„Er würde aufsteigen, es zu etwas bringen, Vorgesetzter wollte er sein, anständig wohnen, in zwei Zimmern, mit Balkon und einer richtigen Küche. Um das zu erreichen, brauchte es aber die allergrößte Anstrengung, er durfte nicht nachlassen, keine Schwäche zeigen, keine Fehler machen.“ S.100
In
keinem Buch, das ich in letzter Zeit gelesen habe, habe ich so viele Gedanken und Glaubenssätze…mehr„Er würde aufsteigen, es zu etwas bringen, Vorgesetzter wollte er sein, anständig wohnen, in zwei Zimmern, mit Balkon und einer richtigen Küche. Um das zu erreichen, brauchte es aber die allergrößte Anstrengung, er durfte nicht nachlassen, keine Schwäche zeigen, keine Fehler machen.“ S.100
In keinem Buch, das ich in letzter Zeit gelesen habe, habe ich so viele Gedanken und Glaubenssätze wiedergefunden, die sich über Generationen auch tief in meine Familie eingegraben haben. Mit Martha beginnt in einem Dorf in der Schweiz Anfang des 20. Jh. eine Familiengeschichte, die ihren Lauf über drei Generationen vom Land in die Stadt und von bitterster Armut zu bescheidenem Wohlstand nimmt.
Martha muss, nach dem frühen Tod ihres Vaters und weil die Mutter allein für die sechs Kinder nicht mehr aufkommen kann als „Verdingkind“ (aus dem schweizerischen Sprachgebrauch – kommt von „verdingen“ und galt noch bis in die 1960er Jahre als eine gebräuchliche Art der Unterbringung und -Erziehung von Kindern) auf einem fremden Bauernhof schon früh für ihr Überleben schuften und sich ihre Portion Essen am Ende der Familientafel hart erkämpfen. Zeichen der Zuwendung werden ihr nur selten zuteil und so lernt sie früh, dass einzig Fleiß und Pflichterfüllung einen nach vorn bringen, dass es besser ist nicht aus dem Rahmen zu fallen, auch nicht mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz, und dass Kontrolle Überleben sichert.
Was sie nicht lernt: Körperkontakt und Nähe zu spüren, Gefühle und Lebensfreude auszudrücken, ja sie überhaupt zu erkennen und zuzulassen.
Sie wächst heran, heiratet, bekommt zwei Jungs und nicht nur in ihrem Leben, auch im Leben ihrer Söhne scheinen sich die Dinge immerfort zu wiederholen. Jeder lebt mit seinen Ängsten und ohne eine angemessene Sprache dafür zu finden. Der wachsende Wohlstand in der Stadt schafft neue Probleme – Isolation, Entfremdung, Existenzängste. Das Patriarchat und damit verbundene Glaubenssätze bleiben.
Der Schweizer 1944 geborene Autor Lukas Hartman erzählt hier von seiner Großmutter aus seine Familiengeschichte und erklärt im Nachwort, wie schwer es ihm gefallen sei, den nötigen Abstand zu schaffen. Man spürt, wie nah dem Erzähler die ProtagonistInnen sind, wie wichtig es ihm ist, die Motive, Entwicklungsschritte und komplexen Zusammenhänge fühlbar zu machen.
Er erzählt ohne Wertung, ohne Anklage, sondern als Versuch einer Erklärung, wie schwer es ist, sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.
Die Geschichte entwickelt auf ihrer Fahrt durch drei Generationen bis auf eine kleine Flaute im Zentrum einen großen Sog. Sie ist linear und sprachlich einfach und fließend erzählt. Das Schwergewicht liegt für mich in dem WAS erzählt wird und das ist eine auf hohem Niveau gute, tiefgründige, psychologisch ausgeleuchtete und nachdenklich stimmende Geschichte.
Besonderes berührt hat mich, wieviel Einfühlungsvermögen Lukas Hartmann für die Frauen seiner Familie zeigt. Denn auch in den härtesten Zeiten sind es die Frauen, die die Dinge zusammengehalten haben, die wahren Stützen der Familien, diejenigen, die im Verborgenen für den Unterhalt der Familie sorgen mussten, wenn die Männer krank und/oder verbraucht waren. Es sind die Frauen, die den Weg ebnen. Unbewusst zunächst und später immer kämpferischer und aktiver, ihre Gleichberechtigung einfordernd.
Ein sehr beeindruckender Roman und eine Empfehlung für alle, die sich gern in Familiengeschichten vertiefen und sich literarisch mit Themen wie Herkunft, Identität, transgenerationale Traumata auseinandersetzen.