Liverpool Juni 1876, am Hafen drängen sich Tausende. Angekündigt ist der "gewaltigste Affe, den die Zoologie kennt", oder wie es im Brockhaus heißt: "eines der scheußlichsten Geschöpfe". Schon seit den ersten Afrikafahrern kursierten Gerüchte: "Riesen in Menschengestalt, unbezähmbare Killer", so der Tenor.Inzwischen hatte sich aber etwas Entscheidendes verändert. Nachdem einige Jahre zuvor Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlicht hatte (ein europäischer Bestseller), galten die Gorillas als die Vorstufe der menschlichen Wesen. Das steigerte natürlich die Neugier ins Unermessliche und tatsächlich wurde aus dem kleinen, jungen Gorilla, der einem deutschen Expeditionsarzt in Afrika geschenkt worden war, ein Medienstar. Für 20 000 Reichsmark, ein Vermögen damals, hatte ihn das Berliner Aquarium als Attraktion eingekauft; die Rechnung ging auf, die Neugierigen standen Schlange, der Gorilla wurde zum Liebling seines Publikums nicht nur in Berlin, sondern auch auf teuren Tourneen in
ganz Europa. Auch die bedeutendsten Wissenschaftler wie Rudolf Virchow waren elektrisiert und studierten den "Urahn". "Affe oder nicht Vater? Onkel?", fragte die satirische Zeitschrift "Kladderadatsch". Das Spektakel dauerte anderthalb Jahre dann war der Affe tot, er starb an Tuberkulose. Doch das Interesse an fremden Tieren und Kontinenten war geweckt und wuchs immens Wissen wurde populär.
ganz Europa. Auch die bedeutendsten Wissenschaftler wie Rudolf Virchow waren elektrisiert und studierten den "Urahn". "Affe oder nicht Vater? Onkel?", fragte die satirische Zeitschrift "Kladderadatsch". Das Spektakel dauerte anderthalb Jahre dann war der Affe tot, er starb an Tuberkulose. Doch das Interesse an fremden Tieren und Kontinenten war geweckt und wuchs immens Wissen wurde populär.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2013Ein Gorilla wie du und ich
Im Ganzen kann man ihn als indolent, faul und unliebenswürdig, bei etwas Phantasie als würdevoll, verständig und selbstbewusst bezeichnen." - So steht es in einem frühen Porträt von M'Pungu, der im Sommer 1876 als erster lebender Gorilla in Europa eintreffen sollte. Und sieht man sich die Fotografien dieses Affenkindes an, das bis zu seinem Tod sechzehn Monate später der unbestrittene Star des wenige Jahre zuvor gegründeten "Berliner Aquariums" Unter den Linden war, so begreift man gleich, warum es bei seinen Betreuern und Betrachtern durchaus die Phantasie weckte. M'Pungu nahm spielend für sich ein und krempelte das europäische Bild des Gorillas um. Das war keine Kleinigkeit, denn Gorillas - damals erst seit drei Jahrzehnten wissenschaftlich beschrieben - galten bis dahin als furchterregende Ungetüme.
Mustafa Haikal erzählt in einem schönen kleinen Band die Geschichte von M'Pungu, vom Erwerb des kleinen Gorillas durch eine deutsche Afrika-Expedition über dessen Zeit als europäische Berühmtheit - eine Reise ans Londoner "Royal Aquarium" eingeschlossen - bis zum Obduktionsbericht in der "Berliner Klinischen Wochenschrift", der das eindrucksvolle "wissenschaftliche Trauergefolge" beschreibt, an dessen Spitze eine andere Berühmtheit, nämlich Rudolf Virchow stand (Mustafa Haikal: "Master Pongo". Ein Gorilla erobert Europa. Transit Verlag, Berlin/Schwarzenbach a.d. Saale 2013. 128 S., Abb., geb., 16,80 [Euro]).
Dem Gorilla kam unter den Großen Menschenaffen in diesen Jahren, als Darwins Abstammungslehre sich durchzusetzen begann, besondere Bedeutung zu - wovon M'Pungus Karriere zehrte. Aber natürlich war letztere nur eine kleine Facette in der langen Geschichte der Versuche, das spezifisch Menschliche im Abgleich mit den Menschenaffen herauszustellen. Von einigen antiken Vermutungen abgesehen, gewinnen die Affen dabei vom siebzehnten Jahrhundert an Kontur, werden zu Einsätzen in den Debatten um die Natur des Menschen, betreten die Bühnen der Aufklärer, erhalten langsam auch empirisches Profil, werden zu Testfällen verschiedener Begriffe von Kultur und Intelligenz und sind heute im Zeichen von beobachtender und experimenteller Primatologie die Vergleichsfälle einer evolutionären Anthropologie, welche die Bedingungen der kulturell beschleunigten Entwicklung des Menschen erhellen möchte.
