Das Leben einer Jahrhundertgestalt: die erste umfassende Biographie
Der Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984) ist als Mitbegründer der Bekennenden Kirche und durch seine Reden zur Schuld der Deutschen nach 1945 bekannt. Dabei war er als Student in völkischen und antisemitischen Parteien und Verbänden aktiv und begrüßte 1933 die NS-Machtergreifung. Auch nach 1945 trat seine Judenfeindschaft wiederholt hervor. Benjamin Ziemann rekonstruiert die Biographie eines streitbaren Kirchenpolitikers und Nationalisten, der die Weimarer Republik ebenso ablehnte wie Adenauers Politik der Westbindung und den Parteienstaat der Bundesrepublik. Nach 1945 wurde Niemöller zum Pazifisten - und blieb doch dem Habitus des kaiserlichen Marineoffiziers treu. In diesem Leben voller dramatischer Momente, Widersprüche und persönlicher Krisen werden die Umbrüche und Kontinuitäten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert anschaulich.
Ausstattung: mit Abbildungen
Der Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984) ist als Mitbegründer der Bekennenden Kirche und durch seine Reden zur Schuld der Deutschen nach 1945 bekannt. Dabei war er als Student in völkischen und antisemitischen Parteien und Verbänden aktiv und begrüßte 1933 die NS-Machtergreifung. Auch nach 1945 trat seine Judenfeindschaft wiederholt hervor. Benjamin Ziemann rekonstruiert die Biographie eines streitbaren Kirchenpolitikers und Nationalisten, der die Weimarer Republik ebenso ablehnte wie Adenauers Politik der Westbindung und den Parteienstaat der Bundesrepublik. Nach 1945 wurde Niemöller zum Pazifisten - und blieb doch dem Habitus des kaiserlichen Marineoffiziers treu. In diesem Leben voller dramatischer Momente, Widersprüche und persönlicher Krisen werden die Umbrüche und Kontinuitäten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert anschaulich.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.11.2019Der Offizier auf der Kanzel
Benjamin Ziemanns Biografie über Martin Niemöller beschreibt dessen Weg vom Wilhelminismus zum
soldatischen Theologen, vom treuen Anhänger des Führers zum Hitler-Gegner im KZ. Vieles an seinem Denken ist doppelbödig
VON KNUD VON HARBOU
Sein Leben steht wie kein anderes für die Brüche und Kontinuitäten jüngster deutscher Geschichte. Der Theologe Martin Niemöller (1892–1984) verkörperte eine nationalprotestantische Mentalität, die sich nach 1918 und erneut nach 1933 mit dem völkischen Nationalismus verband, und die sich noch bis in die 1950er-Jahre hielt. Erst dann setzte sich bei ihm ein demokratisches Denken durch. Diesen ideologischen Prozessen geht der im englischen Sheffield lehrende Historiker Benjamin Ziemann in seiner Niemöller-Biografie nach.
Niemöller wuchs in einer Welt auf, die das Militär zum Maßstab sozialer Normen erhob. In ihm spiegelte sich gewissermaßen der Militarismus wider, der besonders in der Marine des Wilhelminismus seinen Ausdruck gefunden hatte. Ihr als Offizier zu dienen, war sein Ziel. Diese Affinität bewahrte er auch nach 1933, obwohl er die Laufbahn eines evangelischen Pastors einschlug. Erst das Kriegsende bewirkte bei ihm ein Umdenken. In der Folge wurde der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende einer der wichtigsten Repräsentanten der Friedensbewegung in der Bundesrepublik.
Er stammte aus einer westfälischen Bauernfamilie, der Vater war protestantischer Pfarrer in Lippstadt, dominiert wurde seine spartanische Kinder- und Jugendzeit von einem militaristisch-völkischen Lebensgefühl, der Ergebenheit des imperialen Wilhelminismus galt alles. 1910 trat er in die Marine ein, ein Kreis von militanten Offiziersanwärtern, seine „Crew“, sollte ihn zeitlebens begleiten. Ein eigenes Kommando über ein U-Boot erhielt er erst 1918. Doch seine Erfüllung währte nur kurz, der Krieg verloren, der Kaiser abgedankt, verhasste demokratische Reformen allerorten. Wie so viele Völkische verlor er den Boden unter den Füßen. Da er aus politischen Gründen der neuen Republik nicht als Offizier dienen wollte, erwog er die Gründung „einer deutschen Kolonie in Argentinien“ und den Eintritt in das militant republikfeindliche Freikorps Loewenfeld. Aus der Marine schied er wegen unklarer Zukunftsaussichten aus.
