In seinem neuen Buch, Marx & Sons, das hier erstmalig in deutscher übersetzung vorgelegt wird, nimmt Derrida die vehementen Debatten, die sein Buch Marx' Gespenster ausgelöst hat, auf und nutzt seine Replik zu einer radikalen Auseinandersetzung mit der historischen Bedeutung des Marxismus. Dabei steht die Frage des Erbes und der Erbschaft im Mittelpunkt der überlegungen. »Wie kann man auf das Erbe antworten«, fragt Derrida, »wie kann man sich für ein Erbe verantwortlich fühlen, wenn diese Erbschaft widersprüchliche Anweisungen gibt?« Was ist die Erbschaft des Marxismus? Und welche Bedeutung kann sie heute haben?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2004Marx, vom Theater zurück zur Theorie
Seit dem Zerfall der letzten Systemideologien wissen wir kaum noch, was eine echte Auslegungsdebatte ist. Wo ist er geblieben, der Vorwurf des Theorieverrats mit dem Parteiausschluß als möglicher Sanktion? Die Debatten unserer Jahre sind auf allgemeine Prinzipien wie Menschenrecht oder Biodiversität aus. Die theoretischen Folterwerkzeuge, mit denen Begriffsverwirrung, Fehlinterpretation und letztlich eben Verrat den Abweichlern nachgewiesen werden, ruhen im Schrank der Dogmatik. Von der kompromißlosen Treue zum Buchstaben schlägt das Pendel zurück zum sehr allgemein gehaltenen Geist.
Bei einem Denker, der dem verborgensten Komma noch sinnhaft Geist entlockt und seine neue Heidegger-Auslegung vor Jahren schlichtweg "De l'esprit" nannte, ist der jeweils gerade entscheidend bedeutsame Buchstabe jedoch nie weit. Es will einem sogar vorkommen, als hätte der dekonstruktive Auslegungsvirtuose Jacques Derrida sich nicht zuletzt deshalb in den Gerichtsstand der marxistischen Systemdebatte begeben, um wieder einmal einen richtigen Auslegungsstreit nach Strich und Komma zu bekommen. Wenn Derrida heute jedenfalls vor den Hütern des marxistischen Theorieerbes steht, hat er sich ganz allein dorthin begeben. Das geschah über beinahe zehn Jahre hinweg in einem theoretischen Doppelsprung, der eben im Zeichen des Geistersehens steht und mit Gespenstern zu tun hat.
Der erste Sprung führte 1993 mit dem Buch "Marx' Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die Internationale" (neu aufgelegt jetzt im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 246 S., br., 10,- [Euro]) dramaturgisch wirkungsvoll auf die Terrasse von Elsenor. Derrida horchte dort wie Hamlet auf die Botschaften des entschwundenen Vaters, auf die Klopfzeichen von Marx nach dem Sturz des sowjetischen Machtsystems. Dieses Buch hat erwartungsgemäß in marxistischen Kreisen eine lebhafte Debatte ausgelöst. In dem von Michael Sprinker 1999 herausgegebenen Band "Ghostly Demarcations - A Symposium of Jacques Derridas ,Specters of Marx'" (Verso, London) waren zehn Antworten unter anderem von Pierre Macherey, Toni Negri, Werner Hamacher, Frederic Jameson, Tom Lewis versammelt. Derrida hätte es dabei bewenden lassen können.
Er ließ sich aber seinerseits für eine Entgegnung auf die vorgebrachte Kritik gewinnen und setzte so zu seinem zweiten Sprung an. Dieser führte von der Theaterbühne - "Spectres de Marx" wurde in Frankreich in einer szenischen Adaptation auch vom Theater gegegeben - zurück in den Gerichtsstand der Theorie. Derridas Entgegnungstext "Marx & Sons", der in der Übersetzung von Jürgen Schröder kurz nach dem französischen Original nun auf deutsch vorliegt (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 134 S., br., 9,- [Euro]), ist aber nur scheinbar eine Verteidigungsschrift. Mit den zahlreichen Rückverweisen, die dieser Text aufs eigene Gesamtwerk im Spiegel der marxistischen Ahnenreihe enthält, stehen wir über weite Strecken vor einer nachgereichten Darstellung Derridas seiner selbst.
Schon daß sich der Autor so auffallend lang bei den doktrinärsten Beiträgen von Sprinkers Sammelband aufhält und gegen Aijaz Ahmad etwa umständlich beteuert, er sei kein Postmodernist und kein Poststrukturalist und habe sich auch mit dem Marxismus gar nicht auszusöhnen, läßt ahnen, was Derrida mit seinem Rechtfertigungsplädoyer wirklich im Sinn hat. Der "dogmatische Schlummer" jener, die noch problemlos als "wir", die "Marxisten", mit dem Alleingeltungsanspruch ihrer Auslegung der Lehre auftreten, dient dem Philosophen der Dekonstruktion erkennbar nur dazu, sein Verfahren der "performativen Interpretation" noch etwas lauter und deutlicher vorzutragen und zugleich an der elften Feuerbach-These von Marx selbst zu messen. Die ganze "phallogozentrische" Abstammungslogik vom Vater auf die Söhne und Brüder ist von Derrida im Sinn einer Hermeneutik der "Spur" seit mehr als dreißig Jahren ja gerade in Frage gestellt worden.
Bleibt indessen die Frage der marxistischen Ontologie, die Derrida besonders in seiner Entgegnung auf Toni Negri aufgreift. "Wir halten die marxistische Ontologie beide für veraltet", stimmt Derrida dem Philosophen Negri bei, insbesondere was die "ontologische Beschreibung der Ausbeutung" angehe. Wo er dem italienischen Kollegen aber nicht mehr folgt, ist dessen Glaube, mit einer neuen, "post-dekonstruktiven" Ontologie in die Lücke springen zu können. Daß wir von Marx eine "politische Philosophie als Ontologie" haben oder noch bekommen, scheint Derrida mehr als zweifelhaft. Das Gespenst hat sich ausgesprochen und lächelt nur noch - "The Specter's Smile" hieß auch Negris Textbeitrag bei Sprinker. Dieses Lächeln des Defizits allein gilt es für Derrida fortan auszudeuten und nicht die Stimme einer vermeintlich erfüllten, schöpferischen Wirklichkeit "hinter der Maske des Gespenstes".
Nur erscheint diese dekonstruierende Weiterdeutung dem Autor keineswegs nostalgisch, melancholisch, als Trauerarbeit, wie Negri sie sieht, sondern affirmativ bis ins "Messianische ohne Messianismus" hinein. Sein Buch "Marx' Gespenster" sei für ihn ein "heiteres und komisches Buch", zweifellos fröhlicher als er selbst, schreibt Derrida - Bücher seien ja nicht ausschließlich Selbstdarstellung. In diesem Fall geht es sogar um unendlich viel mehr: um Selbstvertretung in einem selbstgewählten Zeugenstand. Dort erreicht den Philosophen Derrida auch das Urteil von Marx Sons & Brothers nicht mehr.
JOSEPH HANIMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seit dem Zerfall der letzten Systemideologien wissen wir kaum noch, was eine echte Auslegungsdebatte ist. Wo ist er geblieben, der Vorwurf des Theorieverrats mit dem Parteiausschluß als möglicher Sanktion? Die Debatten unserer Jahre sind auf allgemeine Prinzipien wie Menschenrecht oder Biodiversität aus. Die theoretischen Folterwerkzeuge, mit denen Begriffsverwirrung, Fehlinterpretation und letztlich eben Verrat den Abweichlern nachgewiesen werden, ruhen im Schrank der Dogmatik. Von der kompromißlosen Treue zum Buchstaben schlägt das Pendel zurück zum sehr allgemein gehaltenen Geist.
Bei einem Denker, der dem verborgensten Komma noch sinnhaft Geist entlockt und seine neue Heidegger-Auslegung vor Jahren schlichtweg "De l'esprit" nannte, ist der jeweils gerade entscheidend bedeutsame Buchstabe jedoch nie weit. Es will einem sogar vorkommen, als hätte der dekonstruktive Auslegungsvirtuose Jacques Derrida sich nicht zuletzt deshalb in den Gerichtsstand der marxistischen Systemdebatte begeben, um wieder einmal einen richtigen Auslegungsstreit nach Strich und Komma zu bekommen. Wenn Derrida heute jedenfalls vor den Hütern des marxistischen Theorieerbes steht, hat er sich ganz allein dorthin begeben. Das geschah über beinahe zehn Jahre hinweg in einem theoretischen Doppelsprung, der eben im Zeichen des Geistersehens steht und mit Gespenstern zu tun hat.
Der erste Sprung führte 1993 mit dem Buch "Marx' Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die Internationale" (neu aufgelegt jetzt im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 246 S., br., 10,- [Euro]) dramaturgisch wirkungsvoll auf die Terrasse von Elsenor. Derrida horchte dort wie Hamlet auf die Botschaften des entschwundenen Vaters, auf die Klopfzeichen von Marx nach dem Sturz des sowjetischen Machtsystems. Dieses Buch hat erwartungsgemäß in marxistischen Kreisen eine lebhafte Debatte ausgelöst. In dem von Michael Sprinker 1999 herausgegebenen Band "Ghostly Demarcations - A Symposium of Jacques Derridas ,Specters of Marx'" (Verso, London) waren zehn Antworten unter anderem von Pierre Macherey, Toni Negri, Werner Hamacher, Frederic Jameson, Tom Lewis versammelt. Derrida hätte es dabei bewenden lassen können.