Der Essener Philosoph und Biologe Hans Werner Ingensiep hat diese Geschichte nun in einem exzellenten Buch dargestellt, das den Bogen von den ersten Zeugnissen bis zur Gegenwart schlägt (Hans Werner Ingensiep: "Der kultivierte Affe". Philosophie, Geschichte und Gegenwart. Hirzel Verlag, Stuttgart 2013. 317 S., Abb., geb., 24,90 [Euro]). Ingensiep legt dabei Augenmerk auch auf bildliche Darstellungen der Menschenaffen. Und so stößt man unter den Bildtafeln des Buchs auf eine Fotografie von M'Pungu, die gleich an seine zeitgenössische Beschreibung als "würdevoller Großmogul" oder gar "Pagode" denken lässt. Er war eben eine kleine Persönlichkeit, lange bevor es um die Personenrechte für Große Affen ging.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Ganzen kann man ihn als indolent, faul und unliebenswürdig, bei etwas Phantasie als würdevoll, verständig und selbstbewusst bezeichnen." - So steht es in einem frühen Porträt von M'Pungu, der im Sommer 1876 als erster lebender Gorilla in Europa eintreffen sollte. Und sieht man sich die Fotografien dieses Affenkindes an, das bis zu seinem Tod sechzehn Monate später der unbestrittene Star des wenige Jahre zuvor gegründeten "Berliner Aquariums" Unter den Linden war, so begreift man gleich, warum es bei seinen Betreuern und Betrachtern durchaus die Phantasie weckte. M'Pungu nahm spielend für sich ein und krempelte das europäische Bild des Gorillas um. Das war keine Kleinigkeit, denn Gorillas - damals erst seit drei Jahrzehnten wissenschaftlich beschrieben - galten bis dahin als furchterregende Ungetüme.
Mustafa Haikal erzählt in einem schönen kleinen Band die Geschichte von M'Pungu, vom Erwerb des kleinen Gorillas durch eine deutsche Afrika-Expedition über dessen Zeit als europäische Berühmtheit - eine Reise ans Londoner "Royal Aquarium" eingeschlossen - bis zum Obduktionsbericht in der "Berliner Klinischen Wochenschrift", der das eindrucksvolle "wissenschaftliche Trauergefolge" beschreibt, an dessen Spitze eine andere Berühmtheit, nämlich Rudolf Virchow stand (Mustafa Haikal: "Master Pongo". Ein Gorilla erobert Europa. Transit Verlag, Berlin/Schwarzenbach a.d. Saale 2013. 128 S., Abb., geb., 16,80 [Euro]).
Dem Gorilla kam unter den Großen Menschenaffen in diesen Jahren, als Darwins Abstammungslehre sich durchzusetzen begann, besondere Bedeutung zu - wovon M'Pungus Karriere zehrte. Aber natürlich war letztere nur eine kleine Facette in der langen Geschichte der Versuche, das spezifisch Menschliche im Abgleich mit den Menschenaffen herauszustellen. Von einigen antiken Vermutungen abgesehen, gewinnen die Affen dabei vom siebzehnten Jahrhundert an Kontur, werden zu Einsätzen in den Debatten um die Natur des Menschen, betreten die Bühnen der Aufklärer, erhalten langsam auch empirisches Profil, werden zu Testfällen verschiedener Begriffe von Kultur und Intelligenz und sind heute im Zeichen von beobachtender und experimenteller Primatologie die Vergleichsfälle einer evolutionären Anthropologie, welche die Bedingungen der kulturell beschleunigten Entwicklung des Menschen erhellen möchte.
Der Essener Philosoph und Biologe Hans Werner Ingensiep hat diese Geschichte nun in einem exzellenten Buch dargestellt, das den Bogen von den ersten Zeugnissen bis zur Gegenwart schlägt (Hans Werner Ingensiep: "Der kultivierte Affe". Philosophie, Geschichte und Gegenwart. Hirzel Verlag, Stuttgart 2013. 317 S., Abb., geb., 24,90 [Euro]). Ingensiep legt dabei Augenmerk auch auf bildliche Darstellungen der Menschenaffen. Und so stößt man unter den Bildtafeln des Buchs auf eine Fotografie von M'Pungu, die gleich an seine zeitgenössische Beschreibung als "würdevoller Großmogul" oder gar "Pagode" denken lässt. Er war eben eine kleine Persönlichkeit, lange bevor es um die Personenrechte für Große Affen ging.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main