Überraschend kommt Niemöllers Entschluss, Theologie zu studieren. Hier nimmt die Legende in seinen Erinnerungen „Vom U-Boot zur Kanzel“ (1934) ihren Ursprung. Dieser Beruf schien „die geradlinige Fortsetzung meines alten Offiziersberufes zu sein“. Damit meinte er, dass ein protestantischer Pfarrer auch Dienst an der Nation leisten könne. Doch hinter seiner Entscheidung für den Wechsel zur Theologie stand der Plan, als Pfarrer über ein gesichertes Einkommen zu verfügen. Bis 1932 blieb er dem nationalprotestantischen Milieu im Umfeld der antisemitischen DNVP treu.
Folgerichtig begrüßte Niemöller Hitlers Machtergreifung als Ausdruck nationaler Einigung und Erhebung wie etwa achtzig Prozent der deutschen Protestanten. In seinen Predigten findet man seine Einstellung klar definiert: Die „Treue zum Führer“ müsse in „uns allen lebendig“ sein. Sein Forum war die Jungreformatorische Bewegung, die zwar zusammen mit den Deutschen Christen den NS-Staat bejahte, gleichzeitig aber deren Usurpation der Macht in der Kirche anprangerte. Niemöllers Haltung blieb ambivalent, da er hoffte, die Dynamik der Machtergreifung zu einer Reform der Kirche zu nutzen, auch im Sinne einer nationalen Wiedergeburt.
Als 1934 die Deutschen Christen auf der Synode geschlossen in braunen Parteiuniformen auftraten, war Niemöller klar, dass eine Spaltung der Kirche bevorstand. Direkt wurde er mit dem auch für die Kirche verbindlichen „Arierparagrafen“ konfrontiert. Doch wichtig war ihm nur der Einsatz für bedrohte Christen jüdischer Herkunft, nicht aber für verfolgte jüdische Deutsche. Seinen rassistischen Antisemitismus mochte er wohl aufgegeben haben, seine gesellschaftlich-kulturelle Judenfeindschaft blieb erhalten („unmögliche Existenz des jüdischen Volkes“). So attestiert ihm Ziemann Ambivalenzen im Umgang mit dem NS-System und der Reichskirche bei einer „ungebrochenen nationalprotestantischen Grundhaltung“. Als der neu eingesetzte Reichsbischof Ludwig Müller im Januar 1934 alle kirchenpolitischen Aktionen untersagte, widersetzte sich Niemöller diesem staatlichen Übergriff. Erst 1937 radikalisierte sich seine Haltung gegenüber dem NS-System, worauf er prompt verhaftet wurde und ohne Gerichtsurteil als „persönlicher Gefangener des Führers“ ins KZ Sachsenhausen und von 1941 an ins KZ Dachau gesperrt wurde – sieben Jahre insgesamt. Unbeeindruckt davon meldete sich Niemöller nach dem Überfall auf Polen freiwillig zur Wehrmacht, schließlich müsse der NS-Staat für den „Existenzkampf“ des deutschen Volkes gerüstet sein. Seine Staatsgesinnung demonstrierte er durch die Aussage, dass er sich nach möglicher Entlassung aus der Wehrmacht selbstverständlich zur Fortsetzung seiner „Schutzhaft“ zur Verfügung stellen werde.
Im Gegensatz zu vorherigen Biografien hebt Ziemann hervor, dass Niemöllers Antibolschewismus und Nationalismus den Krieg noch überdauerten. Er bejammerte den Rückzug der Wehrmacht vor der Roten Armee, und es waren vor allem Deutsche Opfer des Bombenkrieges, die Niederlage der Untergang des Abendlandes. Immer wieder deckt der Autor Niemöllers Selbststilisierungen auf, etwa dass seine freiwillige Meldung zur Wehrmacht allein dem Ziel gegolten habe, sich dem Widerstand des 20. Juli anzuschließen. Den Nationalsozialismus verbrämte er noch 1945 als Resultat eines Abfalls vom Christentum und den Angriff gegen den christlichen Glauben als Kern der Ideologie. Kein Wort über den Holocaust.
