Hiltrud Häntzschel zeichnet in der ersten großen Fleißer-Biographie das Bild einer faszinierenden Frau, die sich allen Kategorisierungen entzieht: die ehrgeizige Autorin mit der ganz eigenen literarischen Begabung; die kompromißlos, bis zur Selbstaufgabe Liebende; die in schweren Zeiten verzweifelt ums Überleben Kämpfende; und schließlich die Erfolgreiche, die eine späte Würdigung ihres Werks erfährt. Die junge, kaum dem katholischen Mädcheninternat entwachsene Marieluise Fleißer (1901-1974) findet Aufnahme im Kreis um Brecht und Feuchtwanger; sie macht Furore mit ihrem Stück Fegefeuer in Ingolstadt (1926) und wird zur Skandalperson in ihrer Heimat. Ihre dialektgefärbte, volksnahe Kunstsprache in Verbindung mit der sexuell aufgeladenen Atmosphäre und sozialkritischen Tendenz ihrer Stücke und Erzählungen (darunter Abenteuer im Englischen Garten und Ein Pfund Orangen) ist singulär in der Literatur ihrer Zeit. Für Jahrzehnte, bis in die fünfziger Jahre hinein, verstummt sie, zunächst in einer fast masochistisch anmutenden Verbindung mit dem exzentrischen Helmut Draws-Tychsen, danach in der Ehe mit dem Tabakhändler Josef Haindl. Erst Anfang der sechziger Jahre erfährt sie mit der Wiederentdeckung durch junge Dramatiker wie Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder späten Ruhm.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2007Enträtselung einer Unbequemen
Diese Frau machte es niemandem leicht. Ihren Zeitgenossen nicht, sich selbst nicht, und auch der Nachwelt nicht. Einerseits hievte die Schriftstellerin Marieluise Fleißer unbequeme Wahrheiten ans Licht, womit sie sich nicht nur in ihrem Geburtsort Ingolstadt viele Feinde machte. Andererseits verschleierte sie sowohl ihren Lebenslauf als auch ihr Werk, worunter die Fleißer-Forschung bis heute leidet. Trotz zweier Biographien aus den Jahren 1984 und 2001 blieb sie die große Unbekannte. Den dritten Versuch, das Fleißersche Rätsel zu lösen, wagt Hiltrud Häntzschel. Die Münchner Literaturwissenschaftlerin schöpft aus bisher unbekannten Quellen, füllt Lücken und trägt Legenden ab.
Vor allem stellt Häntzschel Fleißer erstmals als selbstbestimmt Handelnde dar – und nicht mehr nur als Opfer von anderen, wie mancher Forscher und die Schriftstellerin es bisher gerne taten. Marieluise Fleißer wurde spätestens 1929 durch ihr zweites Stück, „Pioniere in Ingolstadt”, berühmt, ihr Werk wurde in der Künstlerszene verehrt und in bürgerlichen Kreisen verfemt. Diese Zerrissenheit setzte sich in ihrem Leben fort. Dem frühen Ruhm folgte der Absturz. Erst in den sechziger Jahren begann sie wieder zu schreiben. Fleißer kam in den siebziger Jahren nochmals zu Ruhm. Aber auch diesmal nur kurz. Sie starb 1974.
Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nennt Fleißer die bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Dennoch dauerte es mehr als 30 Jahre, bis die wahre Geschichte dieser faszinierenden, ehrgeizigen und verzweifelten Frau nachzulesen ist. Stefan Mayr
Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie, Insel, Frankfurt 2007, 410 Seiten, 22,80 Euro, ISBN-13: 978-3458173243
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Diese Frau machte es niemandem leicht. Ihren Zeitgenossen nicht, sich selbst nicht, und auch der Nachwelt nicht. Einerseits hievte die Schriftstellerin Marieluise Fleißer unbequeme Wahrheiten ans Licht, womit sie sich nicht nur in ihrem Geburtsort Ingolstadt viele Feinde machte. Andererseits verschleierte sie sowohl ihren Lebenslauf als auch ihr Werk, worunter die Fleißer-Forschung bis heute leidet. Trotz zweier Biographien aus den Jahren 1984 und 2001 blieb sie die große Unbekannte. Den dritten Versuch, das Fleißersche Rätsel zu lösen, wagt Hiltrud Häntzschel. Die Münchner Literaturwissenschaftlerin schöpft aus bisher unbekannten Quellen, füllt Lücken und trägt Legenden ab.
Vor allem stellt Häntzschel Fleißer erstmals als selbstbestimmt Handelnde dar – und nicht mehr nur als Opfer von anderen, wie mancher Forscher und die Schriftstellerin es bisher gerne taten. Marieluise Fleißer wurde spätestens 1929 durch ihr zweites Stück, „Pioniere in Ingolstadt”, berühmt, ihr Werk wurde in der Künstlerszene verehrt und in bürgerlichen Kreisen verfemt. Diese Zerrissenheit setzte sich in ihrem Leben fort. Dem frühen Ruhm folgte der Absturz. Erst in den sechziger Jahren begann sie wieder zu schreiben. Fleißer kam in den siebziger Jahren nochmals zu Ruhm. Aber auch diesmal nur kurz. Sie starb 1974.
Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nennt Fleißer die bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Dennoch dauerte es mehr als 30 Jahre, bis die wahre Geschichte dieser faszinierenden, ehrgeizigen und verzweifelten Frau nachzulesen ist. Stefan Mayr
Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie, Insel, Frankfurt 2007, 410 Seiten, 22,80 Euro, ISBN-13: 978-3458173243
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007Furor und Fegefeuer im Tabakladen
Marieluise Fleißer in einer neuen Biographie / Von Beate Tröger
Man würde die späte Marieluise Fleißer eher für eine Handarbeitslehrerin als eine Skandalautorin halten. Dieser Schein trügt. Schärfe und strenge Beobachtung sozialer Verhältnisse zeichnen ihr Werk aus, der Furor ist bisweilen beängstigend. Mit realgrotesken Stücken in der Tradition von Bühnenschockern wie Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" oder Else Lasker-Schülers "Wupper" erregte sie Aufsehen. "Fegefeuer in Ingolstadt" (1923) machte sie bekannt. 1928 wurde "Pioniere in Ingolstadt" durch die Entjungferungsszene, die Brecht während der Proben eingebaut hatte, zum Skandal.
Die Münchner Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel stellt den Biographien von Sissi Tax (1984) und Carl-Ludwig Reichert (2001) eine weitere zur Seite. Reichert hatte angesichts der Selbststilisierungsstrategien über Marieluise Fleißer gesagt, sie sei stets Herrin ihrer Biographie geblieben. Zwar kommt grundsätzlich kein Biograph an Selbstzeugnissen vorbei. Fleißer hat allerdings ihr Leben nachträglich literarisch umgedeutet. Besonders im Verhältnis zu Brecht war sie weit weniger Opfer, als sie später behauptete. Hiltrud Häntzschel kommt auf materialreicher Basis und unter Bezug auf neu aufgefundene Briefe, dazu in angenehm unprätentiösem Ton, jedenfalls einem Desiderat nach.
1901 in Ingolstadt geboren, verließ die Schriftstellerin diesen Ort früh. Nach dem Internat in Regensburg ging sie nach München und begann während ihres Studiums der Theaterwissenschaft mit dem Schreiben. Lion Feuchtwanger war ihr früher Förderer. Nach der aufregenden Affäre mit dem Bohemien Alexander Weicker traf sie Brecht, der ihr Talent erkannte, mit ihr arbeitete und ihr einen Vorschussvertrag verschaffte. Marieluise Fleißer war erfolgreich. Ihr Plan, sich dauerhaft in Berlin niederzulassen, hatte keinen Erfolg. 1932 kehrte sie nach Ingolstadt zurück. Liebesbeziehungen waren gescheitert, sie heiratete den Tabakwarenhändler Joseph Haindl, das Gegenstück zu Weicker oder Hellmut Draws-Tychssen, der Marieluise Fleißer ausgenutzt und im Schreiben fatal beeinflusst hatte, so dass sie ihren Erfolg verspielte.
Die Rückkehr nach Ingolstadt diente der Selbstabsicherung. Mit romantischer Liebe muss die Ehe mit dem vormals abgewiesenen Haindl wenig zu tun gehabt haben. Fleißer kehrte in eine enge Welt zurück, in der weiten hatte sie keinen Halt gefunden. Nach dem Roman "Mehlreisende Frieda Geier" (1931) unterbrach sie ihr Schreiben, verkaufte im Tabakladen. Sie litt unter Depressionen und war nicht nur in Ingolstadt, wo sie als Nestbeschmutzerin galt, sondern überhaupt im nationalsozialistischen Deutschland eine "persona non grata", auch wenn sie nie mit Schreibverbot belegt wurde.
Nach dem Krieg versuchte sie sich wieder als Schriftstellerin zu etablieren. Erst Mitte der sechziger Jahre, nach dem Tod von Haindl, erlebte sie eine produktive Phase, ihr Werk eine Renaissance. Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr sahen in ihr eine geistige Ahnherrin. Elfriede Jelinek stellte Fleißers Werk über das von Brecht und nannte sie "die bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin des zwanzigsten Jahrhunderts". Marieluise Fleißer starb 1974, den späten Erfolg durfte sie nur kurz genießen. Es ist zu hoffen, dass Hiltrud Häntzschel die Aufmerksamkeit erneut auf das Werk und das Leben einer außergewöhnlichen Autorin richtet.
Hiltrud Häntzschel: "Marieluise Fleißer". Eine Biographie. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2007. 384 S., geb., 22,80 [Euro].
