Dass es neben der "Frankfurter Schule" mit ihrer "Kritischen Theorie" auch eine marxistisch orientierte "Marburger Schule" mit wissenschaftlich und politisch intensiver Wirkung gegeben hat, wird oft vergessen. Lothar Peter zeichnet deren Geschichte nach und verortet sie im politisch-intellektuellen Diskurs und in den politischen Entwicklungen der Bundesrepublik. Eine zentrale Rolle kommt dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth zu, im Unterschied zu anderen Darstellungen berücksichtigt Peter aber ebenso die Soziologen Werner Hofmann und Heinz Maus und geht auch auf die Nachfolger ein. Alle teilten ein Wissenschaftsverständnis, das akademische Lehre und Forschung mit dem Ziel gesellschaftsverändernder Praxis verknüpfte. Dieses Profil stieß auf massiven Widerstand. Es gehört zu den Befunden des Buches, dass sich die Akteure der Marburger Schule diesem Druck weder gebeugt haben noch ideologisch zu Kreuze gekrochen sind. Dabei benennt das Buch durchaus auch ihre Defizite und Grenzen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2014Als Marx an der Uni war
Wege und Irrwege der "Marburger Schule"
Eine der schönsten Erfahrungen des Alterns: Die eigene Jugend wird historisiert und erreicht die Würde einer Objektivierung. Dann sieht man sogar darüber hinweg, dass man die Sache, um die es geht - den ziemlich moskowitisch geprägten universitären Marxismus im Marburg der sechziger und siebziger Jahre plus Nachwirkungen -, anders und weniger freundlich betrachtet als Lothar Peter, der starke eigene Bindungen an diese Tendenz hatte und hat ("Marx an die Uni. Die ,Marburger Schule' - Geschichte, Probleme, Akteure". PapyRossa Verlag, Köln 2014).
Man kann die Leistungen dieser Schule auch nicht summarisch beurteilen. Am Anfang standen bei den Schülern von Wolfgang Abendroth, der seit 1951 in Marburg lehrte, sehr gediegene Studien, in denen die Bildungserfahrungen Abendroths in der Linken der Weimarer Republik noch einmal durchanalysiert wurden. 1963 erschien etwa die Dissertation von Hanno Drechsler, dem späteren Marburger Oberbürgermeister: "Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD): Ein Beitrag zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik". Von Karl Hermann Tjaden stammte die Untersuchung "Struktur und Funktion der ,KPD-Opposition' (KPO)" - gerade diese musste Abendroth am Herzen liegen, hatte er dieser Gruppierung doch selbst angehört. Hans Manfred Bock analysierte 1969 "Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands". Georg Fülberth, eine echte Kapazität der SPD-Geschichte, veröffentlichte 1972 "Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie der II. Internationale über Möglichkeiten und Grenzen einer sozialistischen Literaturpolitik".
Die eigentliche Misere begann damit, dass Anfang der siebziger Jahre durch Hausberufungen und "Überleitungen" die Abendroth-Schüler am Marburger Fachbereich 03 eine Dominanz erreichten, die sie nun mit allem geschichtsphilosophischen Hochmut spürbar machten. Das hatte gelegentlich mit Wissenschaft kaum mehr zu tun, und selbst wer gegenüber Abendroth als Person den höchsten Respekt empfand, konnte seine Berufungspolitik nicht anders als katastrophal nennen. Wir erinnern uns an den Lehrbeauftragten Gerd Meyer, der in einem Seminar über das sowjetische System allen Ernstes die vom Moskauer Staatsverlag publizierte Broschüre "Der Kolchosbauer" als wissenschaftliche Quelle anpries.
Insofern verwundert es, dass der Soziologe Heinz Maus, der aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung (mit Umwegen über Hans Freyer in Leipzig und Ernst Niekisch in Ost-Berlin) nach Marburg gekommen war, von Lothar Peter mit Abendroth und dem Sozialökonomen Werner Hofmann zum marxistischen "Dreigestirn" gezählt wird. Faktisch war es umgekehrt; Maus wurde in der Mitte der siebziger Jahre als willkommene und fast einzige Alternative zum allgegenwärtigen DKP-Sound geschätzt. Dieser Sound übrigens war selten offen - es gab Deckworte wie "Gewerkschaftliche Orientierung" -, und Georg Fülberth schien uns auch darum menschlich und politisch so schätzenswert, weil er als Einziger aus seiner Parteizugehörigkeit kein Geheimnis machte. Man wusste, woran man mit ihm war.