Für Ziemann schwammig genug auch Niemöllers Umgang mit der Schuldfrage. Schuld blieb für ihn folgenlos, denn nun müsse man „Vergebung üben“ und Liebe predigen. Ihm war die Schuld der Besatzungsmächte wichtiger. Mit der Negierung einer Schuld, die er in seiner berühmten Erlanger Predigt im Januar 1946 um den Begriff Verantwortung erweiterte, befand er sich in guter Gesellschaft. Bestritten wurde, dass eine Kollektivschuld juristisch überhaupt fassbar sei; vielmehr gebe es nur Individualschuld, wohl wissend, dass diese juristisch schwer nachweisbar war. Allen Argumentationen war eigen, dass nirgends überhaupt der Grund für eine Kollektivschuld historisch konkretisiert wurde. Es blieb bei dem „metaphysischen Nebel“ (Axel Schildt), dass alle Menschen gleich schuldig seien.
Doppelbödig waren auch Martin Niemöllers Angriffe auf Adenauers Wiederbewaffnung und Westanbindung. Ihnen lag keine pazifistische Haltung zugrunde, vielmehr wollte er eine nationale, deutsche Armee und keinen Beitrag für eine europäische Armee.
Ziemann belegt die vielfach noch unbekannten biografischen Details mit großer Klarheit. Was man vermisst, sind die Interpretationen der Details. Nur oberflächlich wertet er die Psyche Niemöllers. Was sich aber dahinter verbirgt, hat Klaus Theweleit in seiner Studie „Männerphantasien“ (1977) über die Konstitution der Psyche im Umfeld der „soldatischen Männer“ dargelegt. Damit können wir diese Lebensgeschichte besser verstehen als durch eine noch so detaillierte, im Grunde aber deutungslose Aneinanderreihung von Lebensphasen, wie sie Ziemann vorlegt.
Jedoch eröffnet diese Biografie einen wesentlichen Blick auf den Einfluss eines weiteren Komplexes nationalkonservativer Eliten in Gestalt des Nationalprotestantismus.
Obwohl er im KZ saß, meldete sich
Niemöller nach dem Überfall
auf Polen zur Wehrmacht
Das Buch bietet zahlreiche
bisher unbekannte Details,
aber keine Deutung
Benjamin Ziemann:
Martin Niemöller.
Ein Leben in Opposition. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019.
637 Seiten, 39 Euro.
E-Book: 35,99 Euro.
Wandelbarer Protestant: Martin Niemöller predigt 1949 in der Kirche von Berlin-Dahlem. Dort war er einst als Pastor, der offen gegen die Gewaltpolitik des NS-Staates sprach, verhaftet und ins KZ gebracht worden.
Foto: dpa
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Benjamin Ziemanns Biografie über Martin Niemöller beschreibt dessen Weg vom Wilhelminismus zum
soldatischen Theologen, vom treuen Anhänger des Führers zum Hitler-Gegner im KZ. Vieles an seinem Denken ist doppelbödig
VON KNUD VON HARBOU
Sein Leben steht wie kein anderes für die Brüche und Kontinuitäten jüngster deutscher Geschichte. Der Theologe Martin Niemöller (1892–1984) verkörperte eine nationalprotestantische Mentalität, die sich nach 1918 und erneut nach 1933 mit dem völkischen Nationalismus verband, und die sich noch bis in die 1950er-Jahre hielt. Erst dann setzte sich bei ihm ein demokratisches Denken durch. Diesen ideologischen Prozessen geht der im englischen Sheffield lehrende Historiker Benjamin Ziemann in seiner Niemöller-Biografie nach.
Niemöller wuchs in einer Welt auf, die das Militär zum Maßstab sozialer Normen erhob. In ihm spiegelte sich gewissermaßen der Militarismus wider, der besonders in der Marine des Wilhelminismus seinen Ausdruck gefunden hatte. Ihr als Offizier zu dienen, war sein Ziel. Diese Affinität bewahrte er auch nach 1933, obwohl er die Laufbahn eines evangelischen Pastors einschlug. Erst das Kriegsende bewirkte bei ihm ein Umdenken. In der Folge wurde der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende einer der wichtigsten Repräsentanten der Friedensbewegung in der Bundesrepublik.
