Als Óscar Drai das Mädchen Marina trifft, ahnt er nicht, dass sie sein Leben für immer verändern wird. Mit ihrem Vater lebt sie in einer alten Villa wie in einer vergangenen Zeit. Marina bringt Óscar auf die Spur einer mysteriösen Dame in Schwarz, und bald befinden sich die beiden mitten in einem Albtraum aus Trauer, Wut und Größenwahn, der alles Glück zu zerstören droht. Nur kurz vor seinen Weltbestsellern >Der Schatten des Windes<, >Das Spiel des Engels< und >Der Gefangene des Himmels< schuf Carlos Ruiz Zafón >Marina<. Erstmals beschwört Zafón sein unnachahmliches Barcelona herauf und erzählt die dramatische Geschichte eines jungen Mannes, der um sein Glück und seine große Liebe kämpft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2011Das Phantom des Gran Teatro Real
Bestsellerträchtiges Schauermärchen aus Barcelona: Carlos Ruiz Zafón versenkt in seinem Frühwerk "Marina" die romantische Seele in der spanischen Kanalisation.
Carlos Ruiz Zafón gefiel der kryptische Satz "Wir erinnern uns nur an das, was nie geschehen ist" offenbar so gut, dass er ihn jeder Hauptfigur von "Marina" mindestens einmal in den Mund legen und im Vorwort auch für sich selbst reklamieren musste. Wie der junge Oscar Drai besuchte er einst ein Jesuiteninternat in der Sarrià, einem Villenviertel am Rande Barcelonas. Vielleicht ist das schon das Geheimnis, das wir alle "im Dachgeschoss der Seele" unter Verschluss halten. Zafón hat seines jedenfalls gut gehütet.
"Marina", angeblich sein Lieblingsroman, entstand 1996/97 in Los Angeles, als ihm die Jugend "mit der Geschwindigkeit eines Ozeandampfers zu entgleiten drohte". Bis dahin hatte er nur drei Jugendromane veröffentlicht; "Marina" sollte den Übergang zu einer "ehrgeizigeren und persönlicheren" Form des Erzählens markieren. Dass sich sein deutscher Verlag erst jetzt daran erinnert, hat allerdings seine Gründe. "Marina" ist zwar nur ein kitschiger Schauerroman für die reifere Jugend, aber eine Million Leser können nicht irren: Nach den Bestsellern "Der Schatten des Windes" und "Das Spiel des Engels" konnte man dem Publikum Zafóns Frühwerk nicht länger vorenthalten.
Das "Dachgeschoss der Seele" ist die Rumpelkammer der schwarzen Romantik, eine Freakshow monströser Abnormitäten. Alles, was in den Schauerromanen des neunzehnten Jahrhunderts Rang und Namen hatte, schleicht in "Marina" durch die Gassen und Abwasserkanäle des alten Barcelona: Faust- und Golem-Sagen, siamesische Zwillinge und deutsche Schäferhunde, Grabschänder und Leichenräuber, lebende Marionetten, untote Kreaturen und gotische Wasserspeier, "Der Graf von Monte Cristo" und E. T. A. Hoffmanns "Sandmann", die mad scientists und verrückten Millionäre Jules Vernes und Villiers de L'Isle-Adams "Künftige Eva".
Ewa, die russische Sängerin, ist das wiedergeborene Phantom der Oper: Seit ihr Ziehvater durch ein Säureattentat ihre Schönheit und Stimme zerstörte, spukt sie unerlöst durch das Gran Teatro Real. Ihr Wohltäter ist ein Doktor Frankenstein, der in Prag aus der Kanalisation kroch und in Barcelona mit der Erfindung genialer Prothesen unermesslich reich wurde; seine Tochter heißt Maria Shelley. So wie dieser degenerierte Künstler aus Leichenteilen künstliche Gliedmaßen und "Ausgeburten der Hölle" zusammenflickt, ist auch Zafóns Roman eklektisches Flickwerk, künstlich belebt durch Elektroschocks und Elixiere aus Schmetterlingen, die "Teufel" heißen und ihre Brut fressen.
