Die Arbeit von Andreas Kilcher untersucht den Zusammenhang von Literatur und Wissen am signifikanten Beispiel der Enzyklopädie. Kilcher unterscheidet dabei für die Neuzeit drei enzyklopädische Schreibparadigmen: Litteratur, Alphabet, Textur. Litteratur ist die poiesis vor der goethezeitlichen Reduktion auf die "schöne Literatur", Literatur also auch als eine schriftliche Praxis des Wissens, die Formen und Funktionen der Enzyklopädie annehmen kann. Die Alphabetisierung des Wissens im 18. Jahrhundert machte dann aus Systemen enzyklopädische Wörterbücher und setzte so neue ästhetische Möglichkeiten frei. Im Schreibparadigma des Alphabets ist Literatur mithin nicht nur Medium, sondern auch Form der Enzyklopädie. Das Paradigma Textur, das jüngste und komplexeste Modell, bezeichnet eine enzyklopädisierte Literatur jenseits des Werkbegriffs und zugleich die literarisierte Enzyklopädie jenseits von systematischer oder alphabetischer Ordnung. Was die Enzyklopädie der Romantik in einem fragmentarischen Universalismus entwickelte, radikalisieren moderne Romanformen ebenso wie enzyklopädische Netzwerke im Medium der Bits und Bytes.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2004Das Ding mit der Ordnung
Sammler: Andreas B. Kilcher blickt auf die Enzyklopädie zurück
Unser sich rapide vermehrendes Wissen findet nur in immer mehr zerbröselnden Bruchstücken überhaupt noch den Weg in die Lexika. Die Enzyklopädie ist eine sterbende Gattung. Das beste Anzeichen dafür ist, daß sie in den letzten Jahren zum beliebten Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung geworden ist. Noch einmal, gewissermaßen schon in der Rückschau, wird versucht, ihr historisches Terrain abzustecken.
In seiner 2001 erschienenen, gründlichen Studie "Encyclopaedic Visions. Scientific Dictionaries and Enlightenment Culture" etwa hatte der australischen Historiker Richard Yeo die Genese der verschiedenen enzyklopädischen Ordnungssysteme - vor allem bei Ephraim Chambers und John Locke - detailliert nachgezeichnet. Leider blieb Yeos Erkundung der Enzyklopädie-Geschichte fast völlig auf das frühe 18. Jahrhundert begrenzt und hier wiederum ausschließlich auf die Gattung des alphabetisch angelegten Wörterbuchs. So blieb die Darstellung der zentralen enzyklopädischen Debatte, nämlich wie die Lesbarkeit der Welt in eine lesbare Enzyklopädie zu übersetzen ist, eigentümlich verkürzt.
Um so mehr ist daher die gerade erschienene Habilitationsschrift des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Andreas B. Kilcher zu begrüßen. Denn Kilcher, der sich bislang insbesondere als Experte für literarische Kabbala und für deutsch-jüdische Literatur ausgewiesen hatte, versteht den Begriff "Enzyklopädik", wie bereits der Untertitel ankündigt, in einem sehr viel weiter gefaßten Sinn. Sein Ziel ist nicht, eine weitere Gattungsgeschichte der Enzyklopädie zu schreiben. Der hohe Vorzug seiner Studie ist es vielmehr, grundsätzlich jede Form von Literatur in den Blick zu nehmen, die im Dienst einer Vermessung des Wissens steht.
Kilchers Verfahren ist selbst enzyklopädisch: Die kaum auszählbare Fülle seiner exemplarischen Analysen reicht vom Lehrgedicht des Lukrez bis zum Enzyklopädisten-Roman Hubert Fichtes. Weniger wäre hier jedoch gewiß mehr gewesen, denn der besondere Wert von Kilchers Darstellung liegt weniger in der quantitativen Erhebung literarischer Aufschreibverfahren, sondern vielmehr in der präzisen systematischen Reduktion der Gesamtheit enzyklopädischen Schreibens auf drei einfache Grundformen. In Anlehnung an den alten litteratura-Begriff heißt die erste dieser Kategorien "Litteratur". Gemeint sind damit etwa das Lehrgedicht, der enzyklopädische Roman oder auch die enzyklopädische Satire; kurz: all jene Formen literarischer Texte, deren Erzählung immer auch ein Bericht von der Ordnung der Dinge sein soll. Wird aber Naturkunde zu einer Sache der Dichtung, wie etwa in Lukrez' "De rerum natura", so verschwimmen die scheinbar so streng gezogenen Grenzen zwischen Wissen und Dichtung: "poiesis" ist damit immer auch schon "mathesis".
Die Auflösung dieser Unterscheidung wird in der zweiten, mit "Alphabet" überschriebenen Kategorie von der Gegenseite her betrachtet. Denn insofern jedes Wörterbuch und jedes Konversationslexikon selbst ein Text ist, muß auch die Enzyklopädie als ein ästhetisches Phänomen beschrieben werden. "mathesis" wird durch "poiesis" eingeholt. Daß diese enzyklopädischen Aufschreibesysteme jedoch fortwährend die strenge Linearität des Alphabets unterlaufen und in weit komplexere Strukturen überführen, wird anhand einer dritten, als "Textur" bezeichneten Kategorie demonstriert. Neuerdings mögen solche "Texturen" Netzwerk, Rhizom oder Hypertext heißen; tatsächlich kündigen sich in diesen inzwischen allgegenwärtigen Metaphern jedoch Formen einer offenen, hierarchie- und zentrumslosen Wissensordnung an, die sich auf eine reiche und erstaunlich vielfältige Tradition barocker sowie romantischer Enzyklopädistik berufen können.
Dennoch mag heute das Ende der klassischen, zwei Dutzend Bände füllenden Universalenzyklopädie gekommen sein. Doch wäre es wohl allzu voreilig, damit zugleich an das Ende der Enzyklopädik überhaupt zu glauben, wandert diese doch gegenwärtig in die noch wenig erkundeten Welten des Cyberspace ab.
STEFFEN SIEGEL
Andreas B. Kilcher: "mathesis und poiesis". Die Enzyklopädik der Literatur 1600-2000. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 536 S., geb., 40,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sammler: Andreas B. Kilcher blickt auf die Enzyklopädie zurück
Unser sich rapide vermehrendes Wissen findet nur in immer mehr zerbröselnden Bruchstücken überhaupt noch den Weg in die Lexika. Die Enzyklopädie ist eine sterbende Gattung. Das beste Anzeichen dafür ist, daß sie in den letzten Jahren zum beliebten Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung geworden ist. Noch einmal, gewissermaßen schon in der Rückschau, wird versucht, ihr historisches Terrain abzustecken.
In seiner 2001 erschienenen, gründlichen Studie "Encyclopaedic Visions. Scientific Dictionaries and Enlightenment Culture" etwa hatte der australischen Historiker Richard Yeo die Genese der verschiedenen enzyklopädischen Ordnungssysteme - vor allem bei Ephraim Chambers und John Locke - detailliert nachgezeichnet. Leider blieb Yeos Erkundung der Enzyklopädie-Geschichte fast völlig auf das