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Der Materialismus ist heute eine der einflußreichsten Weltanschauungen in Westeuropa. Er besagt, daß es keine andere Wirklichkeit gibt als die Materie, wobei auch Denken und Fühlen auf Bewegungen der Materie zurückgeführt werden. Annette Wittkau-Horgby behandelt die Entstehung der materialistischen Weltdeutung und ihre Ausbreitung im Verlauf des 19. Jahrhunderts.
Die Materialisten des 19. Jahrhunderts knüpften unmittelbar an Entdeckungen und Erkenntnisse der empirischen Naturwissenschaften an. Dies verschaffte dem Materialismus eine ungeahnte Überzeugungskraft und Breitenwirkung. Bei der
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Produktbeschreibung
Der Materialismus ist heute eine der einflußreichsten Weltanschauungen in Westeuropa. Er besagt, daß es keine andere Wirklichkeit gibt als die Materie, wobei auch Denken und Fühlen auf Bewegungen der Materie zurückgeführt werden. Annette Wittkau-Horgby behandelt die Entstehung der materialistischen Weltdeutung und ihre Ausbreitung im Verlauf des 19. Jahrhunderts.
Die Materialisten des 19. Jahrhunderts knüpften unmittelbar an Entdeckungen und Erkenntnisse der empirischen Naturwissenschaften an. Dies verschaffte dem Materialismus eine ungeahnte Überzeugungskraft und Breitenwirkung. Bei der Ausbreitung der materialistischen Weltdeutung in Ethik und Recht spielte die Evolutionstheorie von Charles Darwin eine wesentliche Rolle, vor allem ihr Einfluß auf John Stuart Mill und andere Formen des Utilitarismus. Über Herbert Spencer fand der Materialismus schließlich Eingang in das deutsche Rechtsdenken.
Materialismus, Utilitarismus und Rechtspositivismus stimmten überein in der Kritik an der philosophischen Spekulation, konkret am Idealismus der Aufklärung. Sowohl der Aufstieg des Utilitarismus als auch der des Rechtspositivismus waren also mit der Ausbreitung des Materialismus nicht nur zeitlich, sondern auch systematisch verknüpft. Insofern erschließt dieses Buch einen zentralen Aspekt der deutschen Wissenschafts- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.1999

Blutiger als Napoleons Feldzüge war der Siegeszug des Blutegels
Zustände wie im alten Rom: Annette Wittkau-Horgby zeigt, daß erst der Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts den tradierten Aberglauben in der Wissenschaft ablöste

Nein, zimperlich waren sie nicht, die Männer im neunzehnten Jahrhundert. In dessen Mitte gab der Zoologe und Geologe Carl Vogt einer durch die vorhergehenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen (insbesondere der Zelle) vorbereiteten Vermutung zur Erklärung des Bewußtseins in drastischen Worten Gestalt: "Die Gedanken stehen in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren." Das konnte den Christen nicht gefallen. Hörten die menschlichen Organe auf zu funktionieren, gab es keinen Urin, ohne funktionierendes Gehirn keine Gedanken mehr - und die Seele, deren Unsterblichkeit so lange Zeit Trost versprochen hatte?

Der christliche Physiologe Wagner wies die Vogtsche Zumutung sofort zurück, 1854. Vogt und dessen Gesinnungsgenossen waren für Wagner nichts anderes als eine "Meute" von "Gesellen", ein "frivoles Gesindel", das "mit Peitschenhieben" daran gehindert werden müsse, "aus dem gährenden Inhalte seiner Eingeweide" seinen "stinkenden Athem dem Volke entgegenzublasen". Das ließ Vogt sich nicht bieten, und so erschien im darauffolgenden Jahr die berühmte Duplik "Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen". Die beiden Streithähne waren auch politische Gegner; Vogt hatte in der Frankfurter Paulskirche für die Republik gekämpft, seinem Gegner, der sich von Pressezensur und Staatspolizei helfen ließ, schleuderte Vogt die Worte ins Gesicht: "Du erbärmlicher Wicht! . . . jetzt kriechst Du hervor, giftgeschwollene Viper." Nein, zimperlich waren sie nicht.

