Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 19,78 €
  • Broschiertes Buch

Militärpsychiatrie kann keine neutrale Wissenschaft sein. Wie stark Militärpsychiater mit den politischen Zielen der unterschiedlichen Führungen von der Kaiserzeit bis heute verstrickt waren, ist Thema dieser kritischen Geschichte.

Produktbeschreibung
Militärpsychiatrie kann keine neutrale Wissenschaft sein. Wie stark Militärpsychiater mit den politischen Zielen der unterschiedlichen Führungen von der Kaiserzeit bis heute verstrickt waren, ist Thema dieser kritischen Geschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.1997

Disziplinierung durch Schrecken
Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie: eine Anklageschrift

Peter Riedesser, Axel Verderber: "Maschinengewehre hinter der Front". Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996. 247 Seiten, Abbildungen, 19,80 Mark.

Die unbegreifliche Härte vieler deutscher psychiatrischer Gutachter gegenüber den jüdischen Holocaust-Überlebenden verliert etwas von ihrer antisemitischen Singularität, wenn man das Beurteilungssystem und die Krankheitslehre der Militärpsychiater im Ersten und Zweiten Weltkrieg betrachtet. Da ist zunächst einmal die weitgehende Identifizierung mit dem autoritären Kaiserreich und seinen Kriegszielen wie mit der vom Führer wiederaufgerichteten Größe der deutschen Volksgemeinschaft. Der Krieg, auch wenn er erst im Stadium der stillen Vorbereitung ist wie bei der Gründung der "Militärärztlichen Akademie" (1934), stellt den absoluten "völkischen Ernstfall" dar. Folglich kehrt sich die ärztliche Solidarität mit dem Patienten um, wenn er durch eine der vielen Formen von Kriegsneurosen den individuellen wie den kollektiven Wehrwillen schwächt. Der Weg ist nicht weit vom Kranken zum Volksschädling, Drückeberger und Simulanten, der mit den härtesten Mitteln wieder zur Fronttauglichkeit gebracht werden muß.

Peter Riedesser, Psychoanalytiker und Ordinarius für Kinderpsychiatrie in Hamburg, und der Psychologe Axel Verderber zeigen anhand umfangreicher Studien der Literatur, aber auch von Gutachten und Schriftverkehr zwischen Psychiatern und militärischen Stellen, in welchem Ausmaß sie einen "unerbittlichen Kampf" führten, um den Kriegsneurosen jeden Anschein einer Krankheit zu nehmen, sie vielmehr als "psychopathische Störungen" in die Verantwortung des einzelnen und seiner Willenskraft zurückzuverlegen. Und um diese fehlende Willenskraft zu stützen und sie nicht zu einem Infektionsherd innerhalb der Truppe wie der Heimat werden zu lassen, erfanden sie Behandlungsmethoden von enormer Grausamkeit, um den Soldaten, die von Schütteln, Blindheit, Lähmung, Taubheit und vielen anderen Formen der Störung befallen waren, die "Fahnenflucht in die Feigheit" durch den der Front nahezu ebenbürtigen Schrecken des Sonderlazaretts auszutreiben. Denn dort wurde elektrisiert, galvanisiert, strafexerziert, isoliert, Vernichtungsangst produziert, was das Zeug hielt. Die Grundthese lautete während beider Weltkriege: Der "normale Soldat" hält die Strapazen des Krieges ohne Störung aus; nur die Labilen, ohnehin Minderwertigen und Willensschwachen brauchen, unter dem Deckmantel der "Therapie", eine Disziplinierung durch Schrecken. Die Autoren weisen immer wieder darauf hin, daß der oberste Militärpsychiater beim Heeressanitätswesen wie die politische Führung sowie das Gros der Kriegsgerichte die sadistischen Abschreckungsrituale der Neuropsychiater nicht nur für brutal, sondern auch für gefährlich im Hinblick auf die Stimmung in Heer und Heimat hielten, auch wenn sie für die Erhöhung der "Kriegsbrauchbarkeit" zu Beginn des Krieges kurzfristige "Erfolge" erzielten. Die angesehensten Vertreter des Faches betätigten sich, real oder in ihrem Schrifttum, als "Maschinengewehre hinter der Front", wie Freud sie in einem Gutachten im Wiener Prozeß gegen den Psychiater Wagner-Jauregg nannte.

