Sie hat keine Erinnerungen, keinen Namen, nicht einmal ihren Geburtstag oder den Namen ihrer Mutter kennt sie. Sie weiß nur, dass sie als Vierjährige in einem Keller der Seel Street gefunden wurde, und dass Mr. Hardy, Haupt einer vornehmen Liverpooler Familie, sie bei sich aufgenommen hat. Er nennt sie Myrtle, und als sie größer wird, ist sie eine Art Mädchen für alles im Haus. Aber der phlegmatische und großherzige alte Mann stirbt auf eine Weise, die im Jahre 1846 skandalträchtig ist: Der Tod ereilt ihn im Bett einer Prostituierten. Außer seinem Sohn Georgie wissen nur Myrtle und Pompey Jones davon, ein Überlebenskünstler, der auf der Straße aufwuchs. Sie helfen Georgie, der nun Familienoberhaupt wird, die Peinlichkeit zu vertuschen. In der Folge werden die beiden immer tiefer in seine schattenhafte Welt hineingezogen, die voller Heimlichkeiten, verborgener Sehnsüchte, aber auch voller Ideale ist. Pompey, "der Entenjunge", assistiert Georgie bei dessen fotografischen Experimenten , und Myrtle wird seine Geliebte, auf Distanz gehalten und doch immer verfügbar. Auch als er standesgemäß eine Frau aus den höheren Gesellschaftsschichten heiratet. Ist es der Druck eines schlechten Gewissens? Ist es Übermut, Abenteuerlust oder der Versuch eines Befreiungsschlags? Als der Krimkrieg heraufzieht, reist "Master Georgie" mit seiner Familie und seinen Freunden mitten ins Krisengebiet, in die Nähe von Konstantinopel, wo er sich freiwillig als Militärarzt meldet. Und während der Kriegslärm und die Cholera näher und näher kommen, treiben die Spannungen unter den Reisenden unausweichlich auf eine Krise zu. Mit großer Kunst knüpft Beryl Bainbridge geheime Fäden zwischen ihren Figuren, deren Kern sie in knappen Beschreibungen und pointierten Dialogen freilegt. Es sind Menschen, die sich durch ein Kontinuum von hellstem Licht zu finsterstem Schatten bewegen, wie es für die Fotografien jener Epoche charakteristisch ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2000Aufruhr unter der Schädeldecke
Viktorianisches Fotoalbum: Beryl Bainbridges "Master Georgie"
Man kann Bücher auch durch Umschlagbilder vernichten. Auf dem Cover der deutschen Ausgabe von Beryl Bainbridges "Master Georgie" ist eine rothaarige, elfenhaft tanzende Frau abgebildet. Ihre softerotische Erscheinung hat rein gar nichts mit diesem düsteren Roman zu tun, der mit einer Leiche beginnt und im grässlichen Gemetzel des Krimkrieges endet. Leser sentimentaler Unterhaltungsware dürften sich schwer tun mit diesem sechzehnten Roman von Beryl Bainbridge, die sich zuletzt mehr und mehr auf historische Stoffe verlegt hat. Ihre vorigen Romane handelten von Sir Robert Scotts Südpolexpedition und - unter dem Titel "Nordlicht" - vom Untergang der Titanic. Das war auch das bislang einzige Werk der britischen Erfolgsautorin, das in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Steht der Untergang der Titanic für die erste große Erschütterung der technischen Allmachtsvorstellungen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, so gilt der Krimkrieg in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als erster moderner Stellungskrieg, dessen verlustreiche Schlachten wie eine Probe en miniature auf den Ersten Weltkrieg erscheinen. Bainbridge erzählt auch diese historische Katastrophe aus der Perspektive von Personen, die mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit ihrer Teilhabe an der Geschichte. Eher zufällig stolpern sie am Ende über die Schlachtfelder, auf denen Soldaten in bizarren Körperhaltungen verrecken, ohne zu wissen, für welche Sache sie eigentlich kämpfen.