Dabei beginnt "Marina" klassisch harmlos. Oscar stiehlt sich bei Tageslicht aus seiner jesuitischen Harry-Potter-Trutzburg und entdeckt auf seinen Streifzügen durch die Umgebung eine verfallene Villa, die von einem dekadenten Maler und seiner ebenso schönen wie schwermütigen Tochter Marina bewohnt wird. Weil Oscar ein netter Junge, wenn nicht gar ein "ahnungsloser Einfaltspinsel" und "Marina" absolut jugendfrei ist, entlädt sich die erotische Spannung nur in keuschen Küssen und länglichen Erzählungen im Schein flackernder Kerzen. Umso wüster geht es freilich außerhalb des verwunschenen Hauses zur Sache: Zafóns Barcelona ist ein Pandämonium unheimlicher Schatten, schwefliger Dünste und kannibalischer Zombies. Im alten Gewächshaus tanzen kopflose Puppen, Missgeburten und Monster; in der Kanalisation heulen und schmatzen gallertartige Ghuls, bis selbst die Gullys (jedenfalls in der deutschen Übersetzung) zu brüllen beginnen. Kein Licht, nirgends, nur Spinnweb, Leichengeruch und unaufhörlich trommelnder Regen. Das muffige Märchen spielt im Jahr 1980, aber kein Barcelona-Touristen wundert sich, wenn nachts Droschken mit unheimlichen Kutschern durchs Barrio Gótico jagen. "Künstler leben in der Zukunft oder in der Vergangenheit", erklärt die angehende Schriftstellerin Marina einmal, "niemals in der Gegenwart."
Zafón erzeugt nicht einmal ungeschickt klaustrophobe Spannung und eine morbide Atmosphäre. Allerdings trägt er den Hautgout von Moder und Magie immer eine Spur zu dick und kostbar auf. Nicht nur Marinas bleiche Schönheit leuchtet hell im Mondlicht: Wenn Kater Kafka einen Spatz frisst, leuchten selbst die Blutstropfen wie "scharlachrote Perlen" im letzten Abendlicht. Der Regen ist ein goldener Tränenvorhang, die Dämmerung eine gräuliche Marmorwand, der Himmel ein bleierner Grabstein, und das Meer atmet wie ein "versteinerter Wal". Leider wird der edle Schimmer der Nacht durch die flapsige Übersetzung immer wieder in ein unfreiwillig komisches Zwielicht getaucht. Wo anderen das Herz in die Hose rutscht, trägt Oscar "die Seele zuunterst in der Hosentasche". Nicht einmal im Bahnhof geht es mit rechten Dingen zu: "Der Zug fuhr in vollem Galopp ein und peilte sein Gleis an."
Am Ende geht Oscar dennoch gereift aus dem Hexensabbat hervor. Dass er Dessous für seine todkranke Geliebte kauft, darf man wohl als magisches Zeichen für seine verlorene Unschuld deuten. Das alte Barcelona ist dahin, Inspektor Florian, der wackere Aufklärer, stirbt in der Kanalisation, und zuletzt haucht auch Marina ihre schwindsüchtige Seele aus. "Manchmal zweifle ich an meinem Gedächtnis", sinniert Oscar zuletzt, "und frage mich, ob ich mich einzig an das werde erinnern können, was niemals geschah. Marina, du hast alle Antworten mitgenommen." Carlos Ruiz Zafón hat mit diesem wenig erinnerungswürdigen Frühwerk wenigstens Abschied von Gespenstern seiner Jugend genommen.
MARTIN HALTER
Carlos Ruiz Zafón: "Marina". Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011. 350 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bestsellerträchtiges Schauermärchen aus Barcelona: Carlos Ruiz Zafón versenkt in seinem Frühwerk "Marina" die romantische Seele in der spanischen Kanalisation.
Carlos Ruiz Zafón gefiel der kryptische Satz "Wir erinnern uns nur an das, was nie geschehen ist" offenbar so gut, dass er ihn jeder Hauptfigur von "Marina" mindestens einmal in den Mund legen und im Vorwort auch für sich selbst reklamieren musste. Wie der junge Oscar Drai besuchte er einst ein Jesuiteninternat in der Sarrià, einem Villenviertel am Rande Barcelonas. Vielleicht ist das schon das Geheimnis, das wir alle "im Dachgeschoss der Seele" unter Verschluss halten. Zafón hat seines jedenfalls gut gehütet.
"Marina", angeblich sein Lieblingsroman, entstand 1996/97 in Los Angeles, als ihm die Jugend "mit der Geschwindigkeit eines Ozeandampfers zu entgleiten drohte". Bis dahin hatte er nur drei Jugendromane veröffentlicht; "Marina" sollte den Übergang zu einer "ehrgeizigeren und persönlicheren" Form des Erzählens markieren. Dass sich sein deutscher Verlag erst jetzt daran erinnert, hat allerdings seine Gründe. "Marina" ist zwar nur ein kitschiger Schauerroman für die reifere Jugend, aber eine Million Leser können nicht irren: Nach den Bestsellern "Der Schatten des Windes" und "Das Spiel des Engels" konnte man dem Publikum Zafóns Frühwerk nicht länger vorenthalten.
