Vielen Lesern ist Mary Shelley (1797-1851) nur als Autorin des Romans »Frankenstein«, als Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und als Ehefrau des romantischen Dichters Percy B. Shelley bekannt. Aber nach ihrem furiosen Debüt schrieb sie fünf weitere Romane, über dreißig Erzählungen sowie Reisebeschreibungen, Essays, Rezensionen, Kurzbiographien, Briefe und Gedichte. Die Biographie erzählt vom bewegten Leben Mary Shelleys vor dem historischen Hintergrund Europas im frühen 19. Jahrhundert, von ihren Reisen in die Schweiz und nach Italien, ihren Beziehungen zu bedeutenden Dichtern und Denkern. Weibliche Rollenentwürfe zwischen Feminismus und Familie, der Kampf um Anerkennung und gegen die Vorurteile ihrer Zeitgenossen, eine große Liebe und ihr Verlust prägten ihr Leben und Werk gleichermaßen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2007Das Drama der verworfenen Kreatur
Sie glauben, Mary Shelleys "Frankenstein" sei eine Monstergeschichte? Jetzt liegt auf deutsch erstmals die 1818 erschienene Urfassung vor. Und wer sie liest, wird darin einen Erziehungsroman über Einsamkeit und die Angst vor dem Verlust der Familie entdecken. Es ist eines der großen Werke der europäischen Literatur, einem schauerlichen Leben abgerungen.
Von Jürgen Kaube
Drei Missverständnissen, von denen dieses bewundernswerte Buch einer bewundernswerten Frau unablässig begleitet wird, muss man entgegentreten. Zunächst: Nicht das Monster, sondern der Wissenschaftler heißt Frankenstein; und er ist auch kein verrückt gewordener Arzt, sondern ein nicht verrückt gewordener Chemiker. Dann: Das Buch Mary Shelleys, das ihn und das Monster - und manchmal eben das Monster unter seinem Namen, wie monströserweise auch auf dem Umschlagtext der neuesten deutschen Shelley-Biographie - bekannt gemacht hat, dieses Buch handelt nicht von Ethikproblemen der modernen Naturwissenschaft. Und schließlich: Es ist auch, trotz der Ehe Mary Shelleys mit dem schwärmerischen Dichter Percy Bysshe Shelley und ihrer Bekanntschaft mit dem zynischen Dichter Lord Byron, weder ein romantisches Buch noch eine Geschichte in der Tradition der gothic novels.
Tatsächlich hatten sich im Juni 1816 die achtzehnjährige Mary Shelley, die damals noch Wollstonecraft hieß, ihre Stiefschwester und ihr späterer Mann sowie Lord Byron und dessen Arzt, John Polidori - promoviert über Schlafwandlerei -, in der Villa Diodati am Genfer See eingefunden. Die Shelleys befanden sich auf der Flucht: vor den Eltern, vor Schulden, vor Englands Enge. Im Jahr zuvor war der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen, was eine weltweite Klimaverschlechterung verstärkt, wenn nicht sogar ausgelöst hatte und 1816 zu einem "Jahr ohne Sommer" mit staubverhangenem Himmel machte.
In düsteren Nächten erzählte man sich Gespenstergeschichten. Aus der von Polidori, "The Vampyre", gingen die Anstöße zu Bram Stokers "Dracula" hervor, Percy Shelley und Byron verarbeiteten ihre Einfälle später in Gedichten. Mary aber erfand, angeregt durch ihre erstaunliche Kenntnis alchemistischer Werke, Schauerromane und galvanische Experimente, die Geschichte von dem an der Universität Ingolstadt in Folge einer Exzellenzüberspannung aus Leichenteilen zusammenmontierten und künstlich belebten Menschen.
Doch von den "gotischen" Schauerromanen der empfindsamen Aufklärung unterscheidet sich "Frankenstein" durch seinen großen Ernst im Umgang mit der Angst. Viktor Frankenstein lobt an seiner Erziehung ausdrücklich, sie habe ihn nie vor Dunkelheit, Friedhöfen und Geistern sich fürchten lassen. Es gibt darum auch keine Entlarvung der vordergründigen Schreck- und Geheimnisse, keinen Priester- oder angeblichen Freimaurertrug, der hinter den Gespenstern steckt, keinen Vorhang, der am Ende aufgezogen wird, um den Aberglauben als Triebkraft der Angst und ihrer Gesichte zu erweisen. Frankenstein schafft das Monster tatsächlich, denn die Ängste, von denen Mary Shelley sprechen will, entspringen keiner Einbildung.
Forschung und Einbildungskraft.
Anders freilich, als manche Nacherzählung es will, liegt in jener kurzen Szene vom frevelnden Wissenschaftler nur die Anfangsbedingung für jene Blutspur, die das Monster durch Europa zieht, indem es Verwandte und Freunde seines Schöpfers tötet. Soviel Selbstüberhebung auch Viktor Frankenstein bewegte, als er das Wesen schuf - seine eigentliche Untat, daran bleibt kein Zweifel, war es, vor seinem Geschöpf aus Grauen über dessen Aussehen und die eigene Tat zu fliehen. Der Forscher wirft seine unperfekte Kreatur hin wie Gott die ganze Schöpfung bei Benjamin Constant, er läuft am siebten Tag einfach weg vor dem Dreck, den er da anscheinend produziert hat. Und macht dadurch alles vollends schlimm. Kinder kann man nicht zurücknehmen.