Bainbridge erzählt mit Lust am Detail, unterkühlt und scheinbar umwegig. Das Wesentliche versteckt sie immer wieder in Nebensächlichem oder in hingetupften Andeutungen, so dass man sehr aufmerksam die Fährten lesen muss. Das hat durchaus Methode, geht es doch um die Epoche des Viktorianismus, um Leidenschaften, die zu skandalös wären, träten sie offen zu Tage, und also um Verdrängung und die Kunst des Verschweigens. Es ist nur zu ahnen, was sich unter der Oberfläche des Sichtbaren abspielt, und die große Schlacht am Ende ist auch so etwas wie eine blutrünstige Katharsis dieser geheimen Begierden.
Die Metapher, die Bainbridge für diese Epoche gefunden hat, ist die Fotografie. Diese Kunst hatte damals noch etwas von schwarzer Magie. Sie besaß scheinbar die Macht, die Zeit stillzustellen und Gefühle einzufrieren. Sie machte sichtbar und führte doch nur die kalkulierte Inszenierung des Augenblicks im feierlichen Gruppenbild vor Augen. Sie verbarg, indem sie zeigte, denn, so sagt einer der Protagonisten: "Die Linse besitzt nicht die Macht, den Aufruhr unter der Schädeldecke zu erfassen, noch kann sie lüsterne Gedanken entlarven - und das ist auch besser so."
Jedes der sechs Kapitel, die als fotografische "Platten" bezeichnet werden, mündet in den Moment einer Fotoaufnahme. Auf dem ersten Bild ist die Leiche des alten Mr. Hardy zu sehen, Vorstand einer gutbürgerlichen Liverpooler Familie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Doch Mr. Hardy starb im Bett einer Prostituierten, wo ihn sein Sohn, der junge Arzt und Hobbyfotograf George, zufällig entdeckt. Um den Skandal zu vertuschen, schafft er die Leiche nach Hause. Myrtle, ein adoptiertes Findelkind, das George in einer seltsam bedingungslosen Liebe zugetan ist und ihm auf Schritt und Tritt folgt, hilft ihm dabei. Ebenso Pompey Jones, ein Straßenjunge, der sich vom Trickdieb und Feuerschlucker zum fahrenden Fotografen hocharbeitet. Auch Dr. Potter, ein Vertreter der Wissenschaft, Anhänger Darwins und Schwager von George Hardy, durchschaut die Situation und weiß um das Geheimnis, das die Protagonisten in Zukunft verbinden wird.
Das erste und stärkste Kapitel des Romans erinnert in Tonfall und Sujet ein wenig an "Oliver Twist". Die zweite "Platte", in der George Hardy eine Augenoperation an einem Affen durchführt, könnte in ihrer Nacht-und-Nebel-Atmosphäre auch von Edgar Allan Poe stammen. Als abgeschlossene, kleinere Erzählungen sind diese Abschnitte durchaus reizvoll, Bainbridge zeigt gerade im beiläufigen Beschreiben eine große Meisterschaft. Doch der Roman tritt bald auf der Stelle, weil der Zusammenhang der einzelnen Bilder und ihre Bedeutung im Rahmen der Gesamtkomposition unklar bleiben. Die folgenden Kapitel, die über Istanbul zur Front nach Sewastopol führen, fallen auseinander und lassen in ihrem Bemühen, einzelne Momente festzuhalten, die Geschichte selbst und ihre Antriebskraft erstarren.
Myrtle, Pompey Jones und Dr. Potter fungieren als wechselnde Erzähler der einzelnen Kapitel. Aus ihren unterschiedlichen Perspektiven wird der Titelheld George mehr umkreist als erfasst. Seine latente Homosexualität äußert sich in einer einzigen kleinen Unbeherrschtheit, von der Pompey Jones berichtet. Sein Liebesverhältnis zu Myrtle, das er auch während der Ehe mit der kränkelnden Annie beibehält, wird nur sparsam angedeutet. Ebenso die sexuellen Aufdringlichkeiten des alten Mr. Hardy. In solchen Verknappungen liegt Bainbridges erzählerische Stärke, die paradoxerweise zugleich auch eine Schwäche ist. Denn inmitten der Kreisbewegungen und detailreichen Andeutungen bleibt das Zentrum des Romans leer. George ist merkwürdig unbestimmt, eine schemenhafte Gestalt, die nie wirkliches Interesse weckt. Seine Frau Annie, die für die Entfaltung der Dreiecksgeschichte nicht ganz unwichtig wäre, ist kaum mehr als ein Name und scheint für die Autorin ohne jedes Interesse. Die Gräuel der Schlacht um Sewastopol und der Choleraepidemie, gegen die George als Arzt ankämpft, bleiben kulissenhaft. So erscheint auch sein Tod weniger als willkürliches Ende eines tragischen Lebens, sondern als notwendige Beendigung eines Erzählprogramms, das nirgendwo hinführt als zu einer letzten Fotografie, auf der wiederum ein Toter zu sehen ist.
