»Doch es gibt eine weitverbreitete Spielart dieser liebenden Massen, die eine höchst notwendige und äußerst heilsame soziale Rolle einnimmt und als Gegengewicht das ganze Übel ausgleicht, das von den übrigen Arten von Versammlungen angerichtet wird. Ich meine die Masse, die ein Fest feiert, eine fröhliche, in sich selbst verliebte Masse, trunken allein von der Lust, sich um ihrer selbst willen zu versammeln.«Das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert waren fasziniert von der Masse. Gabriel Tarde nimmt an der Dynamik von Massenerhebungen die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten des Sozialen in den Blick: Erfindung und Nachahmung. Charismatische Persönlichkeiten und ihre Innovationen reizen die Masse, setzen ihre Nachahmungsenergien frei und damit auch soziale Bewegungen in Gang. Während der Nachahmungstrieb zunächst die Menge erfasst, wirkt er in der Folge wechselseitig. Die Logik der Gesellschaft als einer Vereinigung einander nachahmender Menschen ist in der Masse in aller Deutlichkeit zu beobachten. Während der einzelne Mensch vernunftgesteuert agieren und einen individuellen Sozialisationsprozess für sich beanspruchen mag, ist die Masse ein unberechenbares Emergenzphänomen: Sie homogenisiert Individualität und erscheint als manisches, hysterisches Gebilde. Gabriel Tarde beschreibt ihren Auftritt als soziales Ereignis: Die Gesetzmäßigkeiten der Masse beginnen dort, wo die der Individualpsychologie aufhören, und sie zeigen die sozialen Mechanismen in Reinform.Bei der Auseinandersetzung um die richtige Wissenschaft des Sozialen behielt Émile Durkheim für die längste Zeit des 20. Jahrhunderts gegenüber Gabriel Tarde die Oberhand. Erst seit den 1990er Jahren erleben die von Tarde entdeckten Gesetzmäßigkeiten der Nachahmung, seine Soziologie des Begehrens und der vorrationalen affektiven Kräfte, die den Gesellschaftskörper und das zwischenmenschliche Zusammenspiel durchwirken, eine Renaissance. Masse und Meinung hatte Tarde zwischen 1893 und 1899 erstmals veröffentlicht. Er nähert sich der Masse zunächst als Kriminologe, der danach fragt, ob und in welcher Weise Massenverbrechen individuellen Mitgliedern dieser Masse juristisch zurechenbar sind. Seine erstaunlichen Studien zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Menschenmasse, zur Meinungsbildung und zum gewalttätigen Potential der großen Menge gelten in Frankreich als Standardwerk der neueren Sozialforschung.