Diese fiction handelt insofern nur exemplarisch von science. Es ist nicht die Wissenschaft selber, es ist die Kombination aus Forschung und einer entgrenzten Einbildungskraft, die Frankenstein auf den Weg bringt. Das Rätsel des Lebens selber - darum ging es ihm. Es ist also das Streben nach Ganzheit, kein moralblindes Spezialistentum, das ihn verdirbt. Die Wissenschaft ist nur das Beispiel für eine jederzeit in Feigheit umschlagsbereite Rücksichtslosigkeit des Tatmenschentums, für die es auch noch andere Fälle gibt: die des Entdeckungsreisenden etwa, der die Rahmenhandlung des Romans erzählt, oder die der Ästheten, von denen Mary Shelley aus nächster Anschauung ein bitteres Lied zu singen wusste - sie nämlich lebte im Diesseits der Romantik.
Die Selbsterziehung des Monsters.
Von diesem Diesseits erfährt man aus Alexander Pechmanns Biographie, die allerdings ein wenig gehetzt geschrieben wirkt und vor allem mit ausführlichen Nacherzählungen des späteren Romanwerks der Autorin aufwartet. Etwas knapp und farblos bleibt sie hingegen, was Shelleys Tagebücher und Briefe sowie die Personen in ihrem Umkreis angeht. Die Romantik aber, so viel geht daraus klar hervor, war nur zwischendurch romantisch.
Sie wolle "die Liebenswürdigkeit familiärer Zuneigung" darstellen, hatte Mary Shelley im Vorwort zu ihrem Roman angekündigt. Von solcher Zuneigung hatte sie selber wenig genug erfahren. Die Mutter: bei ihrer Geburt gestorben; der Vater: ein wortreicher Egoist; der Schwiegervater: hartherzig und seinen Neid auf den moralisch zweifelhaften, poetisch unumstrittenen Ruhm des Sohnes an der Schwiegertochter auslassend; die Halbschwester Fanny: bringt sich 1817, als Mary an "Frankenstein" schreibt, um; die Stiefschwester Claire: wirft sich Byron vor die Füße, bekommt ein Kind von ihm, das er ihr gleich wegnimmt und das wenig später im Kloster stirbt; der Mann: ein Narziss, der als Dichter selbstverständlich eine offene Beziehung beansprucht, seine erste Frau endet ebenfalls durch Selbstmord; die Kinder: Drei sterben früh weg, eines davon, weil Mary mit der bereits fiebernden Kleinen von ihrem Dichtergatten zu einer qualvollen Kutschfahrt durch die Hitze Oberitaliens nach Venedig bestellt worden war. Und am Ende all dieser Qualen ertrinkt der geniale Nichtschwimmer, um dessentwillen sie ertragen wurden, der geliebte Shelley bei einem Bootsausflug.
Und was hat das alles mit "Frankenstein" zu tun? Der jetzt erstmals auf Deutsch vorliegenden Urfassung ist noch stärker als der von Mary Shelley überarbeiteten Version von 1831 anzumerken, wie sehr es sich um einen Erziehungsroman und fast um eine bittere Antwort auf den Klassiker dieser Gattung, den "Émile", handelt. Wie Rousseau kommt Viktor Frankenstein in Genf zur Welt. Seine Kreatur bemüht sich redlich, Rousseaus Ideal vom "edlen Wilden" zu entsprechen. Und wie Rousseaus Erzähler an seinem Zögling, so führt Shelley an der Kreatur Frankensteins ein Gedankenexperiment durch: Erziehung außerhalb von natürlicher Gemeinschaft und an einem Wesen, dem man die Motive für das genommen hat, wofür Rousseau den Ausdruck "Eigenliebe" verwendete.
Alles dreht sich so im Roman um die Bedeutung von Familie, was die Autorin später ein wenig abschwächte, um im Konflikt mit ihrem Schwiegervater, von dem sie wirtschaftlich abhängig war, keine provozierenden Schlüsse vom Buch aufs Leben zuzulassen. Aber es blieben genug: Das vom Schöpfer verlassene Monster wird grausam, weil es auch von allen anderen zurückgestoßen wird, mag es sich noch so sehr um sie bemüht haben. "Freundschaft" ist vielleicht das häufigste Wort des Romans und das, was dem Monster versagt bleibt; so, als wollte Mary Shelley auf das Elend einer Kreatur hinweisen, der selbst die geringste Kompensation dafür, keine Mutter und Familie zu haben, nicht gewährt wird. Das Monster erzieht sich selbst, es liest - den Werther, Milton und Plutarch - und begreift, dass es, wie Adam, "ohne jede Verbindung zu einer anderen Lebensform" erschaffen wurde, aber anders als Adam auch ohne jeden Schutz und ohne jede Möglichkeit der Erfüllung. Also beschließt es, auch das Glück seines Schöpfers, dessen Familie, zu zerstören.
