen das Leben eines vergessenen, vereinsamten ehemaligen Stars, dem der Fernseher und Billigwein Gesellschaft leisten.
In der dritten Person
1980, während man sie drei Monate lang im Krankenhaus ins Leben zurückholt, nimmt sie Kontakt zu einem jungen Verehrer auf, dem 27-jährigen Bretonen Yann, der Marguerites letzte Passion sein wird – aber dieser amant lebt seine homosexuellen Neigungen. Seit dem internationalen Erfolg des „Liebhabers” spricht die Schriftstellerin nur noch in der dritten Person, als „die Duras”, von sich. Die öffentliche Anerkennung ändert nichts daran, dass sie in Gesellschaft Yanns wieder ihre täglichen sechs bis acht Liter Wein konsumiert. „Dieser Absturz war genussvoll”, kommentiert sie. Ihrem Wunsch gemäß bestattet man sie, 1996, neben ihrem Bruder Pierre.
Zweifellos stellt Adlers Biografie der Duras bis auf weiteres das Referenzwerk dar. Der akribischen Chronistin gelingt es allerdings nicht, diese chaotisch anmutende Vita schlüssig zu deuten. Dennoch unterscheidet sich ihr Buch, 1998 mit dem Prix Femina für den besten Essay ausgezeichnet, wohltuend von Frédérique Lebellys Unternehmen von 1996. Die Historikerin und Journalistin Adler, derzeit Leiterin des Rundfunksenders France Culture, recherchierte vor Ort und hatte das Privileg, nach dem Tod der Duras ihr Privatarchiv nutzen zu können. Über acht mühselige Jahre erstreckte sich die Arbeit – zum Glück für den Leser merkt man dies dem Buch nicht an.
BERND MATTHEUS
LAURE ADLER: Marguerite Duras. Biographie. Aus dem Französischen von Petra Willim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 716 Seiten , 78 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Unsägliche Kindheit, vereinsamtes Alter – Laure Adler erzählt das Leben der Marguerite Duras
„Ich schreibe”, hatte die Duras bekundet, „um mein Ich ins Buch zu verlagern. Um meine Bedeutung zu verringern. Damit das Buch an meine Stelle trete. Um mich bei der Geburt des Buches zu massakrieren, zu vergeuden, zu ruinieren. Mich verständlich zu machen . . . In dem Maße, wie ich schreibe, existiere ich weniger. ” Ein Bekenntnis ist dies wie bei Maurice Blanchot, für den das Schreiben ebenfalls zu den Übungen der Selbstverzehrung gehört. Marguerite Duras unterzog sich ihnen in 54 Büchern.
Ihr Leben, das am 4. April 1914 in Gia Dhin nahe Saigon begann, bietet Stoff für mehr als einen Roman – und das Buch von Laure Adler wird nicht die letzte ihr gewidmete Biografie sein. Die Mutter, Marie Obscur, war noch verheiratet, als sie nach Kotschinchina, dem heutigen Vietnam, ausreiste, um dort als Lehrerin im Kolonialdienst zu arbeiten. Als sich Marguerites künftiger Vater, Henri Donnadieu, der Direktor der staatlichen Schulbehörde, in Marie verliebte, starb dessen erste Frau, mit der er zwei Söhne hatte. Aus dem Schwemmland von Gia Dinh zieht die Familie 1917 nach Hanoi um, ins „tropische Paris”. Da Marie keine Anstellung findet, erwirbt sie auf Kredit ein Haus, in dem sie eine Privatschule betreibt. Die Tochter wächst im Milieu von Zöglingen aus begüterten Familien Hanois auf, wo sie als Vierjährige von einem elfjährigen Vietnamesen verführt wird. „Dieser traumatische Augenblick aus ihrer frühen Kindheit”, interpretiert Adler, „wird sie nachhaltig prägen . . . Für die Frau der Genuss des Gesehenwerdens, für den Mann ein sich Hineinsteigern in eine einsame und alles überflutende Lust. In der sexuellen Beziehung bleibt jeder für sich. ”
Rückzug des Vaters
Im nächsten Akt dieser „unsäglichen Kindheit” ziehen die Donnadieus 1920 nach Pnom Penh, wo sie in einem riesigen Wohnsitz mit Park residieren. Im Frühjahr 1921 kehrt ihr kränkelnder Vater in die Heimat zurück. Er zieht sich in sein Haus in Pardaillan bei Duras (Lot-et-Garonne) zum Sterben zurück. Im Alter von sieben Jahren ist das Mädchen Halbwaise.