Allerdings blieb die psychiatrische Abschreckung angesichts des zermürbenden Stellungskampfes in den "Stahlgewittern" des Ersten Weltkriegs und der Schrecken des Rußlandfeldzuges vor allem nach der Niederlage von Stalingrad zunehmend wirkungslos. Da das Volk als "Volkskörper" und auch das Heer als Organismus verstanden wurden, die von psychischen Giften befallen werden konnten, drehten sich viele Überlegungen der Psychiater um die Abwehr einer "Infektion" durch die "Psychopathen".

Als alle Quälerei, auch die gepriesene "frontnahe", nichts mehr half, versuchten die Psychiater, die mit zunehmender "ärztlicher Brutalität" nur noch unterschieden zwischen "Helden" und "Parasiten", durch ihre Gutachten auf die Militärgerichte einzuwirken, indem sie forderten, daß eine erkennbare "Psychopathie" durchaus strafverschärfend wirken sollte. Die Autoren zeigen anhand von Gutachten den inhumanen Jargon der psychischen und charakterologischen Diffamierung im Gewand scheinwissenschaftlicher Kategorien und den Zynismus auf, der die bewußte Ausmerzung der "Versager" und "Störer" in Kauf nahm oder anstrebte. Sie drängen also auf die Einbeziehung dieser Menschen in die kriegsrechtliche Kategorie der "Wehrkraftzersetzer", deren Therapie oft genug das Todesurteil war, durchaus mit dem Willen zur Abschreckung im Durchhaltefanatismus der letzten eineinhalb Kriegsjahre. Daß die Zahl der Todesurteile vom Januar 1944 bis zum Kriegsende auf 13000 hochschnellte, schreiben die Autoren durchaus mitursächlich den immer drängender werdenden Appellen der Psychiater zur Härte in "schicksalhafter Zeit" zu. Zum Teil waren die Namen der Militärpsychiater die gleichen, die auch als "Tötungsgutachter" des Euthanasieprogramms Einfluß hatten. Da es ihnen um das Überleben des "Volkskörpers" ging, gerieten die "Versager", die im Zweiten Weltkrieg ihre Symptome hin zum Psychosomatischen veränderten, in die Nähe von beinahe bakteriell verstandenen Schädlingen, die man, anders als die Heeresleitung forderte, gar nicht mehr um die Zustimmung zur Elektrofolter zu fragen brauchte. Auch im Kampf gegen die "Anspruchsfolgen" von Kriegs- und Unfallopfern in der Zwischenkriegszeit gelang es ihnen, die Verantwortlichkeit immer stärker ins Individuum zu verlegen und den Kampf gegen die "Flut von Rentenneurosen" zu verschärfen.

Zwei Weltkriege und die mit ihnen verbundene Verlagerung von traumatischen Neurosen in die Charakterschwäche oder Psychopathie der Opfer, ein langes Training also von Desolidarisierung mit dem Individuum und der Vergötzung von Staatszielen und darwinistischem Überlebenskampf, hatten schließlich auch Verfolgung und Konzentrationslager zu Ereignissen gemacht, die nur eine ohnehin vorhandene Labilität verstärkten und Rente wie Entschädigung weitgehend ausschlossen.

Das Buch ist eine solide begründete Anklageschrift, deren Gewicht sich dadurch erhöht, daß die meisten der Wortführer nach 1945 ihre Lehrstühle behielten und sich zum Teil sogar "geheimen Widerstand" selbst bestätigten oder bestätigen ließen. TILMANN MOSER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr