Es sind bekanntlich nicht die Maschinen, die Maschinen einstellen, sondern Menschen, die Maschinen bauen und einsetzen. Daher ist es nicht länger hinzunehmen, daß Maschinen die Lebensverhältnisse zunehmend verschlechtern, obwohl sie im Ursprung dazu gedacht waren, diese zu verbessern. Selbst in den reichsten Ländern ist von Lebenserleichterung durch Technik nicht mehr viel zu merken: Der kreative Computerdienstleister fristet das Dasein eines biblischen Tagelöhners; die High-Tech-Ärztin schreibt Gutachten über die Almosenberechtigung kranker Unterstützungsempfänger; jede Modernisierung der Produktion bedeutet Massenentlassungen statt Arbeitszeitverkürzung. Aber nicht einmal den Anschluß an diese noch vergleichsweise luxuriösen Formen des Jammers gönnt man den ärmeren Gegenden; dorthin wird bloß alles ausgelagert, was man mit den Lohnabhängigen des Westens einstweilen noch nicht machen kann. Wie soll man die Maschinen stürmen, um sie in Besitz zu nehmen? Kann man die moderne Arbeitsteilung beibehalten, aber die Hierarchien, Abhängigkeiten und das Unrecht loswerden, die an ihr kleben? Was haben die Industrie, der von ihr geschaffene Reichtum und der von ihr ausgeworfene Schmutz mit Freiheit zu tun? Der Essay Maschinenwinter riskiert eine literarische, politische, polemische und spekulative Phantasie darüber, wie man mit Technik Geschichte machen könnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2008Das Reale ist das Schwerste
Imaginärer Leninismus: Dietmar Dath hört die Signale und schreibt ein sozialistisches Manifest
Man kann den Horizont, vor dem Dietmar Daths Manifest "Maschinenwinter" spielt, mit einer historischen Behauptung und einer Anekdote ausmalen. Die Behauptung sagt, dass es nur Lenin und Mao geschafft hätten, dem Universalitätsanspruch des Kapitals mit seinen liberalen Verkleidungen und demokratischen Zeremonien tatsächlich Angst einzujagen. Die Anekdote spielt in einem philosophischen Seminar an einer westdeutschen Universität in den achtziger Jahren, in einer Zeit, als die Verbindlichkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen durch ein angebliches Alles-ist-möglich ersetzt wurde. Ein amerikanischer Student hielt mit viel Eifer ein Referat über die drei Grundbegriffe der Psychoanalyse Jacques Lacans. Nachdem er das Imaginäre, die Konstitution des menschlichen Ichs durch die Aufnahme "seines" Bildes aus einem Spiegel, und das Symbolische, den Versuch des Menschen, sich der Welt durch die auch von der Mutter gelernte Sprache anzunähern, hervorragend erklärt hatte, sollte der Amerikaner zum Realen kommen, schloss aber stattdessen mit den Worten: "Das Reale ist bei Lacan und überhaupt das Schwierigste, deshalb lasse ich es hier weg."
Zum Ende des 20. Jahrhunderts, als angeblich alles möglich sein sollte, war das Reale so schwierig geworden, dass man besser gar nicht erst darüber redete. Dabei hatte das vergangene Jahrhundert ganz anders angefangen. 1900 veröffentlichte Freud seine "Traumdeutung", 1905 formulierte Einstein die Spezielle Relativitätstheorie und entwarf eine Quantenphysik des Lichts, 1908 eröffnete Schönberg die Möglichkeit einer atonalen Musik, kurz vor dem Ersten Weltkrieg revolutionierte Picasso die Geometrie im Bild, und 1902 hatte Lenin mit seiner Schrift "Was tun?" die Begründung der modernen Politik geliefert.
Das alles, zusammen mit ein paar weiteren Revolutionären in der Mathematik, im Kino und der mathematisierten Logik des Philosophen Ludwig Wittgenstein, zeugte von einer Passion fürs Reale, die Platz für etwas Neues schaffen wollte. Das Neue hieß emphatisch "der neue Mensch", und es erweiterte den Wirklichkeitsbegriff des Zeitalters der Industrialisierung um den denkbaren Entwurf. Einen Entwurf, der den Entrechteten und Besitzlosen versprach, mit den neuen Mitteln von Kunst, Wissenschaft, Technik und Politik eine Welt zu gewinnen.
Dieses Versprechen erneuert Dietmar Dath im Jahr 2008, und er lässt keinen Zweifel aufkommen, woran er anknüpft. "Lenins ,Was tun?' setzt an einer Evidenzwahrheit an, die heute so gut wie alle öffentlich agierenden Linken vergessen zu haben scheinen: Wenn mein Ziel ist, die Besitzlosen zu befreien und die Geschichte planbar zu machen, dann muss ich mir darüber klar sein, dass diese Besitzlosen nicht irgendwann nach Feierabend das bestehende System sprengen können." Während aber Lenin seinen programmatischen Entwurf einer rationalen Politik zur Machtergreifung in die Kämpfe in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands hineinschrieb, wendet sich Dath an eine imaginäre Partei. Die Partei, die das System aus den Angeln heben könnte und soll, gibt es noch nicht. Daths Text hat aber nur Sinn, das sagt er selbst, mit dem Blick auf diese erst zu gründende Partei, die ihre Axiome nur aus dem Typ der leninistischen Organisationsform ziehen kann.
Der Unterschied ist keine Kleinigkeit und Dath bewusst. Dass er es dennoch schafft, die Balance zwischen einem bedingungslosen Willen zur Analyse der Gegenwart und dem Programm für die in Aussicht gestellte zukünftige Erwartung zu halten, hat einen Grund. Dath weiß, dass er als Warenmonade, die noch etwas zu verkaufen hat, zu-nächst zu anderen Warenmonaden spricht, die sein Buch kaufen können. Deshalb spricht der 38-Jährige in "Maschinenwinter" auch öfter in der ersten Person als alle Autoren aller Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts zusammen.
