Dieser Roman ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Totalitarismus - in welcher Gestalt auch immer.
Eine Kindheit in Nazi-Deutschland, eine Jugend in der jungen DDR, ein Leben zwischen Anpassung und Verrat. In seiner großen Erzählung über das Werden und Scheitern des Jacob Kersting gelingt Rolf Schneider ein Roman, in dem sich Glaube und Irrtum des 20. Jahrhunderts spiegeln.
Eine Kindheit in Nazi-Deutschland, eine Jugend in der jungen DDR, ein Leben zwischen Anpassung und Verrat. In seiner großen Erzählung über das Werden und Scheitern des Jacob Kersting gelingt Rolf Schneider ein Roman, in dem sich Glaube und Irrtum des 20. Jahrhunderts spiegeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2010Held zögert, Autor auch
Rolf Schneiders Roman ist so unentschlossen wie seine Hauptfigur
Unter der Wiener Marienbrücke fließt das graue Wasser des Donaukanals. Ein geeigneter Ort, um sich hinunterzustürzen, zumindest aber wie Jacob Kersting, der Held in Rolf Schneiders Roman, über Selbstmord als "Phänomen der modernen österreichischen Kulturgeschichte" nachzudenken.
Jacob ist nicht zum ersten Mal in Wien, die Stadt kennt er so gut, dass er sich sofort zurechtfindet und seine Forschung über den Architekten und Künstler der Wiener Werkstätten, Josef Hoffmann, ohne zu zögern aufnehmen könnte. Doch Zögern ist eine seiner Schwächen, möglicherweise aber auch eine Eigenschaft, die ihn bis in sein sechsundfünfzigstes Lebensjahr gerettet hat.
Jacob Kersting, 1932 wie sein Erfinder in Chemnitz geboren und in der DDR aufgewachsen, ist Kunsthistoriker ohne große Fortune, aber auch ohne sich der SED anzudienen. Obwohl seine Ehe nur noch auf dem Papier besteht, lässt er sich von seinem Schwiegervater - auch der ein Kunsthistoriker, allerdings mit Parteibuch - protegieren.
Jacob, der Zauderer, schwankt, ob er sich, ein Jahr vor der Wende, für den Westen entscheiden soll oder nicht. Die Gelegenheit ist günstig, er darf sogar auf den Spuren von Hoffmann und seinen Zeitgenossen des Jugendstils nach Brüssel reisen. Aber dann spaziert er doch lieber wieder melancholisch in den vertrauten Straßen von Wien herum, stellt ein für Österreich typisch neurotisches Verhältnis zum Sterben fest und zitiert Jean Amérys Todesneigungen.
Der erwachsene Jacob in seiner Lebenskrise, von dem man einiges über den Beginn der Wiener Moderne - Adolf Loos oder Otto Wagner - sowie die aktuelle Kunstszene inklusive der Provokateure Hermann Nitsch und Otto Muehl erfährt, bestreitet den einen Teil dieses Romans. Der andere ist Jacobs Kindheit und Jugend gewidmet, die vermutlich viel Ähnlichkeit mit der von Rolf Schneider hat und von der er abwechselnd mit den späteren Jahren mühelos und lebendig erzählt.
Aufwachsen unter dem Hakenkreuz und danach unter Hammer und Sichel - das allein wäre ja Stoff genug für eine Erzählung. Der junge, mutterlose Jacob gewinnt auch sofort die Sympathie des Lesers. Sein Vater, Antinazi mit anarchosyndikalistischen Neigungen und deshalb aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, könnte sogar die interessanteste Figur sein, wenn Schneider für ihn ein wenig mehr Platz geschaffen hätte. Sie bleibt aber wie viele Darsteller in diesem Buch nur ein flüchtig skizzierter Typ.
Die Politik liefert Daten, nicht viel mehr. Manches ist nur aus dem Blätterwald zusammengetragen, was die Spannung nicht gerade erhöht.
Aus dem Buch über Josef Hoffmann, der bei aller Begabung ein Hypochonder und möglicherweise auch ein Opportunist gewesen sein soll, wird nichts, das ahnt der Leser bald und verliert das Interesse. Aufgerüttelt werden soll er womöglich durch Jacobs private Katastrophen: Sonja, seine Ehefrau, landet in der Psychiatrie; der Sohn, ein Rechtsradikaler, im Gefängnis. Doch da über die grob hingeworfene Schilderung hinaus wenig mehr zu erfahren ist, gewinnen diese Dramen keine Bedeutung.
Rolf Schneider war in der DDR ein erfolgreicher Dramatiker und vielseitiger Schriftsteller mit guten Kontakten in den Westen wie kaum ein anderer. Ein Langzeitvisum zu erhalten war für ihn offenbar kein Problem, bis er die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieb und darauf aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Mit seinem Roman "Marienbrücke" hat er zwar einige bemerkenswerte Einblicke in die DDR-Wirklichkeit geliefert, für ein Gesamtbild der letzten vierzig Jahre hat er sich jedoch den falschen Helden ausgesucht.
MARIA FRISÉ
Rolf Schneider: "Marienbrücke". Roman.
