»Es ist wahr, dachte Marigold; es ist bloß nicht real.«
Getragen von unendlicher Neugierde, traurig und komisch zugleich und anders als alles, was Nobelpreisträgerin Louise Glück je geschrieben hat: die erstaunliche Chronik des ersten Jahres im Leben von Zwillingsmädchen.
Rose bezaubert mit ihrem Lächeln, sie ist abenteuerlustig, mutig und kommt ganz nach der Mutter. Marigold beobachtet, ist so zurückhaltend wie der Vater. Und sie will ein Buch über sich und ihre Zwillingsschwester schreiben - natürlich erst, wenn sie sprechen und lesen kann. Zwischen Badezeit und Mittagsschlaf, dem Kennenlernen mit der einen Großmutter und dem Abschiednehmen von der anderen versuchen Marigold und Rose, der Fragen in ihrem Kopf Herr zu werden. Warum ist meine Schwester so anders als ich? Ob Mutter mich lieber hat? Oder Vater? Darf ich denken, was ich denke? Und wie nur kann ich mich ohne Worte ausdrücken? Anhand dieses kleinsten Kosmos des ersten Lebensjahres beschreibt Louise Glückdas, was uns zu Menschen macht, untersucht das große Geheimnis der Sprache und das der Zeit, dessen, was ist und was war und was sein wird.
Getragen von unendlicher Neugierde, traurig und komisch zugleich und anders als alles, was Nobelpreisträgerin Louise Glück je geschrieben hat: die erstaunliche Chronik des ersten Jahres im Leben von Zwillingsmädchen.
Rose bezaubert mit ihrem Lächeln, sie ist abenteuerlustig, mutig und kommt ganz nach der Mutter. Marigold beobachtet, ist so zurückhaltend wie der Vater. Und sie will ein Buch über sich und ihre Zwillingsschwester schreiben - natürlich erst, wenn sie sprechen und lesen kann. Zwischen Badezeit und Mittagsschlaf, dem Kennenlernen mit der einen Großmutter und dem Abschiednehmen von der anderen versuchen Marigold und Rose, der Fragen in ihrem Kopf Herr zu werden. Warum ist meine Schwester so anders als ich? Ob Mutter mich lieber hat? Oder Vater? Darf ich denken, was ich denke? Und wie nur kann ich mich ohne Worte ausdrücken? Anhand dieses kleinsten Kosmos des ersten Lebensjahres beschreibt Louise Glückdas, was uns zu Menschen macht, untersucht das große Geheimnis der Sprache und das der Zeit, dessen, was ist und was war und was sein wird.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Was sind wohl die Hintergründe dieses Textes von Louise Glück, überlegt Rezensent Tobias Lehmkuhl und stellt ein paar Vermutungen an: Die Zwillingsbabies Marigold und Rose, in deren Innenwelt Glück uns versetzt, könnten für die Unvereinbarkeit des Schriftstellerlebens stehen, einerseits in der mehrfach codierten Welt der Wörter zu leben, so wie Marigold, und andererseits die Anforderungen des Alltags nicht aus den Augen zu verlieren, wie die pragmatischere Rose. Ein Zwiespalt, den die Autorin Lehmkuhl zufolge mit erzählerischer Flexibilität und ohne dogmatische Vorgaben, sich für eine Sichtweise zu entscheiden, erschreibt - wie die Widmung vermuten lässt, vielleicht für ihre Enkelkinder. So oder so ist der Text aber vor allem für Erwachsene eine lohnende Lektüre, versichert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2024Himmel ist zweifelhaft
Der letzte Text von Louise Glück
Was hat es zu bedeuten, wenn eine achtzigjährige Schriftstellerin eine Erzählung über zwei Babys veröffentlicht? Was hat die Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück bewegt, kurz vor ihrem Tod ein Prosastück über Zwillingsschwestern zu schreiben, die nicht einmal ein Jahr alt sind? Ist das die Kühnheit des Alters? Oder steckt dahinter die Gewissheit, Tod und Geburt seien nur durch einen schmalen, wenn auch unergründlichen Spalt voneinander getrennt, Greis und Säugling sich also näher, als man gemeinhin denkt?
Vielleicht ist die Antwort simpler und bar jeder metaphysischen Implikation, denn augenscheinlich geht es Louise Glück darum, in den Schwestern Marigold und Rose (so auch der Titel der Erzählung) zwei gegensätzliche Charaktere zu schildern, zwei Prinzipien, mit der Welt in Beziehung zu treten: Da wäre einmal Marigold, die naturgemäß weder lesen noch schreiben, ja nicht einmal sprechen kann, innerlich aber schon an einem Buch arbeitet; sie ist diejenige der beiden, die sich ihre Welt im Kopf erschafft, die in Bildern denkt, die überlegt, "das Sprechen einfach zu überspringen und auf das Schreiben zu warten". Rose dagegen nimmt die Welt, wie sie ist, für sie liegt kein Geheimnis in den Dingen, sie fragt sich nicht, worin der Unterschied besteht, wenn die Großmutter in den Himmel geht und der Vater zur Arbeit.