Er stammte aus einer westfälischen Bauernfamilie, der Vater war protestantischer Pfarrer in Lippstadt, dominiert wurde seine spartanische Kinder- und Jugendzeit von einem militaristisch-völkischen Lebensgefühl, der Ergebenheit des imperialen Wilhelminismus galt alles. 1910 trat er in die Marine ein, ein Kreis von militanten Offiziersanwärtern, seine „Crew“, sollte ihn zeitlebens begleiten. Ein eigenes Kommando über ein U-Boot erhielt er erst 1918. Doch seine Erfüllung währte nur kurz, der Krieg verloren, der Kaiser abgedankt, verhasste demokratische Reformen allerorten. Wie so viele Völkische verlor er den Boden unter den Füßen. Da er aus politischen Gründen der neuen Republik nicht als Offizier dienen wollte, erwog er die Gründung „einer deutschen Kolonie in Argentinien“ und den Eintritt in das militant republikfeindliche Freikorps Loewenfeld. Aus der Marine schied er wegen unklarer Zukunftsaussichten aus.
Überraschend kommt Niemöllers Entschluss, Theologie zu studieren. Hier nimmt die Legende in seinen Erinnerungen „Vom U-Boot zur Kanzel“ (1934) ihren Ursprung. Dieser Beruf schien „die geradlinige Fortsetzung meines alten Offiziersberufes zu sein“. Damit meinte er, dass ein protestantischer Pfarrer auch Dienst an der Nation leisten könne. Doch hinter seiner Entscheidung für den Wechsel zur Theologie stand der Plan, als Pfarrer über ein gesichertes Einkommen zu verfügen. Bis 1932 blieb er dem nationalprotestantischen Milieu im Umfeld der antisemitischen DNVP treu.
Folgerichtig begrüßte Niemöller Hitlers Machtergreifung als Ausdruck nationaler Einigung und Erhebung wie etwa achtzig Prozent der deutschen Protestanten. In seinen Predigten findet man seine Einstellung klar definiert: Die „Treue zum Führer“ müsse in „uns allen lebendig“ sein. Sein Forum war die Jungreformatorische Bewegung, die zwar zusammen mit den Deutschen Christen den NS-Staat bejahte, gleichzeitig aber deren Usurpation der Macht in der Kirche anprangerte. Niemöllers Haltung blieb ambivalent, da er hoffte, die Dynamik der Machtergreifung zu einer Reform der Kirche zu nutzen, auch im Sinne einer nationalen Wiedergeburt.
Als 1934 die Deutschen Christen auf der Synode geschlossen in braunen Parteiuniformen auftraten, war Niemöller klar, dass eine Spaltung der Kirche bevorstand. Direkt wurde er mit dem auch für die Kirche verbindlichen „Arierparagrafen“ konfrontiert. Doch wichtig war ihm nur der Einsatz für bedrohte Christen jüdischer Herkunft, nicht aber für verfolgte jüdische Deutsche. Seinen rassistischen Antisemitismus mochte er wohl aufgegeben haben, seine gesellschaftlich-kulturelle Judenfeindschaft blieb erhalten („unmögliche Existenz des jüdischen Volkes“). So attestiert ihm Ziemann Ambivalenzen im Umgang mit dem NS-System und der Reichskirche bei einer „ungebrochenen nationalprotestantischen Grundhaltung“. Als der neu eingesetzte Reichsbischof Ludwig Müller im Januar 1934 alle kirchenpolitischen Aktionen untersagte, widersetzte sich Niemöller diesem staatlichen Übergriff. Erst 1937 radikalisierte sich seine Haltung gegenüber dem NS-System, worauf er prompt verhaftet wurde und ohne Gerichtsurteil als „persönlicher Gefangener des Führers“ ins KZ Sachsenhausen und von 1941 an ins KZ Dachau gesperrt wurde – sieben Jahre insgesamt. Unbeeindruckt davon meldete sich Niemöller nach dem Überfall auf Polen freiwillig zur Wehrmacht, schließlich müsse der NS-Staat für den „Existenzkampf“ des deutschen Volkes gerüstet sein. Seine Staatsgesinnung demonstrierte er durch die Aussage, dass er sich nach möglicher Entlassung aus der Wehrmacht selbstverständlich zur Fortsetzung seiner „Schutzhaft“ zur Verfügung stellen werde.