Ende 1928 erwirbt Marie ein Reisfeld bei Prey Nop in Kambodscha. Gleichzeitig lässt sie auf ihrem Land am Golf von Siam einen Bungalow errichten. Mit ihrem Bruder Paul führt Marguerite dort ein wildes Leben, zu welchem die Jagd auf Affen, Vögel, Reptilien, Raubkatzen zählt. Das Land ist unbestellbar, da es Jahr für Jahr von Überschwemmungen heimgesucht wird. In der Erkenntnis, dass sie die Ersparnisse von zehn Jahren Arbeit den Wogen des Stillen Ozeans geopfert hat, verliert Marie fast den Verstand. „In meiner Kindheit”, wird die Duras schreiben, „hat das Unglück meiner Mutter den Platz des Traums eingenommen. ” Diesen Albtraum gestaltet sie 1950 in ihrem Roman „Heiße Küste” sowie auf der Bühne. Die 15-Jährige wird auf das Gymnasium von Saigon geschickt, wo sie in der Pension einer alten lüsternen Jungfer logiert, die sich regelmäßig vor der Kleinen entblößt.
Obwohl Marguerite französische Eltern hat, verleihen die grünen, schräg geschnittenen Augen der Physiognomie der zierlichen, brünetten Person etwas Asiatisches. Im Saigon des Jahres 1929 widerfährt der Schönheit, einer wahren Lolita, was unter dem Titel „Der Liebhaber” in die Weltliteratur eingehen sollte. Das Tagebuch der Schülerin über diese zwei Jahre währende Affäre mit einem bedeutend älteren wohlhabenden Chinesen schließt Zweifel am Wahrheitsgehalt des Buchs aus. Allerdings erschöpft sich die „Liebesgeschichte” darin, dass die verarmte Familie Marguerite regelrecht verkuppelte, um an Bargeld zu kommen.
Ende 1933 beginnt Marguerite in Paris zu studieren – Rechtswissenschaften, Mathematik, Politik –, kehrt Indochina für immer den Rücken. Im November 1940 bezieht sie mit ihrem Mann, Robert Antelme, im Viertel Saint-Germain-des-Prés eine Wohnung. Während des Krieges wird die Rue Saint-Benoît Nr. 5 zum Versteck von Résistance-Kämpfern. Ab ihrem ersten Roman „Die Schamlosen” (1943) entscheidet sich die Autorin für das Pseudonym Duras: Es gewährt genügend Distanz zum Familiennamen (der übersetzt Gibgott bedeutet), verweist aber auf die Landschaft des Vaters.
1942 wird sie mit zwei Todesfällen konfrontiert – ihr Kind stirbt nach der Geburt, in Saigon ihr Bruder Paul. Während sie im Komitee zur Organisation des Buchwesens arbeitet, lernt sie den Gallimard-Lektor Dionys Mascolo kennen, mit dem sie eine Liaison eingeht. Mit Robert, der ebenfalls seine Nebenbeziehung hat, führt Marguerite eine offene Ehe. Verrat innerhalb des Widerstandsnetzes führt im Juni 1944 zur Verhaftung Antelmes durch die Gestapo. Marguerite ist der PCF beigetreten und leidet unter schweren Depressionen auf Grund der Ungewissheit um das Schicksal ihres Mannes. Im Mai 1945 kann Mascolo ihn aus dem KZ Dachau abholen.
Die Schrecken des Nazismus lässt die Duras sich mit dessen Opfern identifizieren. Als im Juni 1947 Jean, genannt Outa, ihr Sohn mit Mascolo, geboren wird, nennt sie sich, nach der Scheidung von Antelme, wieder Donnadieu. In der Rue Saint-Benoît führt sie ein offenes Haus: Die Besucher schildern sie als lebendig, fröhlich, aber auch als autoritär. Nach dem Bruch mit Dionys, der sie permanent betrügt, kennzeichnen 1957 Exzesse, Sauftouren, Schläge ihre Liebe zu dem Journalisten und Romancier Gérard Jarlot, den sie „Lügenmann” nennen wird.