Der Verdacht liegt also nahe, dass Louise Glück mit dieser Erzählung gegen Ende ihres Lebens noch einmal Bilanz ziehen und sich mit ihrer prekären Stellung als Schriftstellerin auseinandersetzen wollte. Einerseits den Anforderungen des alltäglichen Lebens zu entsprechen, all die Dinge zu tun, die man, will man nicht verrückt werden, unhinterfragt tun muss: aufstehen, einkaufen, kochen, Geld verdienen, gesellig sein - kurz, zu funktionieren. Andererseits in einer Welt der Wörter zu leben, einer Welt zweiter Ordnung, einer Welt, die die eigentliche Welt des Hier und Jetzt infrage stellt, einer Welt des Traums: "Marigold träumte einen Traum. In dem Traum war sie ein Einzelkind, und Rose war verschwunden. Vielleicht hatte sie beschlossen, nicht auf die Welt zu kommen. Die schöne, liebenswerte Rose. Denn wenn sie auf die Welt gekommen wäre, hätte sie bestimmt jemandem gehört, vermutlich Mutter und Vater. Sie war ein Baby, das alle Leute für sich beanspruchen und dann schnell mit nach Hause nehmen würden, bevor die anderen Eltern auch nur einen Blick darauf werfen konnten. So ein Baby war Marigold nicht. Marigold war schwierig. Tja, das ganze Leben ist schwierig, dachte sie."
Die Idee, diesem Zwiespalt nachzuspüren, indem man ihn in die Innenleben von präverbalen Zwillingsschwestern verlegt, besitzt durchaus Charme. Durch die naturgemäß innige Verbundenheit Marigolds und Roses wird er nicht als Widerstreit inszeniert, kein Schwarz-Weiß, Plus oder Minus. Man wird als Leser oder Leserin nicht gedrängt, sich für eine Seite zu entscheiden. Das Bild von den zwei Herzen in einer Brust trifft es dabei nicht ganz, denn es geht vor allem um Köpfe, um unterschiedliche Veranlagungen, die sich jedoch nicht vom Ausschluss der jeweils anderen nähren: Marigold lebt zugleich in der Welt sozialer Übereinkünfte und wird sich damit arrangieren; Rose weiß als Zwillingsschwester, dass für Marigold die Welt nicht an den Gittern des Laufstalls endet, und wird auch diese, ihr unzugängliche Welt als Realität akzeptieren.
Kurze Kapitel, viele Absätze: Form und Sprache des kaum fünfzigseitigen, locker gesetzten Textes wirken auf den ersten Blick, als würde es sich um eine Erzählung für Kinder handeln. Die Widmung "Für Emmy und Lizzy" könnte darauf hindeuten, dass sie auch für solche, womöglich die Enkelkinder der Autorin, geschrieben wurde. Einjährigen aber wird man sie sicher nicht vorlesen, wenngleich die Vorstellung von Kindern, die, ohne über Worte zu verfügen, in Worten denken, dem Leser und der Leserin eine gewisse logische Flexibilität und kindliche Offenheit abverlangt. Nicht zuletzt der leise Humor ist eher an Erwachsene adressiert. Tatsächlich hält nach dem Tod der Großmutter selbst Rose die Erklärung der Mutter, der Himmel wäre ein wunderschöner, ferner Ort, wo geliebte Menschen glücklich lebten, für einigermaßen zweifelhaft. TOBIAS LEHMKUHL
Louise Glück:
"Marigold und Rose".
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. Luchterhand
Literaturverlag,
München 2024.
64 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Der letzte Text von Louise Glück
Was hat es zu bedeuten, wenn eine achtzigjährige Schriftstellerin eine Erzählung über zwei Babys veröffentlicht? Was hat die Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück bewegt, kurz vor ihrem Tod ein Prosastück über Zwillingsschwestern zu schreiben, die nicht einmal ein Jahr alt sind? Ist das die Kühnheit des Alters? Oder steckt dahinter die Gewissheit, Tod und Geburt seien nur durch einen schmalen, wenn auch unergründlichen Spalt voneinander getrennt, Greis und Säugling sich also näher, als man gemeinhin denkt?