Aber es ging auch um viel - um die Erklärung der Welt und des Menschen. Der Materialismusstreit, in dessen Mittelpunkt Vogt und Wagner standen, war der Ausdruck einer Zeit, in der die Naturwissenschaften mit atemraubenden Erkenntnissen aufwarteten. Die Ära der Spekulation war vorbei und damit eine Zeit, in der etwa eine bloße Vorstellung, wie Broussais' Theorie des Gastricismus, dazu führen konnte, daß zur Heilung der meisten Krankheiten Blutegel eingesetzt wurden. Von 1820 bis 1833 stieg der Blutegelimport in Frankreich von null auf 41,6 Millionen. Broussais' Blutegel haben mehr Blut vergossen als Napoleons Armeen, notierte Balzac. Jetzt, 1840, 1850, wußte man es besser. Die Naturwissenschaftler machten Experimente, die Mikroskopie - begünstigt durch die Verbesserung der Apparate - breitete sich aus, die Makroskopie der Tafeln und Systeme des achtzehnten Jahrhunderts geriet in das Odium der Unwissenschaftlichkeit. Jetzt wurde die Entstehung des Lebens "wissenschaftlich", das heißt sehenden Auges in der Versuchsanordnung, betrachtet und diskutiert. Die Zellteilung ließ Gott alt aussehen, selbst wenn auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens - bis heute - keine Antwort gefunden werden konnte. Auch das Bewußtsein vermochte der materialistischen Erklärung nicht mehr länger zu entkommen. Spekulation und Erfahrung trennten sich.

Wer die Geschichte dieses Siegeszuges der empirischen Weltdeutung in Form des Materialismus nachlesen will, kann nun zu dem Buch von Annette Wittkau-Horgby greifen. Die ersten hundertfünfzig Seiten gelten dem Materialismus in den Naturwissenschaften. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die jeweiligen Protagonisten nun materialistisch beeinflußt waren oder nicht. Drei Gruppen stellt die Autorin zusammen. Die puren Materialisten, die jede metaphysisch orientierte Weltdeutung ablehnten, die christlichen Naturwissenschaftler, für die die materialistische Behauptung nur eine Behauptung war, denn schließlich könne man nicht positiv wissen, daß Gott nicht am Anfang aller Dinge stehe, und die erkenntniskritische Gruppe, die den Materialismus für eine Glaubensposition hielt wie das Christentum auch. Sorgfältig arbeitet die Autorin, sorgfältig stellt sie die Positionen und Zwischenpositionen an den Quellentexten entlang dar. Sorgfältig notiert sie auch, wenn Einschätzungen der Sekundärliteratur übernommen werden. "Wie (xy) gezeigt hat", liest man immer wieder. Und in der Tat: Ganz unbekannt sind die Phänomene nicht, die Wittkau-Horgby sorgfältig präsentiert. Vor allem Frederick Gregory hat sich mit "Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany" um die Aufarbeitung des Themas gekümmert.

Den zweiten Teil ihrer Arbeit widmet die Autorin der Wirkung des Materialismus auf die Normwissenschaften. Hier kommen nun Ethik und Recht ins Spiel. War doch die materialistische Gewißheit für jene eine gehörige Zumutung. Verhielte sich nämlich alles zueinander, wie sich Urin und Niere zueinander verhalten, bliebe für den freien Willen, Verantwortlichkeit und gesellschaftliche und politische Gestaltungsfreiheit nicht mehr viel übrig, eigentlich gar nichts. Seite 153 bis 197 ergeben ein vertrautes Bild. Doch dann, auf den letzten fünfundzwanzig Seiten der Arbeit, wird es interessant. Hier formuliert die Autorin eine These, die zwar nicht ganz neu ist, die jedoch bislang nicht so deutlich aufgestellt wurde. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sei es "in Anlehnung an Spencers Entwicklungslehre . . . zu einer Neuorientierung auch im Bereich der Rechtstheorie" gekommen. "In weltanschaulich-systematischer Hinsicht . . . war das Aufkommen des Rechtspositivismus die konsequente Weiterführung der materialistischen weltanschaulichen Vermutung in den Bereich des Rechtsdenkens."