Mit „Moderato cantabile” (1958) wird eine Lösung vom Realismus à la Faulkner und Vittorini offensichtlich – so dass man sie den Nouveaux romanciers zuordnet. Die Ähnlichkeiten mit Beckett, Blanchot und Bataille sind freilich ungleich größer. Den Tod ihrer Mutter nimmt sie scheinbar emotionslos auf, doch ab diesem Moment trinkt sie forciert.
Mit der Verfilmung von „Heiße Küste” stellt sich endlich auch der materielle Erfolg ein, der es ihr ermöglicht, 1960 ein Landhaus in Neauphle-le-Château (Seine-et-Oise) zu erwerben, drei Jahre darauf kommt eine weitere Rückzugshöhle im normannischen Seebad Trouville hinzu, wo sie sich ein kleines Appartement kauft. Die 50-jährige Duras, bei der man Leberzirrhose diagnostiziert, macht ihre erste Entziehungskur. Zunehmend wird ihr der flüssige Stoff zum Lebens-Mittel, Therapeutikum, Ersatz für menschliche Wärme, Erotik.
Der Mai 1968 lässt sie aufleben: Flankiert von Mascolo, Blanchot und Morin nimmt sie an den Demonstrationen der Studenten teil – in der Hoffnung auf den Sieg der Anarchie! Gut ein Jahrzehnt lang wird der Film für sie zum Medium ihrer Wahl, persönlich führt sie dagegen das Leben eines vergessenen, vereinsamten ehemaligen Stars, dem der Fernseher und Billigwein Gesellschaft leisten.
In der dritten Person
1980, während man sie drei Monate lang im Krankenhaus ins Leben zurückholt, nimmt sie Kontakt zu einem jungen Verehrer auf, dem 27-jährigen Bretonen Yann, der Marguerites letzte Passion sein wird – aber dieser amant lebt seine homosexuellen Neigungen. Seit dem internationalen Erfolg des „Liebhabers” spricht die Schriftstellerin nur noch in der dritten Person, als „die Duras”, von sich. Die öffentliche Anerkennung ändert nichts daran, dass sie in Gesellschaft Yanns wieder ihre täglichen sechs bis acht Liter Wein konsumiert. „Dieser Absturz war genussvoll”, kommentiert sie. Ihrem Wunsch gemäß bestattet man sie, 1996, neben ihrem Bruder Pierre.
Zweifellos stellt Adlers Biografie der Duras bis auf weiteres das Referenzwerk dar. Der akribischen Chronistin gelingt es allerdings nicht, diese chaotisch anmutende Vita schlüssig zu deuten. Dennoch unterscheidet sich ihr Buch, 1998 mit dem Prix Femina für den besten Essay ausgezeichnet, wohltuend von Frédérique Lebellys Unternehmen von 1996. Die Historikerin und Journalistin Adler, derzeit Leiterin des Rundfunksenders France Culture, recherchierte vor Ort und hatte das Privileg, nach dem Tod der Duras ihr Privatarchiv nutzen zu können. Über acht mühselige Jahre erstreckte sich die Arbeit – zum Glück für den Leser merkt man dies dem Buch nicht an.
BERND MATTHEUS
LAURE ADLER: Marguerite Duras. Biographie. Aus dem Französischen von Petra Willim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 716 Seiten , 78 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Wie grausam ist dies fette Händchen!