Osburg Verlag, Berlin 2009. 413 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rolf Schneiders Roman ist so unentschlossen wie seine Hauptfigur
Unter der Wiener Marienbrücke fließt das graue Wasser des Donaukanals. Ein geeigneter Ort, um sich hinunterzustürzen, zumindest aber wie Jacob Kersting, der Held in Rolf Schneiders Roman, über Selbstmord als "Phänomen der modernen österreichischen Kulturgeschichte" nachzudenken.
Jacob ist nicht zum ersten Mal in Wien, die Stadt kennt er so gut, dass er sich sofort zurechtfindet und seine Forschung über den Architekten und Künstler der Wiener Werkstätten, Josef Hoffmann, ohne zu zögern aufnehmen könnte. Doch Zögern ist eine seiner Schwächen, möglicherweise aber auch eine Eigenschaft, die ihn bis in sein sechsundfünfzigstes Lebensjahr gerettet hat.
Jacob Kersting, 1932 wie sein Erfinder in Chemnitz geboren und in der DDR aufgewachsen, ist Kunsthistoriker ohne große Fortune, aber auch ohne sich der SED anzudienen. Obwohl seine Ehe nur noch auf dem Papier besteht, lässt er sich von seinem Schwiegervater - auch der ein Kunsthistoriker, allerdings mit Parteibuch - protegieren.
Jacob, der Zauderer, schwankt, ob er sich, ein Jahr vor der Wende, für den Westen entscheiden soll oder nicht. Die Gelegenheit ist günstig, er darf sogar auf den Spuren von Hoffmann und seinen Zeitgenossen des Jugendstils nach Brüssel reisen. Aber dann spaziert er doch lieber wieder melancholisch in den vertrauten Straßen von Wien herum, stellt ein für Österreich typisch neurotisches Verhältnis zum Sterben fest und zitiert Jean Amérys Todesneigungen.
Der erwachsene Jacob in seiner Lebenskrise, von dem man einiges über den Beginn der Wiener Moderne - Adolf Loos oder Otto Wagner - sowie die aktuelle Kunstszene inklusive der Provokateure Hermann Nitsch und Otto Muehl erfährt, bestreitet den einen Teil dieses Romans. Der andere ist Jacobs Kindheit und Jugend gewidmet, die vermutlich viel Ähnlichkeit mit der von Rolf Schneider hat und von der er abwechselnd mit den späteren Jahren mühelos und lebendig erzählt.
Aufwachsen unter dem Hakenkreuz und danach unter Hammer und Sichel - das allein wäre ja Stoff genug für eine Erzählung. Der junge, mutterlose Jacob gewinnt auch sofort die Sympathie des Lesers. Sein Vater, Antinazi mit anarchosyndikalistischen Neigungen und deshalb aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, könnte sogar die interessanteste Figur sein, wenn Schneider für ihn ein wenig mehr Platz geschaffen hätte. Sie bleibt aber wie viele Darsteller in diesem Buch nur ein flüchtig skizzierter Typ.
Die Politik liefert Daten, nicht viel mehr. Manches ist nur aus dem Blätterwald zusammengetragen, was die Spannung nicht gerade erhöht.
Aus dem Buch über Josef Hoffmann, der bei aller Begabung ein Hypochonder und möglicherweise auch ein Opportunist gewesen sein soll, wird nichts, das ahnt der Leser bald und verliert das Interesse. Aufgerüttelt werden soll er womöglich durch Jacobs private Katastrophen: Sonja, seine Ehefrau, landet in der Psychiatrie; der Sohn, ein Rechtsradikaler, im Gefängnis. Doch da über die grob hingeworfene Schilderung hinaus wenig mehr zu erfahren ist, gewinnen diese Dramen keine Bedeutung.
Rolf Schneider war in der DDR ein erfolgreicher Dramatiker und vielseitiger Schriftsteller mit guten Kontakten in den Westen wie kaum ein anderer. Ein Langzeitvisum zu erhalten war für ihn offenbar kein Problem, bis er die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieb und darauf aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Mit seinem Roman "Marienbrücke" hat er zwar einige bemerkenswerte Einblicke in die DDR-Wirklichkeit geliefert, für ein Gesamtbild der letzten vierzig Jahre hat er sich jedoch den falschen Helden ausgesucht.
MARIA FRISÉ
Rolf Schneider: "Marienbrücke". Roman.
Osburg Verlag, Berlin 2009. 413 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Etwas konstruiert erscheint die Geschichte um den passiven Kunsthistoriker Kersting der Rezensentin. Dabei schätzt Franziska Augstein den Autor ansonsten ganz und gar nicht gering. Augstein lobt Rolf Schneiders sprachliche und erzählerische Fähigkeiten, sein Gespür für Tempo und sein "schönes" Deutsch. Dass die wechselweise von Kerstings Kindheit in der Nazizeit und von einem Arbeitsaufenthalt im Wien des Jahres 1988 erzählende Story nicht so richtig in die Gänge kommt, liegt laut Augstein an zweierlei: An dem unmotivierten "Abklappern" historischer Daten und dem gleichfalls nicht zwingend erscheinenden Auf- und Abtreten des Personals. Lebendigkeit, meint Augstein, kommt auf die Weise nicht zustande.
© Perlentaucher Medien GmbH
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