Auf diese Weise ist "Frankenstein" ein Roman über Angst, jene Angst, die den buchstäblich Einsamen befällt, und auch über die, die er entbindet, wenn er handelt, als ob er allein auf der Welt wäre, ob nun als Forscher oder als Romantiker. Der Geist, der alles aus sich selbst heraus erschaffen kann - das war eine Lesart von Romantik und Idealismus, aber auch eine der Französischen Revolution. Mary Shelley schrieb auf, was das, buchstäblich genommen, bedeuten würde. Hinter den Übermalungen durch die Gruselliteratur und das Kino ist darum in ihrem Roman eine der großen moralischen Erzählungen der europäischen Literatur zu entdecken.
- Mary Shelley: "Frankenstein oder Der moderne Prometheus". Die Urfassung. Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. 303 S., geb., 24,90 [Euro].
- Alexander Pechmann: "Mary Shelley". Leben und Werk. 310 S., geb., 24,90 [Euro]. Beide im Patmos Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie glauben, Mary Shelleys "Frankenstein" sei eine Monstergeschichte? Jetzt liegt auf deutsch erstmals die 1818 erschienene Urfassung vor. Und wer sie liest, wird darin einen Erziehungsroman über Einsamkeit und die Angst vor dem Verlust der Familie entdecken. Es ist eines der großen Werke der europäischen Literatur, einem schauerlichen Leben abgerungen.
Von Jürgen Kaube
Drei Missverständnissen, von denen dieses bewundernswerte Buch einer bewundernswerten Frau unablässig begleitet wird, muss man entgegentreten. Zunächst: Nicht das Monster, sondern der Wissenschaftler heißt Frankenstein; und er ist auch kein verrückt gewordener Arzt, sondern ein nicht verrückt gewordener Chemiker. Dann: Das Buch Mary Shelleys, das ihn und das Monster - und manchmal eben das Monster unter seinem Namen, wie monströserweise auch auf dem Umschlagtext der neuesten deutschen Shelley-Biographie - bekannt gemacht hat, dieses Buch handelt nicht von Ethikproblemen der modernen Naturwissenschaft. Und schließlich: Es ist auch, trotz der Ehe Mary Shelleys mit dem schwärmerischen Dichter Percy Bysshe Shelley und ihrer Bekanntschaft mit dem zynischen Dichter Lord Byron, weder ein romantisches Buch noch eine Geschichte in der Tradition der gothic novels.
Tatsächlich hatten sich im Juni 1816 die achtzehnjährige Mary Shelley, die damals noch Wollstonecraft hieß, ihre Stiefschwester und ihr späterer Mann sowie Lord Byron und dessen Arzt, John Polidori - promoviert über Schlafwandlerei -, in der Villa Diodati am Genfer See eingefunden. Die Shelleys befanden sich auf der Flucht: vor den Eltern, vor Schulden, vor Englands Enge. Im Jahr zuvor war der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen, was eine weltweite Klimaverschlechterung verstärkt, wenn nicht sogar ausgelöst hatte und 1816 zu einem "Jahr ohne Sommer" mit staubverhangenem Himmel machte.
In düsteren Nächten erzählte man sich Gespenstergeschichten. Aus der von Polidori, "The Vampyre", gingen die Anstöße zu Bram Stokers "Dracula" hervor, Percy Shelley und Byron verarbeiteten ihre Einfälle später in Gedichten. Mary aber erfand, angeregt durch ihre erstaunliche Kenntnis alchemistischer Werke, Schauerromane und galvanische Experimente, die Geschichte von dem an der Universität Ingolstadt in Folge einer Exzellenzüberspannung aus Leichenteilen zusammenmontierten und künstlich belebten Menschen.
Doch von den "gotischen" Schauerromanen der empfindsamen Aufklärung unterscheidet sich "Frankenstein" durch seinen großen Ernst im Umgang mit der Angst. Viktor Frankenstein lobt an seiner Erziehung ausdrücklich, sie habe ihn nie vor Dunkelheit, Friedhöfen und Geistern sich fürchten lassen. Es gibt darum auch keine Entlarvung der vordergründigen Schreck- und Geheimnisse, keinen Priester- oder angeblichen Freimaurertrug, der hinter den Gespenstern steckt, keinen Vorhang, der am Ende aufgezogen wird, um den Aberglauben als Triebkraft der Angst und ihrer Gesichte zu erweisen. Frankenstein schafft das Monster tatsächlich, denn die Ängste, von denen Mary Shelley sprechen will, entspringen keiner Einbildung.
Forschung und Einbildungskraft.
Anders freilich, als manche Nacherzählung es will, liegt in jener kurzen Szene vom frevelnden Wissenschaftler nur die Anfangsbedingung für jene Blutspur, die das Monster durch Europa zieht, indem es Verwandte und Freunde seines Schöpfers tötet. Soviel Selbstüberhebung auch Viktor Frankenstein bewegte, als er das Wesen schuf - seine eigentliche Untat, daran bleibt kein Zweifel, war es, vor seinem Geschöpf aus Grauen über dessen Aussehen und die eigene Tat zu fliehen. Der Forscher wirft seine unperfekte Kreatur hin wie Gott die ganze Schöpfung bei Benjamin Constant, er läuft am siebten Tag einfach weg vor dem Dreck, den er da anscheinend produziert hat. Und macht dadurch alles vollends schlimm. Kinder kann man nicht zurücknehmen.