Das Leben der Marguerite Duras / Von Hannelore Schlaffer
Wahrheit in Dichtung zu verwandeln ist die Tendenz vieler Autobiographien. Der Dichtung aber den Anschein eines authentischen Erlebnisses zu geben ist das Illustrationsangebot des Romans. Marguerite Duras hat dieses Stilmittel in ihren Romanen virtuos gehandhabt. Kaum einem Autor gelang die Täuschung des Lesers so vollkommen wie ihr, die, obgleich sie von sich selbst behauptet, nichts über sich zu verraten, "die Scham, die größte Stille" selbst zu sein, in obsessiver Wiederholung ihre Kindheit in Indochina entweder zum einzigen Gegenstand eines Werkes oder zum Hintergrund melodramatischer Liebesgeschichten machte. Von ihrem frühen Werk, "Heiße Küste" (1950), über "Der Liebhaber", den Roman, für den sie 1984 den Prix Goncourt erhielt, und "Der Schmerz" (1985) bis zu "Der Liebhaber aus Nordchina" (1991) sind die Haßliebe zur Mutter, die Angst vor deren geliebtem, aber brutalem Sohn, die Nähe zum jüngeren, schüchternen Bruder das Motiv aller literarischen Fluchtversuche und Sehnsüchte des erzählenden Ich. Die bedrückende Atmosphäre dieses Matriarchats teilt sich dem Leser trotz der Sachlichkeit der Darstellung mit. Nicht die Wärme des nacherlebenden, sich erinnernden Herzens rührt, sondern die Kälte des rückblickenden, zu Schrecken erstarrten Beobachters. Jedes subjektive Erinnerungsbild wird durch den Stil der Ungerührtheit, der "impassibilité", zur unumstößlichen Tatsache.
Der Verführung zum Glauben an die Kindheitsgeschichte unterliegt der einfühlsame Leser - und nicht einmal die Biographien dieser Autorin widerstehen ihr. Auch sie halten sich unverhältnismäßig lange bei dieser Lebensphase auf, eben weil sie das Sujet vieler Werke ist, und alle erzählen von demselben Mädchen, dessen Liebe von der Mutter mißachtet wird, das die Aufdringlichkeit einer ältlichen Pensionsbesitzerin zu ertragen hat, das mit sehnsüchtigen Blicken ihre schöne Internatsfreundin verfolgt, das im älteren Bruder den Mörder erahnt und den Tod des jüngeren nie verschmerzt.
Die Hoffnung, daß diese Versatzstücke des Werks auf ihre Realität überprüft würden, erweckt nun die Biographie von Laure Adler, die Einblick in den Nachlaß Marguerite Duras' nehmen konnte. Laure Adler, die zum Kreis derer gehört, die mit Marguerite Duras in den letzten Lebensjahren Umgang hatten und die sich damals schon mit der Absicht zu einer Biographie trug, verspricht im Vorwort ihres Buches mehr Objektivität, als sich von einer Schrift über einen Autor vier Jahre nach seinem Tod überhaupt erwarten läßt. Die Biographin hat noch eine "maliziöse Marguerite" kennengelernt, "die so viele Masken aufsetzte und sich im Laufe der Zeit einen Spaß daraus machte, die Spuren zu verwischen und . . . uns ihre eigenen Lügen glaubhaft zu machen". Solche Skepsis, wenngleich noch immer von Bewunderung getragen, müßte sich, zumal sie dem Buch im Vorwort vorangestellt ist, die Enthüllung der Verhüllung zum Ziel nehmen. Nur etwa siebzig Seiten später aber werden die poetischen Gleichungen der Marguerite Duras von ihrer Autorin doch wieder bestätigt: "Es gab den Chinesen", die Hauptfigur nämlich aus dem "Liebhaber"; und nicht anders stellt Laure Adler wenig später über den Helden aus "Ein ruhiges Leben" fest: "Tiéne - das ist Dionys", also Dionys Mascolo, der zweite Lebenspartner der Marguerite Duras.
Laure Adler läßt sich, wie so mancher Biograph vor ihr, ganz von den Szenen der Literatur inspirieren, um deren Lebensnähe mit den neu zur Verfügung stehenden Dokumenten zu stützen. Über das wirkliche Leben der Duras jenseits ihrer Literatur erfährt der Leser nicht allzuviel, um so mehr aber über die Figuren des Werkes selbst, die Laure Adler für Kopien nach dem Leben hält. Mit Genugtuung berichtet die Biographin daher von ihren Forschungsreisen zu den Ursprüngen von Duras' Existenz, wenn sie, wie etwa beim Chinesen aus dem "Liebhaber", fündig geworden ist: "Ich habe sein Grab und sein Haus gesehen. Und es gab die Geschichte mit dem Chinesen. Das berichtete mir sein Neffe, mit dem ich mich in einer Pagode traf, die sein Großvater in Sadec hatte errichten lassen." Vom "blauen Haus des Liebhabers" erfährt man, daß es "vor einigen Jahren zu einer Polizeiwache umfunktioniert" wurde.
