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Martinskirchen gibt es wirklich! Es ist ein kleines Dorf in Niederbayern. Dorthin hatte es unsere Familie als Flüchtlinge im Sommer 1945 verschlagen. Meine Mutter bekam eine Stelle als Lehrerin. Ich war von 1947 bis 1951 bei ihr in der "Gloana Schui". Die Dorfgeschichten, die hier erzählt werden, sind "echt wahre Geschichten". Darunter sind viele Ereignisse aus meiner Zeit als Ministrant. Neben der Schule war die Kirche der Mittelpunkt des Dorfes. Ein Ministrant zu sein, war damals etwas ganz Besonderes. Bei diesen Geschichten geht es nicht um einen Sachbericht und auch nicht um eine…mehr

Produktbeschreibung
Martinskirchen gibt es wirklich! Es ist ein kleines Dorf in Niederbayern. Dorthin hatte es unsere Familie als Flüchtlinge im Sommer 1945 verschlagen. Meine Mutter bekam eine Stelle als Lehrerin. Ich war von 1947 bis 1951 bei ihr in der "Gloana Schui". Die Dorfgeschichten, die hier erzählt werden, sind "echt wahre Geschichten". Darunter sind viele Ereignisse aus meiner Zeit als Ministrant. Neben der Schule war die Kirche der Mittelpunkt des Dorfes. Ein Ministrant zu sein, war damals etwas ganz Besonderes. Bei diesen Geschichten geht es nicht um einen Sachbericht und auch nicht um eine nostalgische Rückschau des Erwachsenen auf die schöne Zeit der Kindheit. Ich versuche vielmehr, die Personen, Schauplätze und Ereignisse mit ein bisschen Phantasie aus der Perspektive des Kindes und mit der Sprache des Kindes in kurzen Erzählungen lebendig werden zu lassen. Das vorliegende Büchlein muss man nicht wie einen Roman von vorne nach hinten durchlesen. Jede Geschichte bietet eine in sich geschlossene Episode, die auch zum Schmunzeln anregen soll.
Autorenporträt
Gerhard Neuner, geb. 1941; nach Philologiestudium mehrere Jahre Lektor für deutsche Sprache (GB) und Assistenzprofessor für deutsche Literatur (USA); 1975 bis 1984 Professor für Anglistik/Didaktik, 1984 bis 2005 für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Kassel. Lebt in der Nähe von Kassel.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.07.2024

Wo der Schmied die Haare scherte
Gerhard Neuner blickt zurück auf eine Kindheit in Niederbayern. Seine Geschichten aus den ersten Nachkriegsjahren klingen unglaublich.
München – Im Sommer 1945 hat es die aus dem rumänischen Banat vertriebene Familie Neuner in das Dorf Martinskirchen in Niederbayern verschlagen, wo der Mutter eine Stelle als Lehrerin zugewiesen wurde. Sie ersetzte den dortigen Schulleiter, der sich in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Zunächst notdürftig auf einem Zeugl (kleiner Bauernhof) untergebracht, durfte die Familie schließlich ein Zimmer im Schulhaus beziehen. Es war 20 Quadratmeter groß, das Plumpsklo lag zwischen den beiden Klassenräumen.
Die Dorfkinder bekamen von den Ereignissen in der weiten Welt wenig mit. Die Hitlerzeit und die Kriegserlebnisse waren im Alltag noch sehr präsent, aber es wurde nichts erklärt. „Wozu auch, wir waren ja nur Kinder“, sagt Gerhard Neuner, ein Professor, der in Kassel das Fach Didaktik für Deutsch als Fremdsprache lehrte. Nun hat der 82-Jährige ein Buch über seine Kindheit in Martinskirchen verfasst, das sich über weite Strecken wie eine Schilderung aus einer fremden Welt liest.
Was insofern nicht verwundert, als sich der Wandel der Lebensverhältnisse noch nie so rasch vollzogen hat wie in jener Generation, der Neuner angehört. Im Dorf gab es noch keine Autos. Der größte Luxus in Sachen Mobilität war ein Fahrrad mit Hilfsmotor (Henaschprenga). Den Hunger linderten Care-Pakete von Verwandten aus Übersee sowie das Fleisch aus Schwarzschlachtungen. Von existenzieller Bedeutung für die Dorfkinder war die Frage, „ob die Äpfel im Garten vom Western-Bauern für uns erreichbar waren“, wie Neuner schreibt.
Zum Thema Kindheit in Bayern in der frühen Nachkriegszeit gibt es eine Flut an Veröffentlichungen. Darunter bedeutende Werke wie etwa Wolfgang Schmidbauers Buch „Eine Kindheit in Niederbayern“, Hans Niedermayers Pendant „Kind in einer anderen Welt“, dazu die einschlägigen Romane von Marianne Hofmann („Es glühen die Menschen, die Pferde, das Heu“), Harald Grill („gehen lernen“) und Marianne Ach („Goldmark Pechmarie“) sowie die Erzählungen von Albert Sigl („Sonnham“).
