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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2004

Die Ewigkeit ist ein Bücherschrank
Am Rand des Schlafs: Richard Anders dichtet mit und ohne Drogen

Die sogenannten hypnagogischen - "den Schlaf heraufführenden" - Figuren sind nur einer Minorität von Menschen aus eigenem Erleben bekannt; man kann in der klinischen Literatur über sie nachlesen. Es sind medizinisch harm- und bedeutungslose, aber durchaus seltsame Deformationen der optischen Wahrnehmung, Halluzinationen, die sich am Rande des Schlafes einstellen. Karl Kraus, der offenbar regelmäßig von ihnen Besuch bekam ("Lustige Gemeinde, / lauter gute Feinde, / doch durchbohrend dünkt mir jener Blick"), hat einige Gedichte über sie geschrieben.

Ein kleines Buch setzt sich hartnäckig mit diesem scheinbar marginalen Phänomen auseinander und kommt dabei auf Grundprobleme der menschlichen Kognition und Phantasie. Richard Anders tritt in "Wolkenlesen" als Zitatmonteur auf, als ein Sammler von verstreuten Erfahrungsbelegen für solche Grenzzustände bei Tieck und Julien Green, Charles Lamb und Blake - als einer jener Fassadenkletterer, von denen Benjamin gesagt hat, ihnen müßten "alle Ornamente zum besten dienen". Er schreibt den - im nie endenden Befremden manchmal plötzlich stockenden - Hymnus auf die Einbildungskraft, deren unbegrenzte Fähigkeit, sich beunruhigen zu lassen, kostbar und rätselhaft ist, fast unheimlich. Sie schafft sich überall ihre Gegenwelten, aus nichtigem Anlaß, und Anders gehört zu jenen Ästhetikern, die nicht von den großen Reizen des Erhabenen beeindruckt sind, sondern von den Winzigkeiten, dem Abhub, den Zufallsbildern, den Flecken an den alten Mauern, deren Studium Leonardo dem Künstler empfohlen hat.

Seine Beobachtungen nähren sich, für die deutsche Literatur ungewöhnlich genug, direkt aus Surrealismus (er ist Breton noch begegnet); sie zeigen vor allem aber auch eine unmittelbare persönliche Irritation. Man glaubt zu spüren, daß Anders ein Geheimnis des eigenen Nervensystems begreifen möchte, das den 1928 Geborenen seit seiner Kindheit irritiert und fasziniert. Er studiert etwas, das ihn fremd und seltsam vertraut anschaut, das sich immer wieder als unbegreiflich tiefe Trivialität präsentiert. Diese private Färbung des Unternehmens rettet die zusammengetragenen Trouvaillen vor der Beliebigkeit irgendeines Zettelkastens voll Material zu einem lediglich "interessanten" Phänomen. Anders hat mit Drogen experimentiert. "Eine tiefe Einsicht in die prälogische Welt des Unbewußten erhielt ich in den sechziger Jahren durch LSD- und Psilocybinsitzungen." Der Rausch hat auch die Poesie von Anders' Protokollen in dem Band "Marihuana Hypnagogica" hervorgebracht; das "Wolkenlesen" endet jedoch mit der Eliminierung der Droge aus der écriture automatique: "Im Jahre 2001 habe ich zum ersten Mal eine Folge ohne Marihuana diktiert. Zu meiner eigenen Überraschung zeigte das Ergebnis keinen signifikanten Unterschied zu den anderen Folgen."

Die Texte in "Wolkenlesen" sind ein wichtiger Beitrag zu einem Problem, das neurologisch wie poetologisch aufgefaßt werden kann. Lichtenberg hat es unnachahmlich mit Sätzen formuliert, die Richard Anders als Motto dienen: "Shakespeare hat eine besondere Gabe, das Närrische auszudrücken, Empfindungen und Gedanken zu malen und auszudrücken, die man kurz vor dem Einschlafen oder in leichtem Fieber hat. Mir ist alsdann schon oft ein Mann wie eine Einmaleins-Tafel vorgekommen und die Ewigkeit wie ein Bücherschrank. Er müßte vortrefflich kühlen, sagte ich, und meinte den Satz des Widerspruchs, ich hatte ihn ganz eßbar vor mir gesehen."

JOACHIM KALKA

Richard Anders: "Wolkenlesen". Über hypnagoge Halluzinationen, automatisches Schreiben und andere Inspirationsquellen. Verlag Wiecker Bote, Greifswald 2003. 168 S., geb., 15,- [Euro].

Richard Anders: "Marihuana Hypnagogica". Protokolle. Druckhaus Galrev, Berlin 2002. 148 S., geb., 20,- [Euro].

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