Wie oft die Biographin Haken schlagen muß, um den Lebensgehalt der Literatur zu retten, zeigt sich im Kapitel über Duras' Verhalten zur Zeit der deutschen Besatzung. Ihr Buch "Der Schmerz", zu Teilen hervorgegangen aus Tagebuchaufzeichnungen aus den vierziger Jahren, aber erst 1986 erschienen, beschreibt ihr Verhältnis zur Résistance, zu Mitterrand, der sich Morland nannte, die Verhaftung ihres Mannes Antelme, ihren Versuch, ihn in den Lagern ausfindig zu machen, schließlich seine Pflege nach der Befreiung. Eine Liebesgeschichte mit einem Kollaborateur der Gestapo schließt, wie stets bei Marguerite Duras, die politische Situation an den subjektiven Gefühlshaushalt des Lesers an. Nicht nur die Existenz dieses unwürdigen Verehrers wird allgemein als Fiktion angesehen, sondern die Authentizität des Tagebuches überhaupt. Als Handschrift ist der Text nun, "ramponiert, mit Eselsohren versehen und eng beschrieben", im Nachlaß einzusehen.
Laure Adlers Beschreibung des Textkorpus, die editorische Gepflogenheiten zu kennen vorgibt, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie die Frage nach der genauen Entstehungszeit einzelner Textpassagen nicht zu beantworten vermag, so daß auch gar nicht zu entscheiden ist, was sich in Marguerite Duras' literarischer Bearbeitung auf wirkliche Erlebnisse beziehen könnte. Das Fehlen der Liebesgeschichte in den Manuskripten des Nachlasses gesteht die Biographin zwar ein, doch will sie auf ihre Verwendung für die Biographie nicht verzichten. Unbeeinflußt durch das Studium der Quellen, spinnt sie den Lebensroman doch weiter fort: "Die Geschichte Rabier/Delval wirft auch ein - und zwar grausames - Licht auf die Komplikationen in ihrer Liebesbeziehung zu Dionys."
Die Eigenartigkeit, ja Ungeheuerlichkeit dieses Buches wurde immer bemerkt. Die Grausamkeiten in "Schmerz" haben die Kritiker empört und erschreckt. Die Folterung etwa, die die weibliche Hauptfigur für einen Verräter vorsieht und vollzieht, brüskiert den Geschmack jedes bürgerlichen Lesers. Der Gestus der Authentizität, der auch hier von den Autorin gewählt wird, ist selbst Teil einer literarischen Tradition. Pornographische Wünsche und sadistische Gewaltphantasien, selbst wenn sie sich als politische Vergehen oder Entgleisungen maskieren, kommen aus dem Roman des französischen Libertinismus. Die "Impassibilité", die man an Duras rühmte, verdankt sie de Sade, nicht Flaubert.
Laure Adler greift, wenn sie nicht die Literatur ausbeutet, hinein ins volle Menschenleben, und zwar dahin, wo Marguerite Duras noch lebendig ist, in die Erinnerung ihrer Freunde, Bekannten oder deren Nachkommen, die wenigsten vom Hörensagen etwas über sie wissen. Solche Aussagen, unzuverlässig wie sie sind, bedürfen selbst erst der Überprüfung. Laure Adler ist eine gutgläubige Moderatorin, die das Geplauder zur Belebung ihres Textes nutzt. Die Stimmen, dem O-Ton in den Medien abgehorcht, sind nicht eindringlicher als dort; sie ziehen bündige Fakten in die Breite, bis ein dickes Buch entstanden ist.