Diese nicht ganz leichtgewichtige These erörtert Wittkau-Horgby an Adolf Merkel und Carl Bergbohm, die bereits im Titel des entsprechenden Kapitels zu den Protagonisten der "Begründung des Positivismus" avancieren. Zweifelsohne waren der Strafrechtler Merkel und der Staats- und Völkerrechtler Bergbohm von (materialistischen) naturwissenschaftlichen Vorstellungen fasziniert, wie Wittkau-Horgby anhand einschlägiger Zitate zeigt. Doch wurde damit wirklich erst "im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert (das Vernunftrecht) einfach weltanschaulich unterlaufen"? Und war es wirklich Merkel, der der positivistischen Rechtsauffassung "eine äußerst breite Akzeptanz" verschaffte? Man kann diese Fragen mit der Autorin bejahen - wenn man Theoretiker mit deren Reflexionen zu den Hauptakteuren der Geschichte promoviert.

Wendet man jedoch den Blick, sieht man plötzlich etwas anderes und könnte sagen: Es bedurfte weder eines Merkel noch eines Bergbohm, um das Vernunftrecht auf den Schutthaufen der Geschichte zu werfen und den Rechtspositivismus, dessen Begriff (und Inhalt) unter Rechtshistorikern keineswegs unumstritten oder klar ist, zur communis opinio zu erheben. Dies hatten andere schon weit früher erledigt. Die Haupttäter waren die Gesetze - sie waren paradoxerweise die Kinder jener Vernunft -, die sich im vorigen Jahrhundert epidemisch auszubreiten begannen. Und die Richter, die ebenjene Gesetze zum Leben brachten.

Die naturwissenschaftlich orientierten Juristen, deren von der Autorin ignorierte zivilrechtliche Vertreter eine Geschichte vor Merkel und Bergbohm hatten, waren allesamt Außenseiter. In der Perspektive Wittkau-Horgbys bleibt unsichtbar, daß die Anlehnung von Juristen an materialistische, naturwissenschaftliche Konzepte vielleicht nicht mit dem Rechtspositivismus einhergeht, sondern den Versuch kennzeichnet, den Horror der stetigen Produktion und Veränderung von Gesetzen erträglich zu machen. Die von Darwin übernommene Vorstellung einer Entwicklung gehörte zu diesen Beruhigungsstrategien, die für einige nötig wurden, als durch die massenhaften Gesetze die Vernunft vervielfältigt und damit als die Vernunft desavouiert worden war. Die große Mehrheit der Juristen scherte sich aber nicht um solche Probleme und wendete sich wie schon im alten Rom der Praxis zu. Merkel und Bergbohm konnten kaum für Akzeptanz sorgen. Die gesamte naturwissenschaftliche Jurisprudenz des neunzehnten Jahrhunderts war ein sehr bemerkenswertes, nichtsdestoweniger marginales Phänomen. Doch auch dies ist nur eine Perspektive. Jeder sieht das, was er sieht.

Bleibt am Ende die Zusammenfassung: "Was Materialismus, Utilitarismus und Rechtspositivismus miteinander verbindet, ist, erkenntnistheoretisch betrachtet, die Kritik an der philosophischen Spekulation." Wem das zuwenig ist und wem auch Genosse Marx, dessen historischer Materialismus ausdrücklich nicht behandelt wird, fehlt, dem wird wahrscheinlich ein hungriger Magen bleiben. Dabei hatte das Thema Appetit gemacht. Sind wir doch heute Zeugen eines neuen Materialismusstreits, der unter den Schlagworten "Einheitswissenschaft" und "Einheit des Wissens" sogar in die Zeitungen geraten ist. Vor fünf Monaten trafen sich in Potsdam einige der Protagonisten, unter ihnen der Carl Vogt unserer Tage: der Soziobiologe Edward O. Wilson. Aber welch Unterschied zu damals! Der Chronist dieser Zeitung berichtete jedenfalls (F.A.Z. vom 24. Oktober), daß Wilson sowohl angesichts der Diskussion als auch beim eigenen Vortrag seiner Thesen über die genetische Abhängigkeit von Tier, Mensch, Moral und Kunst "emotionslos" war. Eben ein Mann des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. RAINER MARIA KIESOW

Annette Wittkau-Horgby: "Materialismus". Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 308 S., br., 46,- DM.

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