Martha, eine junge Frau von zwanzig Jahren, erlebt den Zusammenbruch einer Diktatur, die sie voll und ganz bejaht hat. Aus Angst vor der Rache der Sieger beschließt sie, schnellstmöglich Kinder zur Welt zu bringen, in der Hoffnung, eine Mutter werde auf jeden Fall geschont. Sie gebiert rasch hintereinander zwei Jungen, denen sie zusammen mit Paule, ihrem Mann, im Niemandsland zwischen Diktatur und Demokratie allerdings nur wenig zu bieten haben: Martha, eine kraftvolle, aber gebrochene Person, die aufgrund der falschen Überzeugungen und Werte, die sie noch in sich trägt, ihre Kinder nicht für die Zukunft erziehen kann.
Die beiden Jungen, Fred und Hel, müssen gewissermaßen selbst groß werden, sich selber helfen - und tun dies auch, wenngleich auf unterschiedliche Art. Wie sie den Kampf um die eigene Zukunft in einer seelischen und bildungsmäßigen Ruinenlandschaft in mehreren, teils schweren Bewährungsproben bestehen, erzählt der Roman für die ersten zwölf Lebensjahre.
Erst gegen Ende lichtet sich der Nebel ein wenig. Und ein neues Leben zeichnet sich ab.
Die beiden Jungen, Fred und Hel, müssen gewissermaßen selbst groß werden, sich selber helfen - und tun dies auch, wenngleich auf unterschiedliche Art. Wie sie den Kampf um die eigene Zukunft in einer seelischen und bildungsmäßigen Ruinenlandschaft in mehreren, teils schweren Bewährungsproben bestehen, erzählt der Roman für die ersten zwölf Lebensjahre.
Erst gegen Ende lichtet sich der Nebel ein wenig. Und ein neues Leben zeichnet sich ab.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2016Wie Stacheldraht im Fleisch
Kurt Oesterle untersucht in der Familiengeschichte "Martha und ihre Söhne" die deutsche Nachkriegspsyche
Über die Jahre zwischen Kriegsende und Gründung der Bundesrepublik huscht man oft unter Verwendung hohl gewordener Stichworte wie "Besatzungszeit", "Entnazifizierung" und "Wiederaufbau" und die üblichen Anekdoten hinweg. Abseits der Fachleute macht die Geschichte fast einen Hopser nach vorn - wo sie überlebten, sitzen die Deutschen, die eben noch eine neue Ära bejohlten, über fremde Länder herfielen und ganze Völker auszulöschen versuchten, im Nu als Fußball- und Wirtschaftswunderdeutsche im Herzen eines neuen Europas. Auto. Eigenheim. Fertig.
Mit seiner unaufdringlichen Familiengeschichte "Martha und ihre Söhne" spürt Kurt Oesterle, der 1955 im Norden Baden-Württembergs geboren wurde, nun noch einmal dem Seelenleben jener Übergangszeit des Wandels und Verwandelns nach. Mit wohlgeformten Sätzen, in einem ebenso sanften wie verlässlichen Erzählton, stellt er uns eine ehedem regimetreue junge Frau vor, die bei ihren Eltern in Süddeutschland lebt und beim Eintreffen der amerikanischen Panzer "alles zu beseitigen" versucht, "was gegen sie und ihre Familie zeugen" könnte.
Sie geht in die Dorfkirche, um für den verschollenen Bruder zu beten: "Aber sie schaffte es nicht, dem Judenkönig an seinem Kreuz ins Gesicht zu blicken und auch nur ein einziges Wort an ihn zu richten." Sie erlebt, wie ihr Vater verhaftet und wieder freigelassen wird, erwartet von den Umerziehungskursen, die sie besuchen soll, nur das Schlimmste, verachtet die überhebliche Freundlichkeit, mit der die Besatzungsoffiziere auftreten. Und während ihre Mutter in der ausgedehnten "Stunde null" vor Sorgen schier wahnsinnig wird, lässt sich Martha in der Hoffnung, von den Siegern dann vielleicht etwas milder behandelt zu werden, von einem Knecht schwängern, der in zerlumpter Uniform aus dem verlorenen Osten ins Dorf gelangt war.
So kommen ihre Söhne Alfred und Helmut in eine Welt, in der nicht einmal der Wald zur Idylle taugt: "Das untergegangene Regime hatte jede Menge Gewaltseligkeit hinterlassen, die sich jetzt fast nur noch draußen in der Wildnis austoben konnte." Oesterle folgt auch ihnen, ob Marthas allmählich heranwachsende Söhne nun Krieg spielen, Volks- zu Weltempfängern umbauen, für einen entsetzlich harten Landwirt arbeiten oder mit ansehen, wie der erste Neubau im Dorf nach dem Krieg angegriffen wird.
Eine von Oesterles Szenen ist einprägsamer als die andere, nicht wenige handeln davon, was ein Heim bedeutet, Heimatlosigkeit und mangelnde Wärme, was auch die Nachkriegsgeneration an Traumata mit sich rumschleppt - vor allem schildern sie aber, was es brauchte, bevor sich die "Gefühlsbindung an den untergegangenen Staat", die manchen Deutschen "wie Stacheldraht das Fleisch zerriß", wenn sie "einen Schritt weiter in die Zukunft vorrücken wollten", irgendwann zu lösen vermochte. So klappt man dieses Buch angetan zu und nimmt sich vor, auch die Klassiker der deutschen Trümmerliteratur noch einmal aus dem Regal zu ziehen.