Fettleibigkeit ist das Erkennungsmerkmal eines Genres, in das auch dieses Buch, wenngleich erst nach dem Tod erschienen, gehört und das man dennoch "Biographie zu Lebzeiten" nennen möchte. Diese Gattung stellt einen Spezialfall der Lebensbeschreibung dar. Knappheit verbietet sich in ihr, denn Esprit, Witz, Präzision sind Feinde der Bewunderung. Die "Biographie zu Lebzeiten" ist ein Gruppenphänomen: Sie ist gedacht für die Gemeinde, die den Autor umgibt oder ihm lesend nahekommen will. Sie bevorzugt deshalb Interviews und Wallfahrten zu "seinen" Orten. Es ist kein Zufall, daß dieses Genre besonders in Paris gedeiht - man denke an die Biographien über Roland Barthes oder Michel Foucault, die nur kurze Zeit nach deren Tod erschienen. Geschlossene Intellektuellenkreise bringen sie hervor, für sie sind sie ein Kommunikationsmittel.
In Deutschland, wo kaum intellektuelle Zentren existieren, ist die Gattung weniger bekannt. Wer wann wem vorgestellt wurde, was er als die Initiation in welchen Kreis erfuhr, spielt daher bei Laure Adler eine so große Rolle wie in den Salons der Herzogin von Guermantes und der Madame Verdurin, von denen Proust erzählt. Sein Roman ist eine Satire auf die eitle Welt, in der er seine Zeit verloren hat, Adlers Biographie eine Dokumentation des Glücks, zu den Auserwählten gehört zu haben.
Laure Adler: "Marguerite Duras". Eine Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Petra Willim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 715 S., zahlr. Abb., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leben der Marguerite Duras / Von Hannelore Schlaffer
Wahrheit in Dichtung zu verwandeln ist die Tendenz vieler Autobiographien. Der Dichtung aber den Anschein eines authentischen Erlebnisses zu geben ist das Illustrationsangebot des Romans. Marguerite Duras hat dieses Stilmittel in ihren Romanen virtuos gehandhabt. Kaum einem Autor gelang die Täuschung des Lesers so vollkommen wie ihr, die, obgleich sie von sich selbst behauptet, nichts über sich zu verraten, "die Scham, die größte Stille" selbst zu sein, in obsessiver Wiederholung ihre Kindheit in Indochina entweder zum einzigen Gegenstand eines Werkes oder zum Hintergrund melodramatischer Liebesgeschichten machte. Von ihrem frühen Werk, "Heiße Küste" (1950), über "Der Liebhaber", den Roman, für den sie 1984 den Prix Goncourt erhielt, und "Der Schmerz" (1985) bis zu "Der Liebhaber aus Nordchina" (1991) sind die Haßliebe zur Mutter, die Angst vor deren geliebtem, aber brutalem Sohn, die Nähe zum jüngeren, schüchternen Bruder das Motiv aller literarischen Fluchtversuche und Sehnsüchte des erzählenden Ich. Die bedrückende Atmosphäre dieses Matriarchats teilt sich dem Leser trotz der Sachlichkeit der Darstellung mit. Nicht die Wärme des nacherlebenden, sich erinnernden Herzens rührt, sondern die Kälte des rückblickenden, zu Schrecken erstarrten Beobachters. Jedes subjektive Erinnerungsbild wird durch den Stil der Ungerührtheit, der "impassibilité", zur unumstößlichen Tatsache.
Der Verführung zum Glauben an die Kindheitsgeschichte unterliegt der einfühlsame Leser - und nicht einmal die Biographien dieser Autorin widerstehen ihr. Auch sie halten sich unverhältnismäßig lange bei dieser Lebensphase auf, eben weil sie das Sujet vieler Werke ist, und alle erzählen von demselben Mädchen, dessen Liebe von der Mutter mißachtet wird, das die Aufdringlichkeit einer ältlichen Pensionsbesitzerin zu ertragen hat, das mit sehnsüchtigen Blicken ihre schöne Internatsfreundin verfolgt, das im älteren Bruder den Mörder erahnt und den Tod des jüngeren nie verschmerzt.
Die Hoffnung, daß diese Versatzstücke des Werks auf ihre Realität überprüft würden, erweckt nun die Biographie von Laure Adler, die Einblick in den Nachlaß Marguerite Duras' nehmen konnte. Laure Adler, die zum Kreis derer gehört, die mit Marguerite Duras in den letzten Lebensjahren Umgang hatten und die sich damals schon mit der Absicht zu einer Biographie trug, verspricht im Vorwort ihres Buches mehr Objektivität, als sich von einer Schrift über einen Autor vier Jahre nach seinem Tod überhaupt erwarten läßt. Die Biographin hat noch eine "maliziöse Marguerite" kennengelernt, "die so viele Masken aufsetzte und sich im Laufe der Zeit einen Spaß daraus machte, die Spuren zu verwischen und . . . uns ihre eigenen Lügen glaubhaft zu machen". Solche Skepsis, wenngleich noch immer von Bewunderung getragen, müßte sich, zumal sie dem Buch im Vorwort vorangestellt ist, die Enthüllung der Verhüllung zum Ziel nehmen. Nur etwa siebzig Seiten später aber werden die poetischen Gleichungen der Marguerite Duras von ihrer Autorin doch wieder bestätigt: "Es gab den Chinesen", die Hauptfigur nämlich aus dem "Liebhaber"; und nicht anders stellt Laure Adler wenig später über den Helden aus "Ein ruhiges Leben" fest: "Tiéne - das ist Dionys", also Dionys Mascolo, der zweite Lebenspartner der Marguerite Duras.
Laure Adler läßt sich, wie so mancher Biograph vor ihr, ganz von den Szenen der Literatur inspirieren, um deren Lebensnähe mit den neu zur Verfügung stehenden Dokumenten zu stützen. Über das wirkliche Leben der Duras jenseits ihrer Literatur erfährt der Leser nicht allzuviel, um so mehr aber über die Figuren des Werkes selbst, die Laure Adler für Kopien nach dem Leben hält. Mit Genugtuung berichtet die Biographin daher von ihren Forschungsreisen zu den Ursprüngen von Duras' Existenz, wenn sie, wie etwa beim Chinesen aus dem "Liebhaber", fündig geworden ist: "Ich habe sein Grab und sein Haus gesehen. Und es gab die Geschichte mit dem Chinesen. Das berichtete mir sein Neffe, mit dem ich mich in einer Pagode traf, die sein Großvater in Sadec hatte errichten lassen." Vom "blauen Haus des Liebhabers" erfährt man, daß es "vor einigen Jahren zu einer Polizeiwache umfunktioniert" wurde.
Wie oft die Biographin Haken schlagen muß, um den Lebensgehalt der Literatur zu retten, zeigt sich im Kapitel über Duras' Verhalten zur Zeit der deutschen Besatzung. Ihr Buch "Der Schmerz", zu Teilen hervorgegangen aus Tagebuchaufzeichnungen aus den vierziger Jahren, aber erst 1986 erschienen, beschreibt ihr Verhältnis zur Résistance, zu Mitterrand, der sich Morland nannte, die Verhaftung ihres Mannes Antelme, ihren Versuch, ihn in den Lagern ausfindig zu machen, schließlich seine Pflege nach der Befreiung. Eine Liebesgeschichte mit einem Kollaborateur der Gestapo schließt, wie stets bei Marguerite Duras, die politische Situation an den subjektiven Gefühlshaushalt des Lesers an. Nicht nur die Existenz dieses unwürdigen Verehrers wird allgemein als Fiktion angesehen, sondern die Authentizität des Tagebuches überhaupt. Als Handschrift ist der Text nun, "ramponiert, mit Eselsohren versehen und eng beschrieben", im Nachlaß einzusehen.
Laure Adlers Beschreibung des Textkorpus, die editorische Gepflogenheiten zu kennen vorgibt, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie die Frage nach der genauen Entstehungszeit einzelner Textpassagen nicht zu beantworten vermag, so daß auch gar nicht zu entscheiden ist, was sich in Marguerite Duras' literarischer Bearbeitung auf wirkliche Erlebnisse beziehen könnte. Das Fehlen der Liebesgeschichte in den Manuskripten des Nachlasses gesteht die Biographin zwar ein, doch will sie auf ihre Verwendung für die Biographie nicht verzichten. Unbeeinflußt durch das Studium der Quellen, spinnt sie den Lebensroman doch weiter fort: "Die Geschichte Rabier/Delval wirft auch ein - und zwar grausames - Licht auf die Komplikationen in ihrer Liebesbeziehung zu Dionys."