Um "Master Georgie" dagegen eher als historischen denn als psychologischen Roman ernst zu nehmen, erfährt man zu wenig über die zeitgeschichtlichen Hintergründe des Krimkrieges. Die Kenntnis variantenreicher Todesarten macht jedenfalls nicht viel klüger.
JÖRG MAGENAU.
Beryl Bainbridge: "Master Georgie". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Charlotte Breuer. Europa Verlag, Hamburg und Wien 1999. 224 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viktorianisches Fotoalbum: Beryl Bainbridges "Master Georgie"
Man kann Bücher auch durch Umschlagbilder vernichten. Auf dem Cover der deutschen Ausgabe von Beryl Bainbridges "Master Georgie" ist eine rothaarige, elfenhaft tanzende Frau abgebildet. Ihre softerotische Erscheinung hat rein gar nichts mit diesem düsteren Roman zu tun, der mit einer Leiche beginnt und im grässlichen Gemetzel des Krimkrieges endet. Leser sentimentaler Unterhaltungsware dürften sich schwer tun mit diesem sechzehnten Roman von Beryl Bainbridge, die sich zuletzt mehr und mehr auf historische Stoffe verlegt hat. Ihre vorigen Romane handelten von Sir Robert Scotts Südpolexpedition und - unter dem Titel "Nordlicht" - vom Untergang der Titanic. Das war auch das bislang einzige Werk der britischen Erfolgsautorin, das in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Steht der Untergang der Titanic für die erste große Erschütterung der technischen Allmachtsvorstellungen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, so gilt der Krimkrieg in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als erster moderner Stellungskrieg, dessen verlustreiche Schlachten wie eine Probe en miniature auf den Ersten Weltkrieg erscheinen. Bainbridge erzählt auch diese historische Katastrophe aus der Perspektive von Personen, die mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit ihrer Teilhabe an der Geschichte. Eher zufällig stolpern sie am Ende über die Schlachtfelder, auf denen Soldaten in bizarren Körperhaltungen verrecken, ohne zu wissen, für welche Sache sie eigentlich kämpfen.
Bainbridge erzählt mit Lust am Detail, unterkühlt und scheinbar umwegig. Das Wesentliche versteckt sie immer wieder in Nebensächlichem oder in hingetupften Andeutungen, so dass man sehr aufmerksam die Fährten lesen muss. Das hat durchaus Methode, geht es doch um die Epoche des Viktorianismus, um Leidenschaften, die zu skandalös wären, träten sie offen zu Tage, und also um Verdrängung und die Kunst des Verschweigens. Es ist nur zu ahnen, was sich unter der Oberfläche des Sichtbaren abspielt, und die große Schlacht am Ende ist auch so etwas wie eine blutrünstige Katharsis dieser geheimen Begierden.
Die Metapher, die Bainbridge für diese Epoche gefunden hat, ist die Fotografie. Diese Kunst hatte damals noch etwas von schwarzer Magie. Sie besaß scheinbar die Macht, die Zeit stillzustellen und Gefühle einzufrieren. Sie machte sichtbar und führte doch nur die kalkulierte Inszenierung des Augenblicks im feierlichen Gruppenbild vor Augen. Sie verbarg, indem sie zeigte, denn, so sagt einer der Protagonisten: "Die Linse besitzt nicht die Macht, den Aufruhr unter der Schädeldecke zu erfassen, noch kann sie lüsterne Gedanken entlarven - und das ist auch besser so."