Daths Text-Ich bewegt sich nicht primär in linken Kreisen - Dath kann auf die Naivität lebender Linker schimpfen, wie es nur Linke können; den Auftrag zu seiner Schrift lässt er sich lieber von seinen Gegnern bestätigen. Von einer Expertengruppe des Londoner Verteidigungsministeriums etwa, die 2007 in einer Studie die Hauptbedrohungen in den nächsten Jahrzehnten in "leichten Waffen, religiösen Fundamentalisten, die auf die Ressentiments der Elenden setzen, und im Neomarxismus" erkannt haben wollte. Wenn schon gestandene Imperialisten wie die Experten des Londoner Verteidigungsministeriums im Neomarxismus eine der größten Gefahren sehen, kann es Dath nur darum gehen, ihnen den Gefallen auch zu tun. Diesmal allerdings ohne die alten Fehler der alten Linken, also ohne die sozialdemokratischen Illusionen einer Reformierbarkeit oder Einhegung des Kapitalismus. Der Kapitalismus kann nur in seiner Abschaffung überwunden werden. Punkt. Und warum er abgeschafft werden muss, lässt sich an wenigen Zahlen demonstrieren: 1960 hatten die zwanzig reichsten Prozent der Weltbevölkerung ein dreißig Mal höheres Einkommen als die zwanzig ärmsten. 1995 ist das Einkommen der Reichsten fünfundachtzig Mal höher.
Diese monströse Ungleichheit lässt sich mit moralischen Begriffen nicht mehr fassen, zumal in diesen Zahlen auch ein stetig wachsendes Heer von Menschen aufgehoben ist, das nicht einmal mehr ausgebeutet wird, weil es keinen Mehrwert mehr produziert. Es wird nur noch geduldet. Daraus resultiert eine ungeheure Spaltung der Menschen, die, darwinistisch aufgeladen, zu einer neuen Artbildung führen könnte. Aus dem Gattungswesen Mensch werden zwei Arten, Herren und Knechte, oder wie es bei Aristoteles heißt: freie Menschen und Sklaven, die über die Definition ihrer körperlichen Fähigkeiten getrennt werden. Mit den Mitteln der Biotechnologie und der Eugenik ließe sich dieser Prozess heute beschleunigen; einschlägige Gedankenspiele gibt es seit den sechziger Jahren.
Für einen Sozialisten wie Dath ist das natürlich unrecht. Wobei "Unrecht" kein Begriff aus der Wissenschaft ist, "sondern ein normativer, genau wie Sozialismus". Herren und Knechte gehören abgeschafft, weil beide etwas anderes als Menschen sind, "moralisch gesprochen: weniger". Das Ziel heißt: "Zur Menschheit, weiß Gott". Und Gott ist in diesem Fall mehr als das Sprachspiel eines Schriftstellers. Auf seine Art hat Dath mitbekommen, dass es die "besten Vertreter der Erlösungsreligionen" sind, die entschiedener an der Vorstellung eines Universalismus, der die Gleichheit aller Menschen voraussetzt, festhalten als Wissenschaftler oder demokratische Politiker, für die Ungleichheit ein Naturprodukt wie Biomilch ist, oder zu Amt, Geld und Einfluss gekommene Popschreiber, zu denen der Hard-Rock-, Science-Fiction- und Fernsehserien-Kenner Dath auch gehört.
Da liegt auch der blinde Fleck von Daths Manifest. Dass der Mensch, um zu seinem höchsten Kulturziel Erkenntnis zu gelangen, Muße braucht, das heißt sein Essen nicht mehr selbst anpflanzen, ernten oder zubereiten kann, sondern es andere tun lassen muss, ist spätestens seit Aristoteles der Ort, an dem sich die Geister scheiden. Die Moderne hat in der Nachfolge der Französischen Revolution versucht, dem Dilemma auszuweichen, indem sie die Maschinen und die Technik an die Stelle der Sklaven oder Knechte setzte. Wenn die Maschinen die Arbeit tun, können wir alle nach dem schönen Leben streben.
Natürlich befreien die Maschinen oder die Technologie nicht von selbst, solange sie jemanden gehören. Im Gegenteil, sie werden zu Gegnern, weil sie, mit der schönsten Formulierung Daths, "zu Naturwesen werden, deren Früchte man nicht ernten kann, weil sie keine mehr hervorbringen; wie schlafende Pflanzen im Winter". Deshalb müssen die Menschen die Maschinen befreien, damit die wieder das tun, wozu sie erschaffen worden sind: den Menschen das Leben zu erleichtern.
Für Dath sind es immer noch die Taten der Menschen, die bestimmen, was mit den Maschinen passiert, in welche Richtung die Technologie entwickelt wird. Dass vielleicht Medien wie auch Maschinen von dem Moment an, in dem man etwa in einen Computer ein Programm einspeist, die Energien des Programms endlos umformen, speichern, verteilen oder umschalten und das auf eine Weise tun, die gar nicht mehr anschaulich nachvollziehbar ist, kommt bei Dath nicht in den Blick - es wird abgelehnt. Es gibt weder ein Unbewusstes der Medien noch eines der Maschinen. Was wir mit der Sprache machen, bestimmen wir, nicht die Sprache. Das ist eine maskulinistische Sicht der Dinge wie der Geschichte. Möglich wird sie, weil Dath mit seinem Manifest nur in der Sprache, das heißt im Symbolischen, agiert und der Adressat, die Partei, imaginär bleibt. Es ist die Sprache, die es möglich macht, dass Dath in seinem für den Herbst angekündigten Roman "Die Abschaffung der Arten" unter anderem den waghalsigen Versuch unternimmt, Fossilien von Lebewesen freizulegen, die noch gar nicht gelebt haben. Das Schwierigste, das Reale, ist das nicht.