Das "Dachgeschoss der Seele" ist die Rumpelkammer der schwarzen Romantik, eine Freakshow monströser Abnormitäten. Alles, was in den Schauerromanen des neunzehnten Jahrhunderts Rang und Namen hatte, schleicht in "Marina" durch die Gassen und Abwasserkanäle des alten Barcelona: Faust- und Golem-Sagen, siamesische Zwillinge und deutsche Schäferhunde, Grabschänder und Leichenräuber, lebende Marionetten, untote Kreaturen und gotische Wasserspeier, "Der Graf von Monte Cristo" und E. T. A. Hoffmanns "Sandmann", die mad scientists und verrückten Millionäre Jules Vernes und Villiers de L'Isle-Adams "Künftige Eva".
Ewa, die russische Sängerin, ist das wiedergeborene Phantom der Oper: Seit ihr Ziehvater durch ein Säureattentat ihre Schönheit und Stimme zerstörte, spukt sie unerlöst durch das Gran Teatro Real. Ihr Wohltäter ist ein Doktor Frankenstein, der in Prag aus der Kanalisation kroch und in Barcelona mit der Erfindung genialer Prothesen unermesslich reich wurde; seine Tochter heißt Maria Shelley. So wie dieser degenerierte Künstler aus Leichenteilen künstliche Gliedmaßen und "Ausgeburten der Hölle" zusammenflickt, ist auch Zafóns Roman eklektisches Flickwerk, künstlich belebt durch Elektroschocks und Elixiere aus Schmetterlingen, die "Teufel" heißen und ihre Brut fressen.
Dabei beginnt "Marina" klassisch harmlos. Oscar stiehlt sich bei Tageslicht aus seiner jesuitischen Harry-Potter-Trutzburg und entdeckt auf seinen Streifzügen durch die Umgebung eine verfallene Villa, die von einem dekadenten Maler und seiner ebenso schönen wie schwermütigen Tochter Marina bewohnt wird. Weil Oscar ein netter Junge, wenn nicht gar ein "ahnungsloser Einfaltspinsel" und "Marina" absolut jugendfrei ist, entlädt sich die erotische Spannung nur in keuschen Küssen und länglichen Erzählungen im Schein flackernder Kerzen. Umso wüster geht es freilich außerhalb des verwunschenen Hauses zur Sache: Zafóns Barcelona ist ein Pandämonium unheimlicher Schatten, schwefliger Dünste und kannibalischer Zombies. Im alten Gewächshaus tanzen kopflose Puppen, Missgeburten und Monster; in der Kanalisation heulen und schmatzen gallertartige Ghuls, bis selbst die Gullys (jedenfalls in der deutschen Übersetzung) zu brüllen beginnen. Kein Licht, nirgends, nur Spinnweb, Leichengeruch und unaufhörlich trommelnder Regen. Das muffige Märchen spielt im Jahr 1980, aber kein Barcelona-Touristen wundert sich, wenn nachts Droschken mit unheimlichen Kutschern durchs Barrio Gótico jagen. "Künstler leben in der Zukunft oder in der Vergangenheit", erklärt die angehende Schriftstellerin Marina einmal, "niemals in der Gegenwart."
Zafón erzeugt nicht einmal ungeschickt klaustrophobe Spannung und eine morbide Atmosphäre. Allerdings trägt er den Hautgout von Moder und Magie immer eine Spur zu dick und kostbar auf. Nicht nur Marinas bleiche Schönheit leuchtet hell im Mondlicht: Wenn Kater Kafka einen Spatz frisst, leuchten selbst die Blutstropfen wie "scharlachrote Perlen" im letzten Abendlicht. Der Regen ist ein goldener Tränenvorhang, die Dämmerung eine gräuliche Marmorwand, der Himmel ein bleierner Grabstein, und das Meer atmet wie ein "versteinerter Wal". Leider wird der edle Schimmer der Nacht durch die flapsige Übersetzung immer wieder in ein unfreiwillig komisches Zwielicht getaucht. Wo anderen das Herz in die Hose rutscht, trägt Oscar "die Seele zuunterst in der Hosentasche". Nicht einmal im Bahnhof geht es mit rechten Dingen zu: "Der Zug fuhr in vollem Galopp ein und peilte sein Gleis an."
Am Ende geht Oscar dennoch gereift aus dem Hexensabbat hervor. Dass er Dessous für seine todkranke Geliebte kauft, darf man wohl als magisches Zeichen für seine verlorene Unschuld deuten. Das alte Barcelona ist dahin, Inspektor Florian, der wackere Aufklärer, stirbt in der Kanalisation, und zuletzt haucht auch Marina ihre schwindsüchtige Seele aus. "Manchmal zweifle ich an meinem Gedächtnis", sinniert Oscar zuletzt, "und frage mich, ob ich mich einzig an das werde erinnern können, was niemals geschah. Marina, du hast alle Antworten mitgenommen." Carlos Ruiz Zafón hat mit diesem wenig erinnerungswürdigen Frühwerk wenigstens Abschied von Gespenstern seiner Jugend genommen.
MARTIN HALTER
Carlos Ruiz Zafón: "Marina". Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011. 350 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2011Über den Dächern von Barcelona
Carlos Ruiz Zafón wandelt in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Roman „Marina“ auf der Blutspur der Schauerromantik
Mitten in der Nacht wacht Óscar auf. Beim Einschlafen hat er das Bild des Mädchens, in das er sich verliebt hat, in der Hand gehalten. Jetzt ist es verschwunden. Óscar tastet sich durch den dunklen Korridor des Internats, das kurz vor den Weihnachtsferien weitgehend verlassen ist. In einem benachbarten Zimmer wird er von einer furchtbaren Mischgestalt aus Mensch und Tier angegriffen, die über blitzende Eckzähne und lange, scharfe Fingernägel verfügt. Óscar verteidigt sich mit einem Küchenmesser. Die „höllische Erscheinung“ springt aus einem Fenster, saust mit flatterndem Cape ein Abflussrohr hinunter und jagt dann „panthergleich und mit unmöglichen Pirouetten“ davon, „als wären die Dächer von Barcelona ihr Dschungel“.
Óscar ist fünfzehn, ein träumerischer, einsamer Junge. Am frühen Abend, wenn er Ausgang hat, streift er gerne durch das Viertel in der Nähe seiner Schule. Im Jahr 1979 stehen hier, teils heruntergekommen, teils als Ruinen, noch viele der Herrschaftsvillen aus der Zeit der katalanischen Belle Époque. In einer von ihnen stößt Óscar auf Germán, einen Maler, der nach dem Tod seiner Frau keinen Pinsel mehr angerührt hat und alleine mit einem Kater namens Kafka und seiner halbwüchsigen Tochter Marina lebt. Òscar und Marina werden unzertrennlich. Und sie geraten, als sie eines Tages auf einem alten Friedhof verweilen, in ein unglaubliches Abenteuer.
„Marina“ ist kein neues Werk von Carlos Ruiz Zafón, sondern wurde im Original schon 1999 veröffentlicht. Vorher hatte der Autor, wie er im Vorwort erläutert, drei Bücher für Jugendliche verfasst; nun versuchte er, eine neue, eigene Stimme zu finden. Diese literarische Ambition hat sich in dem Roman zunächst in stilistischer Hinsicht niedergeschlagen. Zafón ist sichtbar darum bemüht, nicht nur die Handlung voranzutreiben, sondern immer wieder starke Bilder zu finden – und sei es um den Preis einer erheblichen Gesuchtheit im Ausdruck. Wenn die Sonne scheint und es dabei kräftig regnet, schreiten Óscar und Marina durch einen „goldenen Tränenvorhang“, und eine düstere Vorgewitterstimmung wird so beschrieben: „Der Himmel glich einem bleiernen Grabstein, die Straßenlaternen brannten wie Streichhölzer.“
Für die Handlung schöpft Zafón mit enzyklopädischer Gründlichkeit aus dem Repertoire des Schauerromans. Ständig zucken Blitze, steinerne Engel bewachen Brunnen, Puppen erwachen zu mörderischem Leben, und mitten durch die moderne Großstadt rollt holpernd eine Kutsche, in der eine tiefverschleierte Dame in Schwarz sitzt. Ein alter, dämonischer Arzt heißt Shelley – wie Mary W. Shelley, die einst als Erste von Frankenstein und seinem Monster erzählte. „Marina“ ist eine Variation dieses unerschöpflichen Mythos; in den Kulissen des Romans gespenstern aber auch E. T. A. Hoffmann und Gaston Leroux’ „Phantom der Oper“.