Die Eigenartigkeit, ja Ungeheuerlichkeit dieses Buches wurde immer bemerkt. Die Grausamkeiten in "Schmerz" haben die Kritiker empört und erschreckt. Die Folterung etwa, die die weibliche Hauptfigur für einen Verräter vorsieht und vollzieht, brüskiert den Geschmack jedes bürgerlichen Lesers. Der Gestus der Authentizität, der auch hier von den Autorin gewählt wird, ist selbst Teil einer literarischen Tradition. Pornographische Wünsche und sadistische Gewaltphantasien, selbst wenn sie sich als politische Vergehen oder Entgleisungen maskieren, kommen aus dem Roman des französischen Libertinismus. Die "Impassibilité", die man an Duras rühmte, verdankt sie de Sade, nicht Flaubert.
Laure Adler greift, wenn sie nicht die Literatur ausbeutet, hinein ins volle Menschenleben, und zwar dahin, wo Marguerite Duras noch lebendig ist, in die Erinnerung ihrer Freunde, Bekannten oder deren Nachkommen, die wenigsten vom Hörensagen etwas über sie wissen. Solche Aussagen, unzuverlässig wie sie sind, bedürfen selbst erst der Überprüfung. Laure Adler ist eine gutgläubige Moderatorin, die das Geplauder zur Belebung ihres Textes nutzt. Die Stimmen, dem O-Ton in den Medien abgehorcht, sind nicht eindringlicher als dort; sie ziehen bündige Fakten in die Breite, bis ein dickes Buch entstanden ist.
Fettleibigkeit ist das Erkennungsmerkmal eines Genres, in das auch dieses Buch, wenngleich erst nach dem Tod erschienen, gehört und das man dennoch "Biographie zu Lebzeiten" nennen möchte. Diese Gattung stellt einen Spezialfall der Lebensbeschreibung dar. Knappheit verbietet sich in ihr, denn Esprit, Witz, Präzision sind Feinde der Bewunderung. Die "Biographie zu Lebzeiten" ist ein Gruppenphänomen: Sie ist gedacht für die Gemeinde, die den Autor umgibt oder ihm lesend nahekommen will. Sie bevorzugt deshalb Interviews und Wallfahrten zu "seinen" Orten. Es ist kein Zufall, daß dieses Genre besonders in Paris gedeiht - man denke an die Biographien über Roland Barthes oder Michel Foucault, die nur kurze Zeit nach deren Tod erschienen. Geschlossene Intellektuellenkreise bringen sie hervor, für sie sind sie ein Kommunikationsmittel.
In Deutschland, wo kaum intellektuelle Zentren existieren, ist die Gattung weniger bekannt. Wer wann wem vorgestellt wurde, was er als die Initiation in welchen Kreis erfuhr, spielt daher bei Laure Adler eine so große Rolle wie in den Salons der Herzogin von Guermantes und der Madame Verdurin, von denen Proust erzählt. Sein Roman ist eine Satire auf die eitle Welt, in der er seine Zeit verloren hat, Adlers Biographie eine Dokumentation des Glücks, zu den Auserwählten gehört zu haben.
Laure Adler: "Marguerite Duras". Eine Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Petra Willim. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 715 S., zahlr. Abb., geb., 78,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Bernd Mattheus geht in einer umfangreichen Rezension zunächst ausführlich auf den Lebensweg Maguerite Duras` ein, bevor er am Ende in einigen wenigen Zeilen auf die Qualitäten der vorliegenden Biografie zu sprechen kommt. Das kurze Fazit fällt dabei recht positiv aus: So stellt das Werk Laure Adlers für den Rezensenten "zweifellos (...) bis auf weiteres das Referenzwerk" zu Duras dar, auch wenn er einräumt, dass es Adler trotz aller Akribie nicht wirklich gelungen ist, "diese chaotisch anmutende Vita schlüssig zu deuten". Dennoch würde Mattheus diesen Band eindeutig Frederique Lebellys Buch von 1996 vorziehen, was offenbar vor allem daran liegt, dass Adler das Privatarchiv Duras` für ihre Recherche zur Verfügung stand. Dass Adler insgesamt "acht mühselige Jahre" an dieser Biografie gearbeitet hat, ist - wie Mattheus lobend anmerkt - diesem Buch nicht anzumerken.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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