Dass Dath trotzdem ein lesenswertes Manifest geschrieben hat, hat damit zu tun, dass er sich nicht in empiriokritizistischen Abhandlungen verliert, sondern ein Wissen formuliert, aus dessen Anwendung etwas folgt: Die Menschheit gibt es noch nicht. Wir können sie aber erschaffen.
CORD RIECHELMANN.
Dietmar Dath: "Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift". Suhrkamp, 130 Seiten, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Imaginärer Leninismus: Dietmar Dath hört die Signale und schreibt ein sozialistisches Manifest
Man kann den Horizont, vor dem Dietmar Daths Manifest "Maschinenwinter" spielt, mit einer historischen Behauptung und einer Anekdote ausmalen. Die Behauptung sagt, dass es nur Lenin und Mao geschafft hätten, dem Universalitätsanspruch des Kapitals mit seinen liberalen Verkleidungen und demokratischen Zeremonien tatsächlich Angst einzujagen. Die Anekdote spielt in einem philosophischen Seminar an einer westdeutschen Universität in den achtziger Jahren, in einer Zeit, als die Verbindlichkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen durch ein angebliches Alles-ist-möglich ersetzt wurde. Ein amerikanischer Student hielt mit viel Eifer ein Referat über die drei Grundbegriffe der Psychoanalyse Jacques Lacans. Nachdem er das Imaginäre, die Konstitution des menschlichen Ichs durch die Aufnahme "seines" Bildes aus einem Spiegel, und das Symbolische, den Versuch des Menschen, sich der Welt durch die auch von der Mutter gelernte Sprache anzunähern, hervorragend erklärt hatte, sollte der Amerikaner zum Realen kommen, schloss aber stattdessen mit den Worten: "Das Reale ist bei Lacan und überhaupt das Schwierigste, deshalb lasse ich es hier weg."
Zum Ende des 20. Jahrhunderts, als angeblich alles möglich sein sollte, war das Reale so schwierig geworden, dass man besser gar nicht erst darüber redete. Dabei hatte das vergangene Jahrhundert ganz anders angefangen. 1900 veröffentlichte Freud seine "Traumdeutung", 1905 formulierte Einstein die Spezielle Relativitätstheorie und entwarf eine Quantenphysik des Lichts, 1908 eröffnete Schönberg die Möglichkeit einer atonalen Musik, kurz vor dem Ersten Weltkrieg revolutionierte Picasso die Geometrie im Bild, und 1902 hatte Lenin mit seiner Schrift "Was tun?" die Begründung der modernen Politik geliefert.
Das alles, zusammen mit ein paar weiteren Revolutionären in der Mathematik, im Kino und der mathematisierten Logik des Philosophen Ludwig Wittgenstein, zeugte von einer Passion fürs Reale, die Platz für etwas Neues schaffen wollte. Das Neue hieß emphatisch "der neue Mensch", und es erweiterte den Wirklichkeitsbegriff des Zeitalters der Industrialisierung um den denkbaren Entwurf. Einen Entwurf, der den Entrechteten und Besitzlosen versprach, mit den neuen Mitteln von Kunst, Wissenschaft, Technik und Politik eine Welt zu gewinnen.
Dieses Versprechen erneuert Dietmar Dath im Jahr 2008, und er lässt keinen Zweifel aufkommen, woran er anknüpft. "Lenins ,Was tun?' setzt an einer Evidenzwahrheit an, die heute so gut wie alle öffentlich agierenden Linken vergessen zu haben scheinen: Wenn mein Ziel ist, die Besitzlosen zu befreien und die Geschichte planbar zu machen, dann muss ich mir darüber klar sein, dass diese Besitzlosen nicht irgendwann nach Feierabend das bestehende System sprengen können." Während aber Lenin seinen programmatischen Entwurf einer rationalen Politik zur Machtergreifung in die Kämpfe in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands hineinschrieb, wendet sich Dath an eine imaginäre Partei. Die Partei, die das System aus den Angeln heben könnte und soll, gibt es noch nicht. Daths Text hat aber nur Sinn, das sagt er selbst, mit dem Blick auf diese erst zu gründende Partei, die ihre Axiome nur aus dem Typ der leninistischen Organisationsform ziehen kann.
Der Unterschied ist keine Kleinigkeit und Dath bewusst. Dass er es dennoch schafft, die Balance zwischen einem bedingungslosen Willen zur Analyse der Gegenwart und dem Programm für die in Aussicht gestellte zukünftige Erwartung zu halten, hat einen Grund. Dath weiß, dass er als Warenmonade, die noch etwas zu verkaufen hat, zu-nächst zu anderen Warenmonaden spricht, die sein Buch kaufen können. Deshalb spricht der 38-Jährige in "Maschinenwinter" auch öfter in der ersten Person als alle Autoren aller Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts zusammen.
Daths Text-Ich bewegt sich nicht primär in linken Kreisen - Dath kann auf die Naivität lebender Linker schimpfen, wie es nur Linke können; den Auftrag zu seiner Schrift lässt er sich lieber von seinen Gegnern bestätigen. Von einer Expertengruppe des Londoner Verteidigungsministeriums etwa, die 2007 in einer Studie die Hauptbedrohungen in den nächsten Jahrzehnten in "leichten Waffen, religiösen Fundamentalisten, die auf die Ressentiments der Elenden setzen, und im Neomarxismus" erkannt haben wollte. Wenn schon gestandene Imperialisten wie die Experten des Londoner Verteidigungsministeriums im Neomarxismus eine der größten Gefahren sehen, kann es Dath nur darum gehen, ihnen den Gefallen auch zu tun. Diesmal allerdings ohne die alten Fehler der alten Linken, also ohne die sozialdemokratischen Illusionen einer Reformierbarkeit oder Einhegung des Kapitalismus. Der Kapitalismus kann nur in seiner Abschaffung überwunden werden. Punkt. Und warum er abgeschafft werden muss, lässt sich an wenigen Zahlen demonstrieren: 1960 hatten die zwanzig reichsten Prozent der Weltbevölkerung ein dreißig Mal höheres Einkommen als die zwanzig ärmsten. 1995 ist das Einkommen der Reichsten fünfundachtzig Mal höher.
