Eine neu entdeckte Kindererzählung von dem großen Geschichtenerzähler Siegfried Lenz
Marvella frisst am liebsten zartes Gras, trinkt kühles Wasser aus ihrem Bach und ruht sich im Schatten der Ulme aus, die auf der großen Weide steht, die ganz allein ihr gehört. Sie ist eine glückliche, gutmütige Schweizer Kuh - und die einzige Kuh, die mit einem Güterzug befreundet, vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt ist. Jeden Morgen und jeden Abend fährt er an ihrer Wiese vorbei, und Marvella antwortet fröhlich muhend auf das Pfeifen, mit dem sich die grün-silberne Lok ankündigt. Doch nach einer stürmischen Nacht wartet sie vergeblich. Von Sehnsucht getrieben, nimmt Marvella all ihren Mut zusammen und macht sich auf die Suche nach ihrem Zug. Und sie kommt gerade noch rechtzeitig, um ein großes Unglück zu verhindern.
Marvella frisst am liebsten zartes Gras, trinkt kühles Wasser aus ihrem Bach und ruht sich im Schatten der Ulme aus, die auf der großen Weide steht, die ganz allein ihr gehört. Sie ist eine glückliche, gutmütige Schweizer Kuh - und die einzige Kuh, die mit einem Güterzug befreundet, vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt ist. Jeden Morgen und jeden Abend fährt er an ihrer Wiese vorbei, und Marvella antwortet fröhlich muhend auf das Pfeifen, mit dem sich die grün-silberne Lok ankündigt. Doch nach einer stürmischen Nacht wartet sie vergeblich. Von Sehnsucht getrieben, nimmt Marvella all ihren Mut zusammen und macht sich auf die Suche nach ihrem Zug. Und sie kommt gerade noch rechtzeitig, um ein großes Unglück zu verhindern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2017Vor Sehnsucht kann man auch mal blöken
Ein Kinderbuch aus dem Nachlass von Siegfried Lenz erzählt eine Dreiecksgeschichte zwischen Bauer, Kuh und Zug. Nikolaus Heidelbach setzt noch einen drauf.
Nichts Geringeres als das "Paradies" bereitet der Bauer Bollmann in Kansas seiner Kuh Marvella, in die er "so verliebt" ist, und schenkt ihr "eine Wiese ganz für sich allein". Da gibt es Sonne und Baumschatten, erfrischenden Wind und frisches Wasser, und eigentlich sollte Marvella mit ihrem Los mehr als zufrieden sein.
Nun weiß jedes Kind, dass Kühe eigentlich in Herden leben, und wahrscheinlich ist das der Grund für die ungewöhnliche Zuneigung, die Marvella für einen Güterzug entwickelt, der morgens und abends die Gleise in der Nähe ihrer Weide entlangfährt. In ihrer Einsamkeit wartet sie auf das Geräusch seiner Signalpfeife und antwortet ihm mit einem Muhen. Den ruhigen Ablauf der Tage durchbricht dann ein Wirbelsturm, der ganz wie im "Zauberer von Oz" durch Kansas jagt und die Landschaft verwüstet. Marvella, im Stall vor allem Unbill beschützt, schaut sich am nächsten Morgen um. Mit der Überschwemmung auf dem Hof kann sie leben. Aber dass die Signalpfeife stumm bleibt und sich der Güterzug nicht blicken lässt, beunruhigt sie so sehr, dass sie ausbüxt, um den Zug zu suchen.
"Marvellas ganze Freude" ist ein Text aus dem Nachlass von Siegfried Lenz, der sich als Typoskript einzeln in einer Kladde im Keller fand und erst jetzt, drei Jahre nach dem Tod des Autors, in seinem Hausverlag Hoffmann und Campe erscheint. Wann Lenz ihn geschrieben hat, ist ungewiss, auch der Anlass ist nicht bekannt, ebenso wenig ein Auftraggeber oder ob Lenz den Text von sich aus je irgendwo angeboten hat.
In Lenz' umfangreichem OEeuvre sind Kinderbuchtexte selten - 1953 erschien die Pferdegeschichte "Lotte soll nicht sterben" und 1971, als Seitenstück zum "Suleyken"-Kosmos, "So war das mit dem Zirkus". Aber handelt es sich bei "Marvellas ganze Freude" überhaupt um ein Kinderbuch, als das es der Verlag vertreibt?
Tatsächlich setzt der Text Signale in diese Richtung, mit einem nicht besonders komplexen Erzählstil, mit einem Vokabular, das Kindern im Grundschulalter keine Mühe bereiten sollte, und mit einer klar verständlichen Geschichte, die dennoch Raum für Vermutungen und Interpretationen lässt. Damit bewegt sich Lenz durchaus im Spektrum von Kinderbüchern der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch rhetorische Wendungen wie "Denkt euch" fügen sich ins Bild.