Jedes der sechs Kapitel, die als fotografische "Platten" bezeichnet werden, mündet in den Moment einer Fotoaufnahme. Auf dem ersten Bild ist die Leiche des alten Mr. Hardy zu sehen, Vorstand einer gutbürgerlichen Liverpooler Familie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Doch Mr. Hardy starb im Bett einer Prostituierten, wo ihn sein Sohn, der junge Arzt und Hobbyfotograf George, zufällig entdeckt. Um den Skandal zu vertuschen, schafft er die Leiche nach Hause. Myrtle, ein adoptiertes Findelkind, das George in einer seltsam bedingungslosen Liebe zugetan ist und ihm auf Schritt und Tritt folgt, hilft ihm dabei. Ebenso Pompey Jones, ein Straßenjunge, der sich vom Trickdieb und Feuerschlucker zum fahrenden Fotografen hocharbeitet. Auch Dr. Potter, ein Vertreter der Wissenschaft, Anhänger Darwins und Schwager von George Hardy, durchschaut die Situation und weiß um das Geheimnis, das die Protagonisten in Zukunft verbinden wird.
Das erste und stärkste Kapitel des Romans erinnert in Tonfall und Sujet ein wenig an "Oliver Twist". Die zweite "Platte", in der George Hardy eine Augenoperation an einem Affen durchführt, könnte in ihrer Nacht-und-Nebel-Atmosphäre auch von Edgar Allan Poe stammen. Als abgeschlossene, kleinere Erzählungen sind diese Abschnitte durchaus reizvoll, Bainbridge zeigt gerade im beiläufigen Beschreiben eine große Meisterschaft. Doch der Roman tritt bald auf der Stelle, weil der Zusammenhang der einzelnen Bilder und ihre Bedeutung im Rahmen der Gesamtkomposition unklar bleiben. Die folgenden Kapitel, die über Istanbul zur Front nach Sewastopol führen, fallen auseinander und lassen in ihrem Bemühen, einzelne Momente festzuhalten, die Geschichte selbst und ihre Antriebskraft erstarren.
Myrtle, Pompey Jones und Dr. Potter fungieren als wechselnde Erzähler der einzelnen Kapitel. Aus ihren unterschiedlichen Perspektiven wird der Titelheld George mehr umkreist als erfasst. Seine latente Homosexualität äußert sich in einer einzigen kleinen Unbeherrschtheit, von der Pompey Jones berichtet. Sein Liebesverhältnis zu Myrtle, das er auch während der Ehe mit der kränkelnden Annie beibehält, wird nur sparsam angedeutet. Ebenso die sexuellen Aufdringlichkeiten des alten Mr. Hardy. In solchen Verknappungen liegt Bainbridges erzählerische Stärke, die paradoxerweise zugleich auch eine Schwäche ist. Denn inmitten der Kreisbewegungen und detailreichen Andeutungen bleibt das Zentrum des Romans leer. George ist merkwürdig unbestimmt, eine schemenhafte Gestalt, die nie wirkliches Interesse weckt. Seine Frau Annie, die für die Entfaltung der Dreiecksgeschichte nicht ganz unwichtig wäre, ist kaum mehr als ein Name und scheint für die Autorin ohne jedes Interesse. Die Gräuel der Schlacht um Sewastopol und der Choleraepidemie, gegen die George als Arzt ankämpft, bleiben kulissenhaft. So erscheint auch sein Tod weniger als willkürliches Ende eines tragischen Lebens, sondern als notwendige Beendigung eines Erzählprogramms, das nirgendwo hinführt als zu einer letzten Fotografie, auf der wiederum ein Toter zu sehen ist.
Um "Master Georgie" dagegen eher als historischen denn als psychologischen Roman ernst zu nehmen, erfährt man zu wenig über die zeitgeschichtlichen Hintergründe des Krimkrieges. Die Kenntnis variantenreicher Todesarten macht jedenfalls nicht viel klüger.
JÖRG MAGENAU.
Beryl Bainbridge: "Master Georgie". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Charlotte Breuer. Europa Verlag, Hamburg und Wien 1999. 224 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main