Ist so etwas auszuhalten? Alles in allem: Erstaunlich gut! Man kann dieses Buch sogar dem später verfassten, aber weit weniger bündigen „Schatten des Windes“ vorziehen. „Marina“ ist nicht die Vorstufe dieses Weltbestsellers, sondern dessen Kondensat, eine fiebrige, ohne Umschweife erzählte Knabenphantasie. Wer als Leser bereit ist, sich ab und an einen leicht regressiven Spaß zu gönnen, der kann ihn hier bekommen, und zwar jede Menge davon.
CHRISTOPH HAAS
CARLOS RUIZ ZAFÓN: Marina. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 350 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Carlos Ruiz Zafón wandelt in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Roman „Marina“ auf der Blutspur der Schauerromantik
Mitten in der Nacht wacht Óscar auf. Beim Einschlafen hat er das Bild des Mädchens, in das er sich verliebt hat, in der Hand gehalten. Jetzt ist es verschwunden. Óscar tastet sich durch den dunklen Korridor des Internats, das kurz vor den Weihnachtsferien weitgehend verlassen ist. In einem benachbarten Zimmer wird er von einer furchtbaren Mischgestalt aus Mensch und Tier angegriffen, die über blitzende Eckzähne und lange, scharfe Fingernägel verfügt. Óscar verteidigt sich mit einem Küchenmesser. Die „höllische Erscheinung“ springt aus einem Fenster, saust mit flatterndem Cape ein Abflussrohr hinunter und jagt dann „panthergleich und mit unmöglichen Pirouetten“ davon, „als wären die Dächer von Barcelona ihr Dschungel“.
Óscar ist fünfzehn, ein träumerischer, einsamer Junge. Am frühen Abend, wenn er Ausgang hat, streift er gerne durch das Viertel in der Nähe seiner Schule. Im Jahr 1979 stehen hier, teils heruntergekommen, teils als Ruinen, noch viele der Herrschaftsvillen aus der Zeit der katalanischen Belle Époque. In einer von ihnen stößt Óscar auf Germán, einen Maler, der nach dem Tod seiner Frau keinen Pinsel mehr angerührt hat und alleine mit einem Kater namens Kafka und seiner halbwüchsigen Tochter Marina lebt. Òscar und Marina werden unzertrennlich. Und sie geraten, als sie eines Tages auf einem alten Friedhof verweilen, in ein unglaubliches Abenteuer.
„Marina“ ist kein neues Werk von Carlos Ruiz Zafón, sondern wurde im Original schon 1999 veröffentlicht. Vorher hatte der Autor, wie er im Vorwort erläutert, drei Bücher für Jugendliche verfasst; nun versuchte er, eine neue, eigene Stimme zu finden. Diese literarische Ambition hat sich in dem Roman zunächst in stilistischer Hinsicht niedergeschlagen. Zafón ist sichtbar darum bemüht, nicht nur die Handlung voranzutreiben, sondern immer wieder starke Bilder zu finden – und sei es um den Preis einer erheblichen Gesuchtheit im Ausdruck. Wenn die Sonne scheint und es dabei kräftig regnet, schreiten Óscar und Marina durch einen „goldenen Tränenvorhang“, und eine düstere Vorgewitterstimmung wird so beschrieben: „Der Himmel glich einem bleiernen Grabstein, die Straßenlaternen brannten wie Streichhölzer.“
Für die Handlung schöpft Zafón mit enzyklopädischer Gründlichkeit aus dem Repertoire des Schauerromans. Ständig zucken Blitze, steinerne Engel bewachen Brunnen, Puppen erwachen zu mörderischem Leben, und mitten durch die moderne Großstadt rollt holpernd eine Kutsche, in der eine tiefverschleierte Dame in Schwarz sitzt. Ein alter, dämonischer Arzt heißt Shelley – wie Mary W. Shelley, die einst als Erste von Frankenstein und seinem Monster erzählte. „Marina“ ist eine Variation dieses unerschöpflichen Mythos; in den Kulissen des Romans gespenstern aber auch E. T. A. Hoffmann und Gaston Leroux’ „Phantom der Oper“.
Ist so etwas auszuhalten? Alles in allem: Erstaunlich gut! Man kann dieses Buch sogar dem später verfassten, aber weit weniger bündigen „Schatten des Windes“ vorziehen. „Marina“ ist nicht die Vorstufe dieses Weltbestsellers, sondern dessen Kondensat, eine fiebrige, ohne Umschweife erzählte Knabenphantasie. Wer als Leser bereit ist, sich ab und an einen leicht regressiven Spaß zu gönnen, der kann ihn hier bekommen, und zwar jede Menge davon.
CHRISTOPH HAAS
CARLOS RUIZ ZAFÓN: Marina. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 350 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de