Die Studie untersucht die Darstellung Maria Magdalenas in der literarischen Lebensreform, einer bislang in der Forschung vernachlässigten Strömung der Literatur um 1900. Im Gegensatz zur Décadence und deren Faszination für Krankheit, Untergang und Tod zeichnet sich die literarische Lebensreform aus durch die Heiligung des Lebens, die Forderung nach einer natürlichen Lebensweise und religiöse Sehnsüchte, die sich auf die sakralisierte Geschlechtsliebe richten. Die Darstellung der schönen Sünderin ist in dieser Strömung gekennzeichnet durch die Amalgamierung des christlichen Magdalenenstoffs mit weltanschaulichen Wissenselementen der Jahrhundertwende, die anhand intertextueller Bezugnahmen identifiziert werden. In Zeiten der Fragmentarisierung moderner Lebenswelten erlangt die 'Heilige Hure' vor dem Hintergrund von Nietzschekult, kunstreligiöser Ästhetisierung der Frau und monistisch-pantheistischer Lebensmystik den Status einer männlichen Phantasie. Sie wird zur weltlich Liebendenstilisiert, die dem Verführten in der ersehnten Teilhabe an der Alleinheit des emphatisch beschworenen Lebens Erlösung gewährt. Anhand detaillierter Einzelanalysen nichtkanonisierter, für die Literatur um 1900 jedoch hoch symptomatischer Texte Richard Dehmels, Johannes Schlafs, Rainer Maria Rilkes und anderer Autoren wird mit Rekurs auf Ansätze der Genderforschung nachgewiesen, dass bei der Ausformung dieser bislang unerkannt gebliebenen Weiblichkeitskonstruktion Eigenschaften von femme fatale und femme fragile, der beiden konträren Weiblichkeitstypen der Jahrhundertwende, miteinander vereint werden. Im Anschluss an aktuelle Forschungspositionen zur Säkularisierung, die betonen, dass Entkirchlichung nicht mit einem generellen Bedeutungsverlust religiöser Sinnstiftung gleichzusetzen ist, weist die Studie mit den Mitteln narratologischer Figurenanalyse die Transformation religiöser Gehalte in einem Teilbereich der literarischen Moderne nach.