Er ließ sich aber seinerseits für eine Entgegnung auf die vorgebrachte Kritik gewinnen und setzte so zu seinem zweiten Sprung an. Dieser führte von der Theaterbühne - "Spectres de Marx" wurde in Frankreich in einer szenischen Adaptation auch vom Theater gegegeben - zurück in den Gerichtsstand der Theorie. Derridas Entgegnungstext "Marx & Sons", der in der Übersetzung von Jürgen Schröder kurz nach dem französischen Original nun auf deutsch vorliegt (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 134 S., br., 9,- [Euro]), ist aber nur scheinbar eine Verteidigungsschrift. Mit den zahlreichen Rückverweisen, die dieser Text aufs eigene Gesamtwerk im Spiegel der marxistischen Ahnenreihe enthält, stehen wir über weite Strecken vor einer nachgereichten Darstellung Derridas seiner selbst.
Schon daß sich der Autor so auffallend lang bei den doktrinärsten Beiträgen von Sprinkers Sammelband aufhält und gegen Aijaz Ahmad etwa umständlich beteuert, er sei kein Postmodernist und kein Poststrukturalist und habe sich auch mit dem Marxismus gar nicht auszusöhnen, läßt ahnen, was Derrida mit seinem Rechtfertigungsplädoyer wirklich im Sinn hat. Der "dogmatische Schlummer" jener, die noch problemlos als "wir", die "Marxisten", mit dem Alleingeltungsanspruch ihrer Auslegung der Lehre auftreten, dient dem Philosophen der Dekonstruktion erkennbar nur dazu, sein Verfahren der "performativen Interpretation" noch etwas lauter und deutlicher vorzutragen und zugleich an der elften Feuerbach-These von Marx selbst zu messen. Die ganze "phallogozentrische" Abstammungslogik vom Vater auf die Söhne und Brüder ist von Derrida im Sinn einer Hermeneutik der "Spur" seit mehr als dreißig Jahren ja gerade in Frage gestellt worden.
Bleibt indessen die Frage der marxistischen Ontologie, die Derrida besonders in seiner Entgegnung auf Toni Negri aufgreift. "Wir halten die marxistische Ontologie beide für veraltet", stimmt Derrida dem Philosophen Negri bei, insbesondere was die "ontologische Beschreibung der Ausbeutung" angehe. Wo er dem italienischen Kollegen aber nicht mehr folgt, ist dessen Glaube, mit einer neuen, "post-dekonstruktiven" Ontologie in die Lücke springen zu können. Daß wir von Marx eine "politische Philosophie als Ontologie" haben oder noch bekommen, scheint Derrida mehr als zweifelhaft. Das Gespenst hat sich ausgesprochen und lächelt nur noch - "The Specter's Smile" hieß auch Negris Textbeitrag bei Sprinker. Dieses Lächeln des Defizits allein gilt es für Derrida fortan auszudeuten und nicht die Stimme einer vermeintlich erfüllten, schöpferischen Wirklichkeit "hinter der Maske des Gespenstes".
Nur erscheint diese dekonstruierende Weiterdeutung dem Autor keineswegs nostalgisch, melancholisch, als Trauerarbeit, wie Negri sie sieht, sondern affirmativ bis ins "Messianische ohne Messianismus" hinein. Sein Buch "Marx' Gespenster" sei für ihn ein "heiteres und komisches Buch", zweifellos fröhlicher als er selbst, schreibt Derrida - Bücher seien ja nicht ausschließlich Selbstdarstellung. In diesem Fall geht es sogar um unendlich viel mehr: um Selbstvertretung in einem selbstgewählten Zeugenstand. Dort erreicht den Philosophen Derrida auch das Urteil von Marx Sons & Brothers nicht mehr.
JOSEPH HANIMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit diesem Buch von Jacques Derrida stehen wir, so will Joseph Hanimann entdeckt haben, "über weite Strecken vor einer nachgereichten Darstellung Derridas seiner selbst". Auf jeden Fall ist dieses Buch für Hanimann weit mehr als bloß eine Reaktion, Entgegnung oder Verteidigung Derridas angesichts der Debatten, die sein Buch "Marx' Gespenster" von 1993 ausgelöst hat. Die "dekonstruierende Weiterdeutung" von Marx erscheine Derrida, so Hanimann, keineswegs nostalgisch, melancholisch, also "als Trauerarbeit, wie Negri sie sieht", sondern, wie sich hier nun zeige, "affirmativ bis ins 'Messianische ohne Messianismus' hinein." Für Hanimann geht es in diesem Buch deshalb "um Selbstvertretung in einem selbstgewählten Zeugenstand" - in dem Derrida, wie Hanimann schließt, "auch das Urteil von Marx Sons & Brothers nicht mehr" erreiche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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