Die Marburger Marxisten teilten, wie Peter erklärt, die "Haltung der DKP, deren problematische Bindung an die SED ihnen zwar bewusst war, die sie aber im Verhältnis zu deren konkreten Aktivitäten und politischen Zielen als sekundär einschätzten, zumal ihnen die finanzielle Abhängigkeit der Partei von der DDR verborgen blieb". Eigentlich der Todesstoß für eine Schule, die überall nach der ökonomischen Basis politischer Entscheidungen suchte.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wege und Irrwege der "Marburger Schule"
Eine der schönsten Erfahrungen des Alterns: Die eigene Jugend wird historisiert und erreicht die Würde einer Objektivierung. Dann sieht man sogar darüber hinweg, dass man die Sache, um die es geht - den ziemlich moskowitisch geprägten universitären Marxismus im Marburg der sechziger und siebziger Jahre plus Nachwirkungen -, anders und weniger freundlich betrachtet als Lothar Peter, der starke eigene Bindungen an diese Tendenz hatte und hat ("Marx an die Uni. Die ,Marburger Schule' - Geschichte, Probleme, Akteure". PapyRossa Verlag, Köln 2014).
Man kann die Leistungen dieser Schule auch nicht summarisch beurteilen. Am Anfang standen bei den Schülern von Wolfgang Abendroth, der seit 1951 in Marburg lehrte, sehr gediegene Studien, in denen die Bildungserfahrungen Abendroths in der Linken der Weimarer Republik noch einmal durchanalysiert wurden. 1963 erschien etwa die Dissertation von Hanno Drechsler, dem späteren Marburger Oberbürgermeister: "Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD): Ein Beitrag zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik". Von Karl Hermann Tjaden stammte die Untersuchung "Struktur und Funktion der ,KPD-Opposition' (KPO)" - gerade diese musste Abendroth am Herzen liegen, hatte er dieser Gruppierung doch selbst angehört. Hans Manfred Bock analysierte 1969 "Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands". Georg Fülberth, eine echte Kapazität der SPD-Geschichte, veröffentlichte 1972 "Proletarische Partei und bürgerliche Literatur. Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie der II. Internationale über Möglichkeiten und Grenzen einer sozialistischen Literaturpolitik".
Die eigentliche Misere begann damit, dass Anfang der siebziger Jahre durch Hausberufungen und "Überleitungen" die Abendroth-Schüler am Marburger Fachbereich 03 eine Dominanz erreichten, die sie nun mit allem geschichtsphilosophischen Hochmut spürbar machten. Das hatte gelegentlich mit Wissenschaft kaum mehr zu tun, und selbst wer gegenüber Abendroth als Person den höchsten Respekt empfand, konnte seine Berufungspolitik nicht anders als katastrophal nennen. Wir erinnern uns an den Lehrbeauftragten Gerd Meyer, der in einem Seminar über das sowjetische System allen Ernstes die vom Moskauer Staatsverlag publizierte Broschüre "Der Kolchosbauer" als wissenschaftliche Quelle anpries.
Insofern verwundert es, dass der Soziologe Heinz Maus, der aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung (mit Umwegen über Hans Freyer in Leipzig und Ernst Niekisch in Ost-Berlin) nach Marburg gekommen war, von Lothar Peter mit Abendroth und dem Sozialökonomen Werner Hofmann zum marxistischen "Dreigestirn" gezählt wird. Faktisch war es umgekehrt; Maus wurde in der Mitte der siebziger Jahre als willkommene und fast einzige Alternative zum allgegenwärtigen DKP-Sound geschätzt. Dieser Sound übrigens war selten offen - es gab Deckworte wie "Gewerkschaftliche Orientierung" -, und Georg Fülberth schien uns auch darum menschlich und politisch so schätzenswert, weil er als Einziger aus seiner Parteizugehörigkeit kein Geheimnis machte. Man wusste, woran man mit ihm war.
Die Marburger Marxisten teilten, wie Peter erklärt, die "Haltung der DKP, deren problematische Bindung an die SED ihnen zwar bewusst war, die sie aber im Verhältnis zu deren konkreten Aktivitäten und politischen Zielen als sekundär einschätzten, zumal ihnen die finanzielle Abhängigkeit der Partei von der DDR verborgen blieb". Eigentlich der Todesstoß für eine Schule, die überall nach der ökonomischen Basis politischer Entscheidungen suchte.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main