Diese monströse Ungleichheit lässt sich mit moralischen Begriffen nicht mehr fassen, zumal in diesen Zahlen auch ein stetig wachsendes Heer von Menschen aufgehoben ist, das nicht einmal mehr ausgebeutet wird, weil es keinen Mehrwert mehr produziert. Es wird nur noch geduldet. Daraus resultiert eine ungeheure Spaltung der Menschen, die, darwinistisch aufgeladen, zu einer neuen Artbildung führen könnte. Aus dem Gattungswesen Mensch werden zwei Arten, Herren und Knechte, oder wie es bei Aristoteles heißt: freie Menschen und Sklaven, die über die Definition ihrer körperlichen Fähigkeiten getrennt werden. Mit den Mitteln der Biotechnologie und der Eugenik ließe sich dieser Prozess heute beschleunigen; einschlägige Gedankenspiele gibt es seit den sechziger Jahren.
Für einen Sozialisten wie Dath ist das natürlich unrecht. Wobei "Unrecht" kein Begriff aus der Wissenschaft ist, "sondern ein normativer, genau wie Sozialismus". Herren und Knechte gehören abgeschafft, weil beide etwas anderes als Menschen sind, "moralisch gesprochen: weniger". Das Ziel heißt: "Zur Menschheit, weiß Gott". Und Gott ist in diesem Fall mehr als das Sprachspiel eines Schriftstellers. Auf seine Art hat Dath mitbekommen, dass es die "besten Vertreter der Erlösungsreligionen" sind, die entschiedener an der Vorstellung eines Universalismus, der die Gleichheit aller Menschen voraussetzt, festhalten als Wissenschaftler oder demokratische Politiker, für die Ungleichheit ein Naturprodukt wie Biomilch ist, oder zu Amt, Geld und Einfluss gekommene Popschreiber, zu denen der Hard-Rock-, Science-Fiction- und Fernsehserien-Kenner Dath auch gehört.
Da liegt auch der blinde Fleck von Daths Manifest. Dass der Mensch, um zu seinem höchsten Kulturziel Erkenntnis zu gelangen, Muße braucht, das heißt sein Essen nicht mehr selbst anpflanzen, ernten oder zubereiten kann, sondern es andere tun lassen muss, ist spätestens seit Aristoteles der Ort, an dem sich die Geister scheiden. Die Moderne hat in der Nachfolge der Französischen Revolution versucht, dem Dilemma auszuweichen, indem sie die Maschinen und die Technik an die Stelle der Sklaven oder Knechte setzte. Wenn die Maschinen die Arbeit tun, können wir alle nach dem schönen Leben streben.
Natürlich befreien die Maschinen oder die Technologie nicht von selbst, solange sie jemanden gehören. Im Gegenteil, sie werden zu Gegnern, weil sie, mit der schönsten Formulierung Daths, "zu Naturwesen werden, deren Früchte man nicht ernten kann, weil sie keine mehr hervorbringen; wie schlafende Pflanzen im Winter". Deshalb müssen die Menschen die Maschinen befreien, damit die wieder das tun, wozu sie erschaffen worden sind: den Menschen das Leben zu erleichtern.
Für Dath sind es immer noch die Taten der Menschen, die bestimmen, was mit den Maschinen passiert, in welche Richtung die Technologie entwickelt wird. Dass vielleicht Medien wie auch Maschinen von dem Moment an, in dem man etwa in einen Computer ein Programm einspeist, die Energien des Programms endlos umformen, speichern, verteilen oder umschalten und das auf eine Weise tun, die gar nicht mehr anschaulich nachvollziehbar ist, kommt bei Dath nicht in den Blick - es wird abgelehnt. Es gibt weder ein Unbewusstes der Medien noch eines der Maschinen. Was wir mit der Sprache machen, bestimmen wir, nicht die Sprache. Das ist eine maskulinistische Sicht der Dinge wie der Geschichte. Möglich wird sie, weil Dath mit seinem Manifest nur in der Sprache, das heißt im Symbolischen, agiert und der Adressat, die Partei, imaginär bleibt. Es ist die Sprache, die es möglich macht, dass Dath in seinem für den Herbst angekündigten Roman "Die Abschaffung der Arten" unter anderem den waghalsigen Versuch unternimmt, Fossilien von Lebewesen freizulegen, die noch gar nicht gelebt haben. Das Schwierigste, das Reale, ist das nicht.
Dass Dath trotzdem ein lesenswertes Manifest geschrieben hat, hat damit zu tun, dass er sich nicht in empiriokritizistischen Abhandlungen verliert, sondern ein Wissen formuliert, aus dessen Anwendung etwas folgt: Die Menschheit gibt es noch nicht. Wir können sie aber erschaffen.
CORD RIECHELMANN.
Dietmar Dath: "Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift". Suhrkamp, 130 Seiten, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2008Im Bann der Vielfalt
Die Edition Unseld vermisst unsere Wissenskultur
Grüne Gentechnologie ist trotz vielfacher Anstrengungen von Wissenschaft und Wirtschaft nur schwer durchsetzbar, und je nach Umfrage glauben bis zu 60 Prozent der Bevölkerung nicht an die menschliche Evolution. Woran liegt das? Sind die Argumente der Gentechnologiegegner oder der Kreationisten so gut, dass sie eine Mehrheit zu überzeugen vermögen? Nicht unbedingt, auch wenn das immer wieder geprüft werden muss.
Möglicherweise wird umgekehrt ein Schuh daraus, indem man fragt, ob die in der breiten Öffentlichkeit kursierende Art, Wissenschaft darzustellen, überhaupt angemessen ist. Vieles spricht dagegen, wenn beispielsweise Wissenschaft wie eine Getränkemarke angepriesen wird. Das hat meistens zur Folge, dass die Realität dieser Wissenschaft zu einem absonderlichen Gebilde verzerrt wird, das vorrangig dazu dient, Forschungsgelder einzutreiben und gesellschaftliche Autorität zu erlangen. Und wenn das, wie im Falle der grünen Gentechnologie, schiefgeht, glauben immer noch einige, dass die falsche PR-Strategie gewählt worden sei.
Die Realität der Wissenschaft ist aber, dass eine Studie behauptet, Rotwein sei gut für die Blutgefäße und wirke lebensverlängernd, während die nächste Studie zumindest letzteres in Frage stellt. Und es ist auch eine Realität der Wissenschaft, dass die Evolutionstheorie die am besten bewährte Theorie über die Entstehung des Menschen ist, aber eine absolute Gewissheit vermag sie nicht zu verschaffen. Jeder reflektierende Wissenschaftler weiß das, und doch gehen die entscheidenden Nuancen im öffentlichen Gefecht immer wieder unter. Gleichzeitig erheben vor allem die Neuro- und die Biowissenschaften wieder einmal den Anspruch, den innersten Kern von uns Menschen endlich entdecken zu können. Und auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sie dafür wirklich so gute Argumente vorweisen können.
Interessante Probleme gibt es zur Genüge, aber die lassen sich eben nur bedingt in aufwendigen Leistungsshows darstellen. Gefragt sind vielmehr die Tugenden einer intellektuellen Wissenschaft, die zugleich informiert und distanziert ist, genaue Beschreibungen liefert und sich traut, die Wissenschaften aus einer ungewöhnlichen, überraschenden und provozierenden Perspektive zu betrachten. Die Wissenschaften verändern sich, und nun geht es auch darum, neue Wege im Nachdenken und Reden über sie zu beschreiten. Solche Versuche sind schon mehrfach unternommen worden: mit den großen Stilisten der Naturwissenschaften wie etwa Helmholtz, Poincaré oder Schrödinger, die Popularisierung von Wissenschaft so verstanden haben, dass sie die über ihr Fachgebiet hinausgehenden Fragen der wissenschaftlichen Entwicklung behandelt haben; oder mit der Diskussion um die zwei Kulturen, die eigentlich zu deren Überwindung beitragen sollte, im Grunde aber nicht mehr war als ein Schlagabtausch zwischen zwei Wissenskulturen, die ihren Einfluss in Zeiten des Kalten Krieges sichern wollten.
Wenn die neue „edition unseld” einen weiteren Versuch einer Annäherung von Geistes- und Naturwissenschaften wagt, so geht es um neue Wege, die durch Wissenschaft und Technik hervorgerufenen Veränderungen in den Blick zu nehmen. Betrachtet man die ersten Bände, so fällt auf, dass niemand über ein Deutungsmonopol verfügt. Natur- und Geisteswissenschaftler, Essayisten und Poeten kommen gleichberechtigt zu Wort. Der Traum von einer Einheit der Wissenschaft, wie ihn der Wiener Kreis, die Kybernetik und manche Vertreter der analytischen Philosophie verfolgen, bleibt bis auf Weiteres ein Wunschtraum.
Genau um diesen Punkt geht es in dem Band der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell, wenn sie argumentiert, dass die Kategorien der klassischen Newtonschen Wissenschaften wie Allgemeingültigkeit, Einfachheit oder Einheitlichkeit angesichts der Erforschung von Komplexität nicht mehr recht greifen. Das Klima oder die Depression, Verkehrsaufkommen oder Katastrophen lassen sich nicht erschöpfend nach dem Prinzip erforschen, wonach komplexe Prozesse so weit wie möglich in ihre Einzelteile zerlegt werden, um sie auf diese Weise von unten nach oben zu erklären. Stattdessen geht es darum, einen systemischen Ansatz zu verfolgen, der mit Kategorien wie Kontingenz, Chaos und Emergenz operiert.
Mitchell geht es nun weniger darum, den Klimaforschern die Wissenschaftsphilosophie nachzuliefern; es geht ihr vielmehr darum, dass die Philosophie selbst noch nicht die epistemologischen Konsequenzen aus diesen wissenschaftlichen Veränderungen gezogen hat. Die Annahme der einen wissenschaftlichen Methode ist passé, und was bleibt, sind pragmatische, pluralistische Auffassungen vielfältiger Methodensysteme.
Nun wird die Einheit der Wissenschaften schon seit längerem ernsthaft in Zweifel gezogen, und insofern ist Mitchells Essay nicht ganz der Anfang zum Verständnis der Welt, wie der Untertitel vollmundig verspricht. Hingegen sind wir allerdings erst am Anfang einer vernünftigen Umgehensweise damit, dass wir im Zeichen der Komplexität nicht mehr die gleiche Sicherheit einer Voraussage annehmen können wie etwa bei einer Sonnenfinsternis oder einer Mondlandung.
Da es um komplexe Phänomene wie Ökosysteme, Gehirn oder Volkswirtschaften geht, sind Voraussagen zwar unabdingbar, aber sie bleiben äußerst schwierig. Dieser Umstand ist auch für die gesamte Gesellschaft relevant. Mitchell weist zurecht darauf hin, dass Politiker die Uneinigeit unter den Wissenschaftlern gern nutzen, um Entscheidungen hinauszuzögern. Insofern ist es ein drängendes Problem, wie mit einer vermehrt auf bloßen Wahrscheinlichkeiten aufbauenden Wissenskultur in der Gesellschaft verfahren wird.
Eine ähnliche Frage ließe sich auch ausgehend von Robert Laughlins Polemik über den Betrug an der Wissensgesellschaft formulieren, nur dass es hier nicht um Wahrscheinlichkeit sondern um Erkenntnis als Ware geht. Laughlin sorgt sich um das Ideal einer freien, nicht von Interessen geleiteten Forschung, die in erster Linie der Erkenntnis dient. Dieses aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideal schmilzt in unserer globalisierten Welt tatsächlich so schnell wie das Eis der Antarktis. Die Klage, dass wir auf eine Situation zusteuern, in der immer mehr Wissen nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht, weil das gegen die Interessen militärischer oder wirtschaftlicher Lobbys geht, ist also völlig berechtigt.
Nur wäre Laughlins Argumentation überzeugender, wenn er ökonomische Habgier und legitime Sicherheitsinteressen der Menschheit etwas genauer auseinanderhielte. Es ist eines, dass Firmen Gensequenzen patentieren lassen, bevor sie überhaupt wissen, was der biologische Nutzen dieser Sequenzen ist; aber es ist etwas anderes, bestimmte biotechnologische Forschung geheimzuhalten, wenn sie eine umfassende Gefahr darstellen. Vermutlich lässt sich wissenschaftliches Wissen auf längere Sicht ohnehin nicht geheimhalten, aber dann müssen politische und nicht wissenschaftliche Mechanismen geschaffen werden, die vor den potentiellen Gefahren dieses Wissens effektiv zu schützen vermögen.
Darüber hinaus kann Laughlin leider ein verschwörungstheoretisches Hintergrundrauschen nicht ganz unterdrücken, und das läuft dann auf das etwas abgestandene Muster hinaus, dass genialische Erfinder oder Entdecker von undurchsichtigen Kräften in ihrer Kreativität behindert werden. Als ob das nicht schon seit der Antike so wäre. Dennoch öffnet der Band die Augen dafür, dass geheimes Wissen noch lange nach dem Zeitalter der Geheimwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Auch die vermeintlich offene Gesellschaft der Moderne hat ihre dunklen Kammern, und denen gilt es sich zuzuwenden.
Einen Rückfall in barbarische Zeiten befürchtet auch Dietmar Dath, wenn er neuen rechten Darwinisten (besser noch: Globaldarwinisten) vorwirft, den Solidarvertrag aufzukündigen, indem sie ganzen Gruppen der Gesellschaft klarmachen, dass sie nicht weiter gebraucht werden. Vergegenwärtigt man sich die Tendenz zur Schrumpfung des Mittelstands bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich, so muss man ernstlich an neuen Adel und neuen Feudalismus denken. Anstatt nun in einen kulturpessimistischen Trübsinn zu verfallen, wie ihn die Linken seit dem Ende der siebziger Jahre bevorzugt pflegen, optiert Dath kämpferisch für einen sozialistischen, aufgeklärten Universalismus, der sich dadurch auszeichnet, dass die Gleichheit der Menschen der Gnaden- und Lieblosigkeit der Natur entgegengesetzt wird.
Manches an Daths Spekulationen bleibt etwas verschwommen, doch sehr bemerkenswert ist sein Naturbegriff, der eben nicht von einer sorgsamen ökologischen Pflege der lieben Natur ausgeht, sondern der Kälte, Absichtslosigkeit und Zufälligkeit der natürlichen Prozesse ins Auge blickt. Die Pointe dabei ist, dass dies ein bislang wenig beachteter, aber doch zentraler Gedanke bei Darwin ist: Überleben in der Natur ist eine Frage von Zufall, Anpassung und Stärke, doch die höchste zivilisatorische Entwicklung des Menschen besteht darin, diesen Mechanismus zu durchbrechen. Wahre Humanität heißt, die vermeintlich Schwachen und Nichtprivilegierten zu unterstützen – zumal jeder irgendetwas kann, wie Dath hinzufügt.
So unterschiedlich die Texte von Mitchell, Laughlin und Dath auch sind, sie alle setzen voraus, dass wir unsere Zukunft viel mehr selbst in der Hand haben, als es uns eine technologischer oder ökonomischer Determinismus suggeriert. Genau das ist der Gegenstand einer intellektuellen Wissenschaft. MICHAEL HAGNER
SANDRA MITCHELL: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008, 173 Seiten, 10 Euro.
ROBERT B. LAUGHLIN: Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 193 Seiten, 10 Euro.
DIETMAR DATH: Maschinenwinter. Wissen, Technik Sozialismus. Eine Streitschrift. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 130 Seiten, 10 Euro.
Unser Gehirn ist komplexer als eine Sonnenfinsternis
Der Traum von der Einheit der Wissenschaft bleibt Wunschtraum
Was setzen wir der Gnadenlosigkeit der Natur entgegen?
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Die Edition Unseld vermisst unsere Wissenskultur
Grüne Gentechnologie ist trotz vielfacher Anstrengungen von Wissenschaft und Wirtschaft nur schwer durchsetzbar, und je nach Umfrage glauben bis zu 60 Prozent der Bevölkerung nicht an die menschliche Evolution. Woran liegt das? Sind die Argumente der Gentechnologiegegner oder der Kreationisten so gut, dass sie eine Mehrheit zu überzeugen vermögen? Nicht unbedingt, auch wenn das immer wieder geprüft werden muss.
Möglicherweise wird umgekehrt ein Schuh daraus, indem man fragt, ob die in der breiten Öffentlichkeit kursierende Art, Wissenschaft darzustellen, überhaupt angemessen ist. Vieles spricht dagegen, wenn beispielsweise Wissenschaft wie eine Getränkemarke angepriesen wird. Das hat meistens zur Folge, dass die Realität dieser Wissenschaft zu einem absonderlichen Gebilde verzerrt wird, das vorrangig dazu dient, Forschungsgelder einzutreiben und gesellschaftliche Autorität zu erlangen. Und wenn das, wie im Falle der grünen Gentechnologie, schiefgeht, glauben immer noch einige, dass die falsche PR-Strategie gewählt worden sei.
Die Realität der Wissenschaft ist aber, dass eine Studie behauptet, Rotwein sei gut für die Blutgefäße und wirke lebensverlängernd, während die nächste Studie zumindest letzteres in Frage stellt. Und es ist auch eine Realität der Wissenschaft, dass die Evolutionstheorie die am besten bewährte Theorie über die Entstehung des Menschen ist, aber eine absolute Gewissheit vermag sie nicht zu verschaffen. Jeder reflektierende Wissenschaftler weiß das, und doch gehen die entscheidenden Nuancen im öffentlichen Gefecht immer wieder unter. Gleichzeitig erheben vor allem die Neuro- und die Biowissenschaften wieder einmal den Anspruch, den innersten Kern von uns Menschen endlich entdecken zu können. Und auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sie dafür wirklich so gute Argumente vorweisen können.
Interessante Probleme gibt es zur Genüge, aber die lassen sich eben nur bedingt in aufwendigen Leistungsshows darstellen. Gefragt sind vielmehr die Tugenden einer intellektuellen Wissenschaft, die zugleich informiert und distanziert ist, genaue Beschreibungen liefert und sich traut, die Wissenschaften aus einer ungewöhnlichen, überraschenden und provozierenden Perspektive zu betrachten. Die Wissenschaften verändern sich, und nun geht es auch darum, neue Wege im Nachdenken und Reden über sie zu beschreiten. Solche Versuche sind schon mehrfach unternommen worden: mit den großen Stilisten der Naturwissenschaften wie etwa Helmholtz, Poincaré oder Schrödinger, die Popularisierung von Wissenschaft so verstanden haben, dass sie die über ihr Fachgebiet hinausgehenden Fragen der wissenschaftlichen Entwicklung behandelt haben; oder mit der Diskussion um die zwei Kulturen, die eigentlich zu deren Überwindung beitragen sollte, im Grunde aber nicht mehr war als ein Schlagabtausch zwischen zwei Wissenskulturen, die ihren Einfluss in Zeiten des Kalten Krieges sichern wollten.
Wenn die neue „edition unseld” einen weiteren Versuch einer Annäherung von Geistes- und Naturwissenschaften wagt, so geht es um neue Wege, die durch Wissenschaft und Technik hervorgerufenen Veränderungen in den Blick zu nehmen. Betrachtet man die ersten Bände, so fällt auf, dass niemand über ein Deutungsmonopol verfügt. Natur- und Geisteswissenschaftler, Essayisten und Poeten kommen gleichberechtigt zu Wort. Der Traum von einer Einheit der Wissenschaft, wie ihn der Wiener Kreis, die Kybernetik und manche Vertreter der analytischen Philosophie verfolgen, bleibt bis auf Weiteres ein Wunschtraum.
Genau um diesen Punkt geht es in dem Band der Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell, wenn sie argumentiert, dass die Kategorien der klassischen Newtonschen Wissenschaften wie Allgemeingültigkeit, Einfachheit oder Einheitlichkeit angesichts der Erforschung von Komplexität nicht mehr recht greifen. Das Klima oder die Depression, Verkehrsaufkommen oder Katastrophen lassen sich nicht erschöpfend nach dem Prinzip erforschen, wonach komplexe Prozesse so weit wie möglich in ihre Einzelteile zerlegt werden, um sie auf diese Weise von unten nach oben zu erklären. Stattdessen geht es darum, einen systemischen Ansatz zu verfolgen, der mit Kategorien wie Kontingenz, Chaos und Emergenz operiert.
Mitchell geht es nun weniger darum, den Klimaforschern die Wissenschaftsphilosophie nachzuliefern; es geht ihr vielmehr darum, dass die Philosophie selbst noch nicht die epistemologischen Konsequenzen aus diesen wissenschaftlichen Veränderungen gezogen hat. Die Annahme der einen wissenschaftlichen Methode ist passé, und was bleibt, sind pragmatische, pluralistische Auffassungen vielfältiger Methodensysteme.
Nun wird die Einheit der Wissenschaften schon seit längerem ernsthaft in Zweifel gezogen, und insofern ist Mitchells Essay nicht ganz der Anfang zum Verständnis der Welt, wie der Untertitel vollmundig verspricht. Hingegen sind wir allerdings erst am Anfang einer vernünftigen Umgehensweise damit, dass wir im Zeichen der Komplexität nicht mehr die gleiche Sicherheit einer Voraussage annehmen können wie etwa bei einer Sonnenfinsternis oder einer Mondlandung.
Da es um komplexe Phänomene wie Ökosysteme, Gehirn oder Volkswirtschaften geht, sind Voraussagen zwar unabdingbar, aber sie bleiben äußerst schwierig. Dieser Umstand ist auch für die gesamte Gesellschaft relevant. Mitchell weist zurecht darauf hin, dass Politiker die Uneinigeit unter den Wissenschaftlern gern nutzen, um Entscheidungen hinauszuzögern. Insofern ist es ein drängendes Problem, wie mit einer vermehrt auf bloßen Wahrscheinlichkeiten aufbauenden Wissenskultur in der Gesellschaft verfahren wird.
Eine ähnliche Frage ließe sich auch ausgehend von Robert Laughlins Polemik über den Betrug an der Wissensgesellschaft formulieren, nur dass es hier nicht um Wahrscheinlichkeit sondern um Erkenntnis als Ware geht. Laughlin sorgt sich um das Ideal einer freien, nicht von Interessen geleiteten Forschung, die in erster Linie der Erkenntnis dient. Dieses aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideal schmilzt in unserer globalisierten Welt tatsächlich so schnell wie das Eis der Antarktis. Die Klage, dass wir auf eine Situation zusteuern, in der immer mehr Wissen nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht, weil das gegen die Interessen militärischer oder wirtschaftlicher Lobbys geht, ist also völlig berechtigt.
Nur wäre Laughlins Argumentation überzeugender, wenn er ökonomische Habgier und legitime Sicherheitsinteressen der Menschheit etwas genauer auseinanderhielte. Es ist eines, dass Firmen Gensequenzen patentieren lassen, bevor sie überhaupt wissen, was der biologische Nutzen dieser Sequenzen ist; aber es ist etwas anderes, bestimmte biotechnologische Forschung geheimzuhalten, wenn sie eine umfassende Gefahr darstellen. Vermutlich lässt sich wissenschaftliches Wissen auf längere Sicht ohnehin nicht geheimhalten, aber dann müssen politische und nicht wissenschaftliche Mechanismen geschaffen werden, die vor den potentiellen Gefahren dieses Wissens effektiv zu schützen vermögen.
Darüber hinaus kann Laughlin leider ein verschwörungstheoretisches Hintergrundrauschen nicht ganz unterdrücken, und das läuft dann auf das etwas abgestandene Muster hinaus, dass genialische Erfinder oder Entdecker von undurchsichtigen Kräften in ihrer Kreativität behindert werden. Als ob das nicht schon seit der Antike so wäre. Dennoch öffnet der Band die Augen dafür, dass geheimes Wissen noch lange nach dem Zeitalter der Geheimwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Auch die vermeintlich offene Gesellschaft der Moderne hat ihre dunklen Kammern, und denen gilt es sich zuzuwenden.
Einen Rückfall in barbarische Zeiten befürchtet auch Dietmar Dath, wenn er neuen rechten Darwinisten (besser noch: Globaldarwinisten) vorwirft, den Solidarvertrag aufzukündigen, indem sie ganzen Gruppen der Gesellschaft klarmachen, dass sie nicht weiter gebraucht werden. Vergegenwärtigt man sich die Tendenz zur Schrumpfung des Mittelstands bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich, so muss man ernstlich an neuen Adel und neuen Feudalismus denken. Anstatt nun in einen kulturpessimistischen Trübsinn zu verfallen, wie ihn die Linken seit dem Ende der siebziger Jahre bevorzugt pflegen, optiert Dath kämpferisch für einen sozialistischen, aufgeklärten Universalismus, der sich dadurch auszeichnet, dass die Gleichheit der Menschen der Gnaden- und Lieblosigkeit der Natur entgegengesetzt wird.
Manches an Daths Spekulationen bleibt etwas verschwommen, doch sehr bemerkenswert ist sein Naturbegriff, der eben nicht von einer sorgsamen ökologischen Pflege der lieben Natur ausgeht, sondern der Kälte, Absichtslosigkeit und Zufälligkeit der natürlichen Prozesse ins Auge blickt. Die Pointe dabei ist, dass dies ein bislang wenig beachteter, aber doch zentraler Gedanke bei Darwin ist: Überleben in der Natur ist eine Frage von Zufall, Anpassung und Stärke, doch die höchste zivilisatorische Entwicklung des Menschen besteht darin, diesen Mechanismus zu durchbrechen. Wahre Humanität heißt, die vermeintlich Schwachen und Nichtprivilegierten zu unterstützen – zumal jeder irgendetwas kann, wie Dath hinzufügt.
So unterschiedlich die Texte von Mitchell, Laughlin und Dath auch sind, sie alle setzen voraus, dass wir unsere Zukunft viel mehr selbst in der Hand haben, als es uns eine technologischer oder ökonomischer Determinismus suggeriert. Genau das ist der Gegenstand einer intellektuellen Wissenschaft. MICHAEL HAGNER
SANDRA MITCHELL: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008, 173 Seiten, 10 Euro.
ROBERT B. LAUGHLIN: Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 193 Seiten, 10 Euro.
DIETMAR DATH: Maschinenwinter. Wissen, Technik Sozialismus. Eine Streitschrift. Edition Unseld, Frankfurt am Main 2008. 130 Seiten, 10 Euro.
Unser Gehirn ist komplexer als eine Sonnenfinsternis
Der Traum von der Einheit der Wissenschaft bleibt Wunschtraum
Was setzen wir der Gnadenlosigkeit der Natur entgegen?
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Recht spöttisch betrachtet Rezensent Matthias Bröckers, wie sich Dietmar Dath, einstiger Spex- und FAZ-Redakteur, aufmacht, Mensch und Maschinen zu befreien und zu einer "sozialistischen Demokratie voranzuschreiten". Wer hier genau von wem befreit werden soll, können wir der eher kursorischen Besprechungen nicht ganz entnehmen, wir lernen aber von der maschinenstürmenden Tradition der Luddisten, die von Ned Lud begründet wurde, der als erster im Jahr 1779 in Leicestershire einen Strumpfstrickapparat zerstörte. Rezensent Bröckers scheint nicht ganz zu verstehen, wie Dath noch Hoffnung in die Organisation der Linken setzen kann, belächelt den "Lenin 2.0" aber eher milde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dass Dath ein lesenswertes Manifest geschrieben hat, hat damit zu tun, dass er sich nicht in empiriokritizistischen Abhandlungen verliert, sondern ein Wissen formuliert, aus dessen Anwendung etwas folgt: Die Menschheit gibt es noch nicht. Wir können sie aber erschaffen.« Cord Riechelmann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20080608