Diese fiction handelt insofern nur exemplarisch von science. Es ist nicht die Wissenschaft selber, es ist die Kombination aus Forschung und einer entgrenzten Einbildungskraft, die Frankenstein auf den Weg bringt. Das Rätsel des Lebens selber - darum ging es ihm. Es ist also das Streben nach Ganzheit, kein moralblindes Spezialistentum, das ihn verdirbt. Die Wissenschaft ist nur das Beispiel für eine jederzeit in Feigheit umschlagsbereite Rücksichtslosigkeit des Tatmenschentums, für die es auch noch andere Fälle gibt: die des Entdeckungsreisenden etwa, der die Rahmenhandlung des Romans erzählt, oder die der Ästheten, von denen Mary Shelley aus nächster Anschauung ein bitteres Lied zu singen wusste - sie nämlich lebte im Diesseits der Romantik.
Die Selbsterziehung des Monsters.
Von diesem Diesseits erfährt man aus Alexander Pechmanns Biographie, die allerdings ein wenig gehetzt geschrieben wirkt und vor allem mit ausführlichen Nacherzählungen des späteren Romanwerks der Autorin aufwartet. Etwas knapp und farblos bleibt sie hingegen, was Shelleys Tagebücher und Briefe sowie die Personen in ihrem Umkreis angeht. Die Romantik aber, so viel geht daraus klar hervor, war nur zwischendurch romantisch.
Sie wolle "die Liebenswürdigkeit familiärer Zuneigung" darstellen, hatte Mary Shelley im Vorwort zu ihrem Roman angekündigt. Von solcher Zuneigung hatte sie selber wenig genug erfahren. Die Mutter: bei ihrer Geburt gestorben; der Vater: ein wortreicher Egoist; der Schwiegervater: hartherzig und seinen Neid auf den moralisch zweifelhaften, poetisch unumstrittenen Ruhm des Sohnes an der Schwiegertochter auslassend; die Halbschwester Fanny: bringt sich 1817, als Mary an "Frankenstein" schreibt, um; die Stiefschwester Claire: wirft sich Byron vor die Füße, bekommt ein Kind von ihm, das er ihr gleich wegnimmt und das wenig später im Kloster stirbt; der Mann: ein Narziss, der als Dichter selbstverständlich eine offene Beziehung beansprucht, seine erste Frau endet ebenfalls durch Selbstmord; die Kinder: Drei sterben früh weg, eines davon, weil Mary mit der bereits fiebernden Kleinen von ihrem Dichtergatten zu einer qualvollen Kutschfahrt durch die Hitze Oberitaliens nach Venedig bestellt worden war. Und am Ende all dieser Qualen ertrinkt der geniale Nichtschwimmer, um dessentwillen sie ertragen wurden, der geliebte Shelley bei einem Bootsausflug.
Und was hat das alles mit "Frankenstein" zu tun? Der jetzt erstmals auf Deutsch vorliegenden Urfassung ist noch stärker als der von Mary Shelley überarbeiteten Version von 1831 anzumerken, wie sehr es sich um einen Erziehungsroman und fast um eine bittere Antwort auf den Klassiker dieser Gattung, den "Émile", handelt. Wie Rousseau kommt Viktor Frankenstein in Genf zur Welt. Seine Kreatur bemüht sich redlich, Rousseaus Ideal vom "edlen Wilden" zu entsprechen. Und wie Rousseaus Erzähler an seinem Zögling, so führt Shelley an der Kreatur Frankensteins ein Gedankenexperiment durch: Erziehung außerhalb von natürlicher Gemeinschaft und an einem Wesen, dem man die Motive für das genommen hat, wofür Rousseau den Ausdruck "Eigenliebe" verwendete.
Alles dreht sich so im Roman um die Bedeutung von Familie, was die Autorin später ein wenig abschwächte, um im Konflikt mit ihrem Schwiegervater, von dem sie wirtschaftlich abhängig war, keine provozierenden Schlüsse vom Buch aufs Leben zuzulassen. Aber es blieben genug: Das vom Schöpfer verlassene Monster wird grausam, weil es auch von allen anderen zurückgestoßen wird, mag es sich noch so sehr um sie bemüht haben. "Freundschaft" ist vielleicht das häufigste Wort des Romans und das, was dem Monster versagt bleibt; so, als wollte Mary Shelley auf das Elend einer Kreatur hinweisen, der selbst die geringste Kompensation dafür, keine Mutter und Familie zu haben, nicht gewährt wird. Das Monster erzieht sich selbst, es liest - den Werther, Milton und Plutarch - und begreift, dass es, wie Adam, "ohne jede Verbindung zu einer anderen Lebensform" erschaffen wurde, aber anders als Adam auch ohne jeden Schutz und ohne jede Möglichkeit der Erfüllung. Also beschließt es, auch das Glück seines Schöpfers, dessen Familie, zu zerstören.
Auf diese Weise ist "Frankenstein" ein Roman über Angst, jene Angst, die den buchstäblich Einsamen befällt, und auch über die, die er entbindet, wenn er handelt, als ob er allein auf der Welt wäre, ob nun als Forscher oder als Romantiker. Der Geist, der alles aus sich selbst heraus erschaffen kann - das war eine Lesart von Romantik und Idealismus, aber auch eine der Französischen Revolution. Mary Shelley schrieb auf, was das, buchstäblich genommen, bedeuten würde. Hinter den Übermalungen durch die Gruselliteratur und das Kino ist darum in ihrem Roman eine der großen moralischen Erzählungen der europäischen Literatur zu entdecken.
- Mary Shelley: "Frankenstein oder Der moderne Prometheus". Die Urfassung. Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann. 303 S., geb., 24,90 [Euro].
- Alexander Pechmann: "Mary Shelley". Leben und Werk. 310 S., geb., 24,90 [Euro]. Beide im Patmos Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2006Wer ist das Monster?
Erstmals auf Deutsch: Die Urfassung von Mary Shelleys „Frankenstein”
1814 flieht die noch nicht ganz siebzehnjährige Mary Godwin mit Percy Bysshe Shelley aus ihrem Vaterhaus in England auf den Kontinent. Damit beginnt eine weibliche Passionsgeschichte, deren Qualen gerade in der Verdichtung der wichtigen Ereignisse dieses Lebens spürbar werden, wie sie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Barbara Johnson vornimmt: „Ihr Vater (William Godwin), einst ein vehementer Kämpfer gegen die Institution der Ehe, war nahe daran, seine Tochter zu verleugnen, weil sie mit Shelley, einem bereits verheirateten Anhänger von Godwins eigenen früheren Ansichten, davongelaufen war. Und Shelley, der viel von mehrfachen Liebesobjekten hielt, protegierte wohlwollend die erotische Korrespondenz zwischen Mary und seinem Freund Thomas Jefferson Hogg als eine von vielen. Über Jahre hinweg wurden Mary und Shelley überall hin von Marys Stiefschwester Claire begleitet, die von Mary nicht besonders gelitten wurde, die ein Kind mit Byron hatte und eine zwiespältige Beziehung zu Shelley unterhielt. Während des Schreibens von Frankenstein erfuhr Mary vom Selbstmord ihrer Halbschwester Fanny Imlay, des von einem amerikanischen Liebhaber stammenden unehelichen Kindes ihrer Mutter, und vom Selbstmord von Shelleys Frau Harriet, die von einem anderen Mann als Shelley schwanger war. Als sie und Shelley heirateten, hatte Mary zwei Kinder gehabt; bis zu Shelleys Tod sollten zwei weitere geboren werden; und sie musste zuschauen, wie – von einem abgesehen – alle noch im Säuglingsalter starben.”
Abscheuliche Nachkommen
Barbara Johnsons Aufsatz über Mary Godwin-Shelleys Frankenstein „Mein Monster – mein Selbst” kommt zu dem Schluss, „daß die Monstrosität des Selbst in die Frage der weiblichen Autobiographie tief eingebettet ist”. Das Monster sei der Doppelgänger der gequälten Mary Shelley, und erschreckt und ahnungsvoll habe Percy Shelley ein milderndes Vorwort zum Roman geschrieben, um erst so „die abscheuliche Nachkommenschaft seiner Frau auf die Welt” loszulassen. Seither ist Mary Shelleys Erstlingswerk unausgesprochen ein Streitfall zwischen männlichen und weiblichen Interpreten.
Traditionellen Literaturwissenschaftlern gilt der Roman als Produkt des englischen „Satanismus”. Das Monster, das Frankenstein zu seinem eigenen Unheil erschaffen hat, ist ihnen mehr als ein weiteres Mitglied aus der gespenstischen Gesellschaft der „Gothic Novel”. Mit dem Roman habe Mary Shelley literarisches Neuland betreten und die Gattung der Science-Fiction begründet. Aus den philosophischen Anregungen des gelehrten Vaters, den Diskussionen ihrer Freunde, Shelleys vor allem und Lord Byrons, aus der Lektüre naturwissenschaftlicher Bücher habe die kaum Neunzehnjährige einen neuen literarischen Typus kompiliert, die Allegorie der menschlichen Möglichkeiten, eine Grundfigur aller Science-Fiction-Romane.
Die Entwicklung Mary Shelleys gibt den Literaturhistorikern ebenso recht wie den feministischen Analytikerinnen. Das Genre des Science-Fiction-Romans führt die englische Schriftstellerin mit einem späteren Werk „The last Man”, „Der letzte Mensch”, fort, in dem sie Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines menschenwürdigen Daseins am Ende der Geschichte ausmalt. Abgründe der Seele erforscht sie in der kurz nach „Frankenstein” geschriebenen Erzählung „Matilda”, der Darstellung eines Inzestverhältnisses zwischen Vater und Tochter. Dieses für ihre Zeit heikle Sujet blieb denn auch unveröffentlicht. Erst 1959 wurde es in die Werkausgabe aufgenommen.
Von „Frankenstein” lag bislang in deutscher Übersetzung nur die Fassung von 1831 vor, in der Mary Shelley Passagen gestrichen hatte, die ihre Lektüre betrafen, vor allem aber solche, die auf private Verhältnisse hin hätten gedeutet werden können. Nachdem 1822 Percy B. Shelley im Mittelmeer ertrunken war, waren Mary und ihr Kind auf die Zuwendungen ihres Schwiegervaters angewiesen. Ihm musste sie diese Zugeständnisse machen. Gerade die privaten Anspielungen der Ausgabe von 1818 aber mögen es gewesen sein, die die amerikanischen Feministinnen zu psychologischen Deutungen veranlasst haben. Nun hat Alexander Pechmann diese „Urfassung” ins Deutsche übertragen und die Chance geboten, die beiden nicht gerade kontroversen, wohl aber einander missachtenden Positionen, die literaturhistorische und die feministische, anhand der ersten Fassung gegeneinander abzuwägen. Pechmanns Übersetzung ist ein Gewinn, wenngleich sie, exakt dem Original folgend, sich nicht so geschmeidig liest und so nuancenreich im Wortschatz ist wie jene der Fassung von 1831, die Elisabeth Lacroix 1948 vorgelegt hat.
Gleichzeitig mit der Übersetzung des „Frankenstein” hat Pechmann eine Biografie Mary Shelleys veröffentlicht. Er beendet so das Schisma, das mittlerweile den Literaturbetrieb in zwei Lager spaltet: Biografien über Frauen werden von Frauen geschrieben, Gegenwartsromane von Frauen werden (vorwiegend) von Rezensentinnen rezensiert. Pechmann weist die etwas weinerlichen feministischen Vorwürfe einer Benachteiligung Mary Shelleys mit Recht zurück, denn dieses weibliche Schriftstellerleben unterscheidet sich in nichts von dem vieler schreibender Männer: Frankensteins Erfolg verwunderte sie selbst, und auch die späteren Erzählungen und Romane, deren Bedeutung mittlerweile von der des Monsters überschattet wird, konnte sie fast alle gedruckt sehen.
Ein übermächtiger Schwächling
Dennoch ist Leiden der Inbegriff dieses Frauenlebens, auch wenn es nicht aus schriftstellerischem Misserfolg entstand. Bei den Familienkatastrophen, den romantischen und aufgeklärten Lebensentwürfen, die Mary Shelley von der Mutter, Mary Wollstonecraft, einer der ersten Kämpferinnen für das Recht der Frauen, von Vater und Ehemann vermittelt bekommen hatte, verwundert eine Überanstrengung bis zum physischen Schmerz nicht. Noch dazu beraubte sie der frühe Tod Percy B. Shelleys jeglicher intellektuellen Stütze. In ihren Tagebüchern verstummen seit diesem Tod die Orgien des Selbstmitleids nicht mehr. Für die Freunde, für die Gesellschaft temperiert sie ihren Ton. Dennoch darf man dem Tagebuch glauben und ein unentwegtes Leiden annehmen, seit sie aus Italien in ein „No: home” zurückgekehrt ist: „It is mortification, desolation & loneliness, that eats into my soul.” In die stets feuchten Augen Mary Shelleys blickt der Leser in Pechmanns Biografie jedoch selten, da er zu wenig aus ihren Tagebüchern und Briefen zitiert (die der deutsche Leser bislang nicht übersetzt vorfindet).
Zwar vermeidet Pechmann erfreulicherweise den sentimentalen Klageton, zu dem sich fast alle Biografien aus weiblicher Feder verpflichtet fühlen, wenn sie über Geschlechtsgenossinnen schreiben. Das Forschen danach, was eine Person denn in dieser oder jener Situation gedacht, gefühlt haben mag, diese billige Art von poetischer Verlebendigung vermeidet er gänzlich, doch tut er es leider auf Kosten der Anschaulichkeit. Auch den Freunden Mary Shelleys versteht er nicht, Atem einzuhauchen. Welch ein lebendiges Porträt zeichnete dagegen Karin Priester in ihrer 2001 erschienenen Biografie Mary Shelleys von Percy B. Shelley, dem schizoiden, narzisstischen, latent homosexuellen Verführer und Ehemann. Erst wenn dieser mächtige Schwächling deutlich vor dem Auge des Lesers steht, werden die Anstrengungen begreiflich, die es für Mary Shelley brauchte, um es an seiner Seite auszuhalten. Aus monströsen Situationen erst erschafft ihre beredte Phantasie Monster. HANNELORE SCHLAFFER
MARY SHELLEY: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Patmos Verlag, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006. 303 Seiten. 24,90 Euro.
ALEXANDER PECHMANN: Mary Shelley. Leben und Werk. Patmos Verlag, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006. 310 Seiten 24,90 Euro.