Vielleicht ist die Antwort simpler und bar jeder metaphysischen Implikation, denn augenscheinlich geht es Louise Glück darum, in den Schwestern Marigold und Rose (so auch der Titel der Erzählung) zwei gegensätzliche Charaktere zu schildern, zwei Prinzipien, mit der Welt in Beziehung zu treten: Da wäre einmal Marigold, die naturgemäß weder lesen noch schreiben, ja nicht einmal sprechen kann, innerlich aber schon an einem Buch arbeitet; sie ist diejenige der beiden, die sich ihre Welt im Kopf erschafft, die in Bildern denkt, die überlegt, "das Sprechen einfach zu überspringen und auf das Schreiben zu warten". Rose dagegen nimmt die Welt, wie sie ist, für sie liegt kein Geheimnis in den Dingen, sie fragt sich nicht, worin der Unterschied besteht, wenn die Großmutter in den Himmel geht und der Vater zur Arbeit.
Der Verdacht liegt also nahe, dass Louise Glück mit dieser Erzählung gegen Ende ihres Lebens noch einmal Bilanz ziehen und sich mit ihrer prekären Stellung als Schriftstellerin auseinandersetzen wollte. Einerseits den Anforderungen des alltäglichen Lebens zu entsprechen, all die Dinge zu tun, die man, will man nicht verrückt werden, unhinterfragt tun muss: aufstehen, einkaufen, kochen, Geld verdienen, gesellig sein - kurz, zu funktionieren. Andererseits in einer Welt der Wörter zu leben, einer Welt zweiter Ordnung, einer Welt, die die eigentliche Welt des Hier und Jetzt infrage stellt, einer Welt des Traums: "Marigold träumte einen Traum. In dem Traum war sie ein Einzelkind, und Rose war verschwunden. Vielleicht hatte sie beschlossen, nicht auf die Welt zu kommen. Die schöne, liebenswerte Rose. Denn wenn sie auf die Welt gekommen wäre, hätte sie bestimmt jemandem gehört, vermutlich Mutter und Vater. Sie war ein Baby, das alle Leute für sich beanspruchen und dann schnell mit nach Hause nehmen würden, bevor die anderen Eltern auch nur einen Blick darauf werfen konnten. So ein Baby war Marigold nicht. Marigold war schwierig. Tja, das ganze Leben ist schwierig, dachte sie."
Die Idee, diesem Zwiespalt nachzuspüren, indem man ihn in die Innenleben von präverbalen Zwillingsschwestern verlegt, besitzt durchaus Charme. Durch die naturgemäß innige Verbundenheit Marigolds und Roses wird er nicht als Widerstreit inszeniert, kein Schwarz-Weiß, Plus oder Minus. Man wird als Leser oder Leserin nicht gedrängt, sich für eine Seite zu entscheiden. Das Bild von den zwei Herzen in einer Brust trifft es dabei nicht ganz, denn es geht vor allem um Köpfe, um unterschiedliche Veranlagungen, die sich jedoch nicht vom Ausschluss der jeweils anderen nähren: Marigold lebt zugleich in der Welt sozialer Übereinkünfte und wird sich damit arrangieren; Rose weiß als Zwillingsschwester, dass für Marigold die Welt nicht an den Gittern des Laufstalls endet, und wird auch diese, ihr unzugängliche Welt als Realität akzeptieren.
Kurze Kapitel, viele Absätze: Form und Sprache des kaum fünfzigseitigen, locker gesetzten Textes wirken auf den ersten Blick, als würde es sich um eine Erzählung für Kinder handeln. Die Widmung "Für Emmy und Lizzy" könnte darauf hindeuten, dass sie auch für solche, womöglich die Enkelkinder der Autorin, geschrieben wurde. Einjährigen aber wird man sie sicher nicht vorlesen, wenngleich die Vorstellung von Kindern, die, ohne über Worte zu verfügen, in Worten denken, dem Leser und der Leserin eine gewisse logische Flexibilität und kindliche Offenheit abverlangt. Nicht zuletzt der leise Humor ist eher an Erwachsene adressiert. Tatsächlich hält nach dem Tod der Großmutter selbst Rose die Erklärung der Mutter, der Himmel wäre ein wunderschöner, ferner Ort, wo geliebte Menschen glücklich lebten, für einigermaßen zweifelhaft. TOBIAS LEHMKUHL
Louise Glück:
"Marigold und Rose".
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné. Luchterhand
Literaturverlag,
München 2024.
64 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Genau so muss der Gedankenstrom klingen, wenn ein frisch geschlüpftes Bewusstsein versucht, sich einen Reim auf all das Neue zu machen.« Ijoma Mangold / Die Zeit