Im Gegensatz zu vorherigen Biografien hebt Ziemann hervor, dass Niemöllers Antibolschewismus und Nationalismus den Krieg noch überdauerten. Er bejammerte den Rückzug der Wehrmacht vor der Roten Armee, und es waren vor allem Deutsche Opfer des Bombenkrieges, die Niederlage der Untergang des Abendlandes. Immer wieder deckt der Autor Niemöllers Selbststilisierungen auf, etwa dass seine freiwillige Meldung zur Wehrmacht allein dem Ziel gegolten habe, sich dem Widerstand des 20. Juli anzuschließen. Den Nationalsozialismus verbrämte er noch 1945 als Resultat eines Abfalls vom Christentum und den Angriff gegen den christlichen Glauben als Kern der Ideologie. Kein Wort über den Holocaust.
Für Ziemann schwammig genug auch Niemöllers Umgang mit der Schuldfrage. Schuld blieb für ihn folgenlos, denn nun müsse man „Vergebung üben“ und Liebe predigen. Ihm war die Schuld der Besatzungsmächte wichtiger. Mit der Negierung einer Schuld, die er in seiner berühmten Erlanger Predigt im Januar 1946 um den Begriff Verantwortung erweiterte, befand er sich in guter Gesellschaft. Bestritten wurde, dass eine Kollektivschuld juristisch überhaupt fassbar sei; vielmehr gebe es nur Individualschuld, wohl wissend, dass diese juristisch schwer nachweisbar war. Allen Argumentationen war eigen, dass nirgends überhaupt der Grund für eine Kollektivschuld historisch konkretisiert wurde. Es blieb bei dem „metaphysischen Nebel“ (Axel Schildt), dass alle Menschen gleich schuldig seien.
Doppelbödig waren auch Martin Niemöllers Angriffe auf Adenauers Wiederbewaffnung und Westanbindung. Ihnen lag keine pazifistische Haltung zugrunde, vielmehr wollte er eine nationale, deutsche Armee und keinen Beitrag für eine europäische Armee.
Ziemann belegt die vielfach noch unbekannten biografischen Details mit großer Klarheit. Was man vermisst, sind die Interpretationen der Details. Nur oberflächlich wertet er die Psyche Niemöllers. Was sich aber dahinter verbirgt, hat Klaus Theweleit in seiner Studie „Männerphantasien“ (1977) über die Konstitution der Psyche im Umfeld der „soldatischen Männer“ dargelegt. Damit können wir diese Lebensgeschichte besser verstehen als durch eine noch so detaillierte, im Grunde aber deutungslose Aneinanderreihung von Lebensphasen, wie sie Ziemann vorlegt.
Jedoch eröffnet diese Biografie einen wesentlichen Blick auf den Einfluss eines weiteren Komplexes nationalkonservativer Eliten in Gestalt des Nationalprotestantismus.
Obwohl er im KZ saß, meldete sich
Niemöller nach dem Überfall
auf Polen zur Wehrmacht
Das Buch bietet zahlreiche
bisher unbekannte Details,
aber keine Deutung
Benjamin Ziemann:
Martin Niemöller.
Ein Leben in Opposition. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019.
637 Seiten, 39 Euro.
E-Book: 35,99 Euro.
Wandelbarer Protestant: Martin Niemöller predigt 1949 in der Kirche von Berlin-Dahlem. Dort war er einst als Pastor, der offen gegen die Gewaltpolitik des NS-Staates sprach, verhaftet und ins KZ gebracht worden.
Foto: dpa
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»Dies ist die definitive Niemöller-Biographie. An die Stelle des nach 1945 entstandenen Bildes eines Helden des Widerstands gegen das NS-Regime tritt eine ebenso ungeschönte wie überzeugende Deutung. Benjamin Ziemann betont den mit Inbrunst vertretenen protestantischen Nationalismus, kulturellen Antisemitismus und die Ablehnung der liberalen Demokratie als jene Grundhaltungen Niemöllers, die seinen oft widersprüchlich erscheinenden Gedanken und Taten bis weit nach 1945 Konsistenz verliehen.« Ian Kershaw