Der Himmel, in den alle Dämonen eingehen, ist das Kino: Das Geschöpf (Boris Karloff, rechts) begegnet seinem Schöpfer (Colin Clive, links) in dem Film „Frankenstein” von James Whale aus dem Jahre 1931.
Foto: Getty Images
Mary Shelley (1797-1851)
Foto: Bettmann/CORBIS
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Erstmals auf Deutsch: Die Urfassung von Mary Shelleys „Frankenstein”
1814 flieht die noch nicht ganz siebzehnjährige Mary Godwin mit Percy Bysshe Shelley aus ihrem Vaterhaus in England auf den Kontinent. Damit beginnt eine weibliche Passionsgeschichte, deren Qualen gerade in der Verdichtung der wichtigen Ereignisse dieses Lebens spürbar werden, wie sie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Barbara Johnson vornimmt: „Ihr Vater (William Godwin), einst ein vehementer Kämpfer gegen die Institution der Ehe, war nahe daran, seine Tochter zu verleugnen, weil sie mit Shelley, einem bereits verheirateten Anhänger von Godwins eigenen früheren Ansichten, davongelaufen war. Und Shelley, der viel von mehrfachen Liebesobjekten hielt, protegierte wohlwollend die erotische Korrespondenz zwischen Mary und seinem Freund Thomas Jefferson Hogg als eine von vielen. Über Jahre hinweg wurden Mary und Shelley überall hin von Marys Stiefschwester Claire begleitet, die von Mary nicht besonders gelitten wurde, die ein Kind mit Byron hatte und eine zwiespältige Beziehung zu Shelley unterhielt. Während des Schreibens von Frankenstein erfuhr Mary vom Selbstmord ihrer Halbschwester Fanny Imlay, des von einem amerikanischen Liebhaber stammenden unehelichen Kindes ihrer Mutter, und vom Selbstmord von Shelleys Frau Harriet, die von einem anderen Mann als Shelley schwanger war. Als sie und Shelley heirateten, hatte Mary zwei Kinder gehabt; bis zu Shelleys Tod sollten zwei weitere geboren werden; und sie musste zuschauen, wie – von einem abgesehen – alle noch im Säuglingsalter starben.”
Abscheuliche Nachkommen
Barbara Johnsons Aufsatz über Mary Godwin-Shelleys Frankenstein „Mein Monster – mein Selbst” kommt zu dem Schluss, „daß die Monstrosität des Selbst in die Frage der weiblichen Autobiographie tief eingebettet ist”. Das Monster sei der Doppelgänger der gequälten Mary Shelley, und erschreckt und ahnungsvoll habe Percy Shelley ein milderndes Vorwort zum Roman geschrieben, um erst so „die abscheuliche Nachkommenschaft seiner Frau auf die Welt” loszulassen. Seither ist Mary Shelleys Erstlingswerk unausgesprochen ein Streitfall zwischen männlichen und weiblichen Interpreten.
Traditionellen Literaturwissenschaftlern gilt der Roman als Produkt des englischen „Satanismus”. Das Monster, das Frankenstein zu seinem eigenen Unheil erschaffen hat, ist ihnen mehr als ein weiteres Mitglied aus der gespenstischen Gesellschaft der „Gothic Novel”. Mit dem Roman habe Mary Shelley literarisches Neuland betreten und die Gattung der Science-Fiction begründet. Aus den philosophischen Anregungen des gelehrten Vaters, den Diskussionen ihrer Freunde, Shelleys vor allem und Lord Byrons, aus der Lektüre naturwissenschaftlicher Bücher habe die kaum Neunzehnjährige einen neuen literarischen Typus kompiliert, die Allegorie der menschlichen Möglichkeiten, eine Grundfigur aller Science-Fiction-Romane.
Die Entwicklung Mary Shelleys gibt den Literaturhistorikern ebenso recht wie den feministischen Analytikerinnen. Das Genre des Science-Fiction-Romans führt die englische Schriftstellerin mit einem späteren Werk „The last Man”, „Der letzte Mensch”, fort, in dem sie Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines menschenwürdigen Daseins am Ende der Geschichte ausmalt. Abgründe der Seele erforscht sie in der kurz nach „Frankenstein” geschriebenen Erzählung „Matilda”, der Darstellung eines Inzestverhältnisses zwischen Vater und Tochter. Dieses für ihre Zeit heikle Sujet blieb denn auch unveröffentlicht. Erst 1959 wurde es in die Werkausgabe aufgenommen.
Von „Frankenstein” lag bislang in deutscher Übersetzung nur die Fassung von 1831 vor, in der Mary Shelley Passagen gestrichen hatte, die ihre Lektüre betrafen, vor allem aber solche, die auf private Verhältnisse hin hätten gedeutet werden können. Nachdem 1822 Percy B. Shelley im Mittelmeer ertrunken war, waren Mary und ihr Kind auf die Zuwendungen ihres Schwiegervaters angewiesen. Ihm musste sie diese Zugeständnisse machen. Gerade die privaten Anspielungen der Ausgabe von 1818 aber mögen es gewesen sein, die die amerikanischen Feministinnen zu psychologischen Deutungen veranlasst haben. Nun hat Alexander Pechmann diese „Urfassung” ins Deutsche übertragen und die Chance geboten, die beiden nicht gerade kontroversen, wohl aber einander missachtenden Positionen, die literaturhistorische und die feministische, anhand der ersten Fassung gegeneinander abzuwägen. Pechmanns Übersetzung ist ein Gewinn, wenngleich sie, exakt dem Original folgend, sich nicht so geschmeidig liest und so nuancenreich im Wortschatz ist wie jene der Fassung von 1831, die Elisabeth Lacroix 1948 vorgelegt hat.
Gleichzeitig mit der Übersetzung des „Frankenstein” hat Pechmann eine Biografie Mary Shelleys veröffentlicht. Er beendet so das Schisma, das mittlerweile den Literaturbetrieb in zwei Lager spaltet: Biografien über Frauen werden von Frauen geschrieben, Gegenwartsromane von Frauen werden (vorwiegend) von Rezensentinnen rezensiert. Pechmann weist die etwas weinerlichen feministischen Vorwürfe einer Benachteiligung Mary Shelleys mit Recht zurück, denn dieses weibliche Schriftstellerleben unterscheidet sich in nichts von dem vieler schreibender Männer: Frankensteins Erfolg verwunderte sie selbst, und auch die späteren Erzählungen und Romane, deren Bedeutung mittlerweile von der des Monsters überschattet wird, konnte sie fast alle gedruckt sehen.
Ein übermächtiger Schwächling
Dennoch ist Leiden der Inbegriff dieses Frauenlebens, auch wenn es nicht aus schriftstellerischem Misserfolg entstand. Bei den Familienkatastrophen, den romantischen und aufgeklärten Lebensentwürfen, die Mary Shelley von der Mutter, Mary Wollstonecraft, einer der ersten Kämpferinnen für das Recht der Frauen, von Vater und Ehemann vermittelt bekommen hatte, verwundert eine Überanstrengung bis zum physischen Schmerz nicht. Noch dazu beraubte sie der frühe Tod Percy B. Shelleys jeglicher intellektuellen Stütze. In ihren Tagebüchern verstummen seit diesem Tod die Orgien des Selbstmitleids nicht mehr. Für die Freunde, für die Gesellschaft temperiert sie ihren Ton. Dennoch darf man dem Tagebuch glauben und ein unentwegtes Leiden annehmen, seit sie aus Italien in ein „No: home” zurückgekehrt ist: „It is mortification, desolation & loneliness, that eats into my soul.” In die stets feuchten Augen Mary Shelleys blickt der Leser in Pechmanns Biografie jedoch selten, da er zu wenig aus ihren Tagebüchern und Briefen zitiert (die der deutsche Leser bislang nicht übersetzt vorfindet).
Zwar vermeidet Pechmann erfreulicherweise den sentimentalen Klageton, zu dem sich fast alle Biografien aus weiblicher Feder verpflichtet fühlen, wenn sie über Geschlechtsgenossinnen schreiben. Das Forschen danach, was eine Person denn in dieser oder jener Situation gedacht, gefühlt haben mag, diese billige Art von poetischer Verlebendigung vermeidet er gänzlich, doch tut er es leider auf Kosten der Anschaulichkeit. Auch den Freunden Mary Shelleys versteht er nicht, Atem einzuhauchen. Welch ein lebendiges Porträt zeichnete dagegen Karin Priester in ihrer 2001 erschienenen Biografie Mary Shelleys von Percy B. Shelley, dem schizoiden, narzisstischen, latent homosexuellen Verführer und Ehemann. Erst wenn dieser mächtige Schwächling deutlich vor dem Auge des Lesers steht, werden die Anstrengungen begreiflich, die es für Mary Shelley brauchte, um es an seiner Seite auszuhalten. Aus monströsen Situationen erst erschafft ihre beredte Phantasie Monster. HANNELORE SCHLAFFER
MARY SHELLEY: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Patmos Verlag, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006. 303 Seiten. 24,90 Euro.
ALEXANDER PECHMANN: Mary Shelley. Leben und Werk. Patmos Verlag, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006. 310 Seiten 24,90 Euro.
Der Himmel, in den alle Dämonen eingehen, ist das Kino: Das Geschöpf (Boris Karloff, rechts) begegnet seinem Schöpfer (Colin Clive, links) in dem Film „Frankenstein” von James Whale aus dem Jahre 1931.
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Mary Shelley (1797-1851)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Alexander Pechmann hat eine aufschlussreiche Biografie über Mary Shelley verfasst, lobt Rezensentin Susanne Ostwald. Shelley war die Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und später verheiratet mit dem berühmten Dichter Shelley, in dessen Schatten sie als Autorin zu Lebzeiten stand. Pechmann lese den "Frankenstein" der Urfassung als Vorläufer des modernen Science-Fiction im Gewand einer Gothic Novel, informiert Ostwald. Der Rezensentin gefällt zwar die umfangreiche Aufarbeitung von Shelleys Leben, stört sich aber an formalen Flüchtigkeitsfehlern und am zuweilen "blutarmen" Stil des Verfassers.
© Perlentaucher Medien GmbH
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