MATTHIAS HANNEMANN
Kurt Oesterle: "Martha und ihre Söhne". Roman.
Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2016. 180 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kurt Oesterle untersucht in der Familiengeschichte "Martha und ihre Söhne" die deutsche Nachkriegspsyche
Über die Jahre zwischen Kriegsende und Gründung der Bundesrepublik huscht man oft unter Verwendung hohl gewordener Stichworte wie "Besatzungszeit", "Entnazifizierung" und "Wiederaufbau" und die üblichen Anekdoten hinweg. Abseits der Fachleute macht die Geschichte fast einen Hopser nach vorn - wo sie überlebten, sitzen die Deutschen, die eben noch eine neue Ära bejohlten, über fremde Länder herfielen und ganze Völker auszulöschen versuchten, im Nu als Fußball- und Wirtschaftswunderdeutsche im Herzen eines neuen Europas. Auto. Eigenheim. Fertig.
Mit seiner unaufdringlichen Familiengeschichte "Martha und ihre Söhne" spürt Kurt Oesterle, der 1955 im Norden Baden-Württembergs geboren wurde, nun noch einmal dem Seelenleben jener Übergangszeit des Wandels und Verwandelns nach. Mit wohlgeformten Sätzen, in einem ebenso sanften wie verlässlichen Erzählton, stellt er uns eine ehedem regimetreue junge Frau vor, die bei ihren Eltern in Süddeutschland lebt und beim Eintreffen der amerikanischen Panzer "alles zu beseitigen" versucht, "was gegen sie und ihre Familie zeugen" könnte.
Sie geht in die Dorfkirche, um für den verschollenen Bruder zu beten: "Aber sie schaffte es nicht, dem Judenkönig an seinem Kreuz ins Gesicht zu blicken und auch nur ein einziges Wort an ihn zu richten." Sie erlebt, wie ihr Vater verhaftet und wieder freigelassen wird, erwartet von den Umerziehungskursen, die sie besuchen soll, nur das Schlimmste, verachtet die überhebliche Freundlichkeit, mit der die Besatzungsoffiziere auftreten. Und während ihre Mutter in der ausgedehnten "Stunde null" vor Sorgen schier wahnsinnig wird, lässt sich Martha in der Hoffnung, von den Siegern dann vielleicht etwas milder behandelt zu werden, von einem Knecht schwängern, der in zerlumpter Uniform aus dem verlorenen Osten ins Dorf gelangt war.
So kommen ihre Söhne Alfred und Helmut in eine Welt, in der nicht einmal der Wald zur Idylle taugt: "Das untergegangene Regime hatte jede Menge Gewaltseligkeit hinterlassen, die sich jetzt fast nur noch draußen in der Wildnis austoben konnte." Oesterle folgt auch ihnen, ob Marthas allmählich heranwachsende Söhne nun Krieg spielen, Volks- zu Weltempfängern umbauen, für einen entsetzlich harten Landwirt arbeiten oder mit ansehen, wie der erste Neubau im Dorf nach dem Krieg angegriffen wird.
Eine von Oesterles Szenen ist einprägsamer als die andere, nicht wenige handeln davon, was ein Heim bedeutet, Heimatlosigkeit und mangelnde Wärme, was auch die Nachkriegsgeneration an Traumata mit sich rumschleppt - vor allem schildern sie aber, was es brauchte, bevor sich die "Gefühlsbindung an den untergegangenen Staat", die manchen Deutschen "wie Stacheldraht das Fleisch zerriß", wenn sie "einen Schritt weiter in die Zukunft vorrücken wollten", irgendwann zu lösen vermochte. So klappt man dieses Buch angetan zu und nimmt sich vor, auch die Klassiker der deutschen Trümmerliteratur noch einmal aus dem Regal zu ziehen.
MATTHIAS HANNEMANN
Kurt Oesterle: "Martha und ihre Söhne". Roman.
Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2016. 180 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Knapp, aber begeistert bespricht Rezensent Matthias Hannemann Kurt Oesterles Familiengeschichte "Martha und ihre Söhne". Er liest hier zunächst die Geschichte einer jungen Frau in der Nachkriegszeit, die sich zwischen Umerziehungskursen und Verhaftung des Vaters erst langsam vom Glauben an den NS-Staat löst und sich in der Hoffnung einer besseren Behandlung durch die Besatzer von einem Knecht schwängern lässt. Aufmerksam folgt Hannemann auch den heranwachsenden Söhne beim Kriegspielen oder bei ihrer harten Arbeit für einen Landwirt. Wie Oesterle die deutsche "Nachkriegspsyche" zwischen Heimatlosigkeit und Traumata in eleganten, sanftmütigen Sätzen und in eindrucksvollen Szenen ausleuchtet, hat dem Kritiker ausgesprochen gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Nicht die erste Geschichte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Aber Kurt Oesterle wagt eine ungewöhnliche Perspektive: In den Mittelpunkt rückt er eine vom Nationalsozialismus geprägte junge Frau, die Aufschaukelung von Angst und Schuldbewusstsein und die im poetisch genau gezeichneten ländlichen Milieu besonders schwierige demokratische Neuorientierung."
Hermann Bausinger
Hermann Bausinger