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Marieluise Fleißer in einer neuen Biographie / Von Beate Tröger
Man würde die späte Marieluise Fleißer eher für eine Handarbeitslehrerin als eine Skandalautorin halten. Dieser Schein trügt. Schärfe und strenge Beobachtung sozialer Verhältnisse zeichnen ihr Werk aus, der Furor ist bisweilen beängstigend. Mit realgrotesken Stücken in der Tradition von Bühnenschockern wie Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" oder Else Lasker-Schülers "Wupper" erregte sie Aufsehen. "Fegefeuer in Ingolstadt" (1923) machte sie bekannt. 1928 wurde "Pioniere in Ingolstadt" durch die Entjungferungsszene, die Brecht während der Proben eingebaut hatte, zum Skandal.
Die Münchner Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel stellt den Biographien von Sissi Tax (1984) und Carl-Ludwig Reichert (2001) eine weitere zur Seite. Reichert hatte angesichts der Selbststilisierungsstrategien über Marieluise Fleißer gesagt, sie sei stets Herrin ihrer Biographie geblieben. Zwar kommt grundsätzlich kein Biograph an Selbstzeugnissen vorbei. Fleißer hat allerdings ihr Leben nachträglich literarisch umgedeutet. Besonders im Verhältnis zu Brecht war sie weit weniger Opfer, als sie später behauptete. Hiltrud Häntzschel kommt auf materialreicher Basis und unter Bezug auf neu aufgefundene Briefe, dazu in angenehm unprätentiösem Ton, jedenfalls einem Desiderat nach.
1901 in Ingolstadt geboren, verließ die Schriftstellerin diesen Ort früh. Nach dem Internat in Regensburg ging sie nach München und begann während ihres Studiums der Theaterwissenschaft mit dem Schreiben. Lion Feuchtwanger war ihr früher Förderer. Nach der aufregenden Affäre mit dem Bohemien Alexander Weicker traf sie Brecht, der ihr Talent erkannte, mit ihr arbeitete und ihr einen Vorschussvertrag verschaffte. Marieluise Fleißer war erfolgreich. Ihr Plan, sich dauerhaft in Berlin niederzulassen, hatte keinen Erfolg. 1932 kehrte sie nach Ingolstadt zurück. Liebesbeziehungen waren gescheitert, sie heiratete den Tabakwarenhändler Joseph Haindl, das Gegenstück zu Weicker oder Hellmut Draws-Tychssen, der Marieluise Fleißer ausgenutzt und im Schreiben fatal beeinflusst hatte, so dass sie ihren Erfolg verspielte.
Die Rückkehr nach Ingolstadt diente der Selbstabsicherung. Mit romantischer Liebe muss die Ehe mit dem vormals abgewiesenen Haindl wenig zu tun gehabt haben. Fleißer kehrte in eine enge Welt zurück, in der weiten hatte sie keinen Halt gefunden. Nach dem Roman "Mehlreisende Frieda Geier" (1931) unterbrach sie ihr Schreiben, verkaufte im Tabakladen. Sie litt unter Depressionen und war nicht nur in Ingolstadt, wo sie als Nestbeschmutzerin galt, sondern überhaupt im nationalsozialistischen Deutschland eine "persona non grata", auch wenn sie nie mit Schreibverbot belegt wurde.
Nach dem Krieg versuchte sie sich wieder als Schriftstellerin zu etablieren. Erst Mitte der sechziger Jahre, nach dem Tod von Haindl, erlebte sie eine produktive Phase, ihr Werk eine Renaissance. Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr sahen in ihr eine geistige Ahnherrin. Elfriede Jelinek stellte Fleißers Werk über das von Brecht und nannte sie "die bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin des zwanzigsten Jahrhunderts". Marieluise Fleißer starb 1974, den späten Erfolg durfte sie nur kurz genießen. Es ist zu hoffen, dass Hiltrud Häntzschel die Aufmerksamkeit erneut auf das Werk und das Leben einer außergewöhnlichen Autorin richtet.
Hiltrud Häntzschel: "Marieluise Fleißer". Eine Biographie. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2007. 384 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In "angenehm unprätentiösem Ton" korrigiert die Münchner Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel die nachträgliche Selbststilisierung Marieluise Fleißers, lobt Beate Tröger. So sei Fleißer eben nicht nur Opfer Brechts gewesen, sondern habe von der Arbeitsbeziehung auch profitiert, wie Häntzschel auch anhand neu entdeckter Briefe "materialreich" nachweise. Ansonsten konzentriert sich die Rezensentin auf die Schilderung des Lebens der "außergewöhnlichen" Autorin und sagt nichts mehr zum Buch. Offenbar, weil sie keine Missstände entdecken konnte. Was hier als indirektes Lob gewertet wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es ist zu hoffen, dass sie die Aufmerksamkeit erneut auf das Werk und das Leben einer außergewöhnlichen Autorin richtet.« Frankfurter Allgemeine Zeitung