Indem der Verlag sich dazu entschlossen hat, den Text reich illustrieren zu lassen, unterstützt er diesen Eindruck noch. Nikolaus Heidelbachs Bilder sind in ihrer Klarheit und in den ausgesprochen glücklich gewählten Perspektiven weit davon entfernt, die angestrebte Zugänglichkeit durch Gefälligkeit zu erkaufen. Marvella ist, bei aller Verliebtheit des Bauern (die sich auch deutlich in seinen weit aufgerissenen runden Augen und dem entrückten Lächeln abzeichnet), eine in ihrer Kraft durchaus auch furchteinflößende Gestalt, und dass es besser ist, mit ihr keinen Streit anzufangen, bekommt der Bauer zu spüren, als er sich einmal über ihre Widerborstigkeit ärgert und sie aufs Hinterteil schlägt.
Am Ende wird Marvella allein durch ihre Beharrlichkeit eine Katastrophe verhindern: Sie baut sich auf dem Gleis auf, das gerade vom Güterzug befahren werden soll, und weil der Lokführer aufpasst und bremst, bleibt Marvella am Leben und der Zug heil, der sonst über die vom Sturm zerstörte Brücke in den Abgrund gerast wäre.
Wie Heidelbach diesen Moment einfängt, ist großartig: Der Zug nimmt fast das gesamte Bild ein, die Kuh steht am rechten Bildrand mit erhobenem Kopf ganz dicht vor der Vorderfront der Lok. So nah waren sich die beiden noch nie gekommen, und Marvella genießt wohl den Moment. Zum Glück scheint Eifersucht nicht Bauer Bollmanns Sache zu sein. Er bringt seine Kuh, die noch "einen letzten, verliebten Blick auf die grün und silberne Maschine" wirft und nun weder angeschlagen noch widerborstig wirkt, nach Hause, und schickt sich in die Dreiecksbeziehung, die ihn, das Tier und die Lok verbindet.
Heidelbach aber setzt noch einen Akzent über den Wortlaut von Lenz' Kinderbuch hinaus. Auf dem allerletzten Bild sieht man Marvella und Bollmann dicht nebeneinander stehen. Vor ihnen ist der Maschendrahtzaun, der die Wiese von den Gleisen trennt. Beide sehen in die Ferne, und so wie Marvella schaut, das Maul halbkreisförmig zum Blöken aufgerissen, scheint gerade der geliebte Güterzug anzurollen. Bollmann aber zeigt mit einem Finger in die selbe Richtung, seine Augen scheinen vor Anspannung aus den Höhlen zu treten. Auch sein Mund ist zu einem Halbkreis geformt. Wahrscheinlich könnte man ihn blöken hören.
TILMAN SPRECKELSEN
Siegfried Lenz, Nikolaus Heidelbach: "Marvellas ganze Freude".
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 48 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Kinderbuch aus dem Nachlass von Siegfried Lenz erzählt eine Dreiecksgeschichte zwischen Bauer, Kuh und Zug. Nikolaus Heidelbach setzt noch einen drauf.
Nichts Geringeres als das "Paradies" bereitet der Bauer Bollmann in Kansas seiner Kuh Marvella, in die er "so verliebt" ist, und schenkt ihr "eine Wiese ganz für sich allein". Da gibt es Sonne und Baumschatten, erfrischenden Wind und frisches Wasser, und eigentlich sollte Marvella mit ihrem Los mehr als zufrieden sein.
Nun weiß jedes Kind, dass Kühe eigentlich in Herden leben, und wahrscheinlich ist das der Grund für die ungewöhnliche Zuneigung, die Marvella für einen Güterzug entwickelt, der morgens und abends die Gleise in der Nähe ihrer Weide entlangfährt. In ihrer Einsamkeit wartet sie auf das Geräusch seiner Signalpfeife und antwortet ihm mit einem Muhen. Den ruhigen Ablauf der Tage durchbricht dann ein Wirbelsturm, der ganz wie im "Zauberer von Oz" durch Kansas jagt und die Landschaft verwüstet. Marvella, im Stall vor allem Unbill beschützt, schaut sich am nächsten Morgen um. Mit der Überschwemmung auf dem Hof kann sie leben. Aber dass die Signalpfeife stumm bleibt und sich der Güterzug nicht blicken lässt, beunruhigt sie so sehr, dass sie ausbüxt, um den Zug zu suchen.
"Marvellas ganze Freude" ist ein Text aus dem Nachlass von Siegfried Lenz, der sich als Typoskript einzeln in einer Kladde im Keller fand und erst jetzt, drei Jahre nach dem Tod des Autors, in seinem Hausverlag Hoffmann und Campe erscheint. Wann Lenz ihn geschrieben hat, ist ungewiss, auch der Anlass ist nicht bekannt, ebenso wenig ein Auftraggeber oder ob Lenz den Text von sich aus je irgendwo angeboten hat.
In Lenz' umfangreichem OEeuvre sind Kinderbuchtexte selten - 1953 erschien die Pferdegeschichte "Lotte soll nicht sterben" und 1971, als Seitenstück zum "Suleyken"-Kosmos, "So war das mit dem Zirkus". Aber handelt es sich bei "Marvellas ganze Freude" überhaupt um ein Kinderbuch, als das es der Verlag vertreibt?
Tatsächlich setzt der Text Signale in diese Richtung, mit einem nicht besonders komplexen Erzählstil, mit einem Vokabular, das Kindern im Grundschulalter keine Mühe bereiten sollte, und mit einer klar verständlichen Geschichte, die dennoch Raum für Vermutungen und Interpretationen lässt. Damit bewegt sich Lenz durchaus im Spektrum von Kinderbüchern der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch rhetorische Wendungen wie "Denkt euch" fügen sich ins Bild.
Indem der Verlag sich dazu entschlossen hat, den Text reich illustrieren zu lassen, unterstützt er diesen Eindruck noch. Nikolaus Heidelbachs Bilder sind in ihrer Klarheit und in den ausgesprochen glücklich gewählten Perspektiven weit davon entfernt, die angestrebte Zugänglichkeit durch Gefälligkeit zu erkaufen. Marvella ist, bei aller Verliebtheit des Bauern (die sich auch deutlich in seinen weit aufgerissenen runden Augen und dem entrückten Lächeln abzeichnet), eine in ihrer Kraft durchaus auch furchteinflößende Gestalt, und dass es besser ist, mit ihr keinen Streit anzufangen, bekommt der Bauer zu spüren, als er sich einmal über ihre Widerborstigkeit ärgert und sie aufs Hinterteil schlägt.
Am Ende wird Marvella allein durch ihre Beharrlichkeit eine Katastrophe verhindern: Sie baut sich auf dem Gleis auf, das gerade vom Güterzug befahren werden soll, und weil der Lokführer aufpasst und bremst, bleibt Marvella am Leben und der Zug heil, der sonst über die vom Sturm zerstörte Brücke in den Abgrund gerast wäre.
Wie Heidelbach diesen Moment einfängt, ist großartig: Der Zug nimmt fast das gesamte Bild ein, die Kuh steht am rechten Bildrand mit erhobenem Kopf ganz dicht vor der Vorderfront der Lok. So nah waren sich die beiden noch nie gekommen, und Marvella genießt wohl den Moment. Zum Glück scheint Eifersucht nicht Bauer Bollmanns Sache zu sein. Er bringt seine Kuh, die noch "einen letzten, verliebten Blick auf die grün und silberne Maschine" wirft und nun weder angeschlagen noch widerborstig wirkt, nach Hause, und schickt sich in die Dreiecksbeziehung, die ihn, das Tier und die Lok verbindet.
Heidelbach aber setzt noch einen Akzent über den Wortlaut von Lenz' Kinderbuch hinaus. Auf dem allerletzten Bild sieht man Marvella und Bollmann dicht nebeneinander stehen. Vor ihnen ist der Maschendrahtzaun, der die Wiese von den Gleisen trennt. Beide sehen in die Ferne, und so wie Marvella schaut, das Maul halbkreisförmig zum Blöken aufgerissen, scheint gerade der geliebte Güterzug anzurollen. Bollmann aber zeigt mit einem Finger in die selbe Richtung, seine Augen scheinen vor Anspannung aus den Höhlen zu treten. Auch sein Mund ist zu einem Halbkreis geformt. Wahrscheinlich könnte man ihn blöken hören.
TILMAN SPRECKELSEN
Siegfried Lenz, Nikolaus Heidelbach: "Marvellas ganze Freude".
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 48 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Drei Jahre nach dem Tod von Siegfried Lenz wurde nun "Marvellas ganze Freude" in seinem Nachlass entdeckt, berichtet Rezensent Tilman Spreckelsen. Er liest hier eine "Dreiecksgeschichte zwischen Bauer, Kuh und Zug", Bauer Bollmann aus Kansas ist in seine Kuh Marvella verliebt und schenkt ihr eine eigene Wiese, Marvella fühlt sich jedoch einsam und verliebt sich in den Zug, der einmal am Tag an ihrer Wiese vorbeifährt, so der Kritiker. Lenz' Erzählstil dürfte auch Grundschulkindern keine Probleme bereiten, glaubt der Rezensent, der sich aber vor allem über die Illustrationen von Nikolaus Heidelbach freut: Diese verleihen dem Text ganz neue Facetten, bleiben zugänglich, sind aber nie "gefällig", lobt Spreckelsen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Nikolaus Heidelbachs Bilder sind in ihrer Klarheit und in den ausgesprochen glücklich gewählten Perspektiven weit davon entfernt, die angestrebte Zugänglichkeit durch Gefälligkeit zu erkaufen.« Tilman Spreckelsen Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170828