In diese Liste passt auch das Buch von Gerhard Neuner, das sich aber doch in einem Punkt von den anderen Werken unterscheidet. Beim Versuch, getreulich wiederzugeben, was er als Kind erlebt hat, bemüht sich der Autor, das Erlebte in jene Sprache zu fassen, die er damals gehört und gesprochen hat. Neuner lässt damit die Menschen, Schauplätze und Ereignisse aus der Perspektive eines Kindes und mit der Sprache des Kindes lebendig werden und nimmt damit in Kauf, dass sich der Draufblick auf das große Ganze verengt.
Dem Pädagogen Werner Obermayer, einem ehemaligen Schulfreund Neuners, gefällt diese Form trotzdem sehr gut. Es sei eben jener Sprachduktus, der charakteristisch für jene Kinder war, die nach dem Krieg in Niederbayern aufwuchsen, sagt Obermayer. Es waren raue Zeiten. Nicht alle Dörfler hatten nach 1945 die Weltsicht der Nazis abgelegt. Neuner schildert einen Streit bei einer Fronleichnamsprozession, bei dem die Buben barsch zurechtgewiesen wurden, und zwar mit dem Spruch: „Des hätts beim Hitler ned gem.“ Es änderte sich eben vieles sehr langsam, auch die Entnazifizierung der Schulbibliothek zog sich hin. Die Bücher mit dem Hakenkreuz auf dem Umschlag landeten auf dem Dachboden des Schulhauses, wo sie der Schulbub Neuner aber rasch entdeckte. Heimlich las er dort die Geschichten vom Roten Kampfflieger und vom Seeteufel, „weil die so spannend waren“.
Das Spielfeld der Kinder waren das Dorf und die freie Natur. Neuners Buch belegt nachhaltig, dass es auch in Zeiten von materieller Not glückliche Kinder gab. Weil sie die Freiheit besaßen, sich überall frei bewegen zu können. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann fand viele Jahre später heraus, dass Kinder, die diese Freiheit nicht erleben, oft unter Erwachsenenkrankheiten wie Stress, Kopfschmerzen und psychosomatische Störungen leiden. Die Kinder von damals besaßen zwar nichts, dafür sind sie viel gelaufen, gehüpft, gesprungen und geklettert, was ihre Sinne wohl besser schärfte, als das je ein Smartphone könnte.
Das Leben bot den Dorfkindern Erfahrungen in Fülle. Auch der Tod wurde nicht versteckt. Sein Freund Klaus und er hätten oft bei Begräbnissen ministrieren dürfen, schreibt Neuner. Aus einem einfachen Grund: „Weil wir am schönsten trenzen konnten.“ Ihr Weinen brachte ihnen von den Trauergästen ein Zehnerl extra ein, was einem Gegenwert von 30 kleinen Zuckerostereiern entsprach. Die Buben waren auch dabei, wenn ein Grab ausgehoben wurde. Einmal kam eine Schnalle direkt neben einem Knochen zum Vorschein. Der kleine Gerhard griff zu, putzte das Teil sauber ab und schenkte es seiner Mutter, der er erzählte, er habe das Schmuckstück auf einem Weg gefunden. „Sie freut sich und drückt mich.“ Nicht ahnend, was ihr Bub ihr da ins Haus brachte.
Es ist eine Welt voller Skurrilitäten, die Neuner mit warmherzigem Blick schildert. Und mit einem Humor, der auch Selbstironie zulässt. Seine Mutter sprach der Bub während des Unterrichts immer mit Fräulein an, während viele andere Kinder sie als Mutti titulierten, „wie sie es außerhalb des Unterrichts von mir hörten.“
Die 55 Kapitel des Buchs umschließen den gesamten Kosmos des einstigen Dorflebens. Er reicht vom Fund von Kriegsgeräten über die obligatorische Dorfhex bis hin zum Schmied Ade, der auch die Haare der Buben schnitt, weil der Besuch beim Bader zu teuer gewesen wäre. Der Ade schnitt die Mähne radikal und schmerzhaft mit einer Zwickzange weg, um dann zu dem heute politisch inkorrekten Urteil zu gelangen: „Jetzt schaust aus bis wia-r-a plattada Seegrasindianer.“
HANS KRATZER
Martinskirchener Dorfgeschichten, Kindheit in Niederbayern nach dem Zweiten Weltkrieg, Iudicium Verlag München, 14,80 Euro.
Das Buch belegt, dass es
auch in Zeiten materieller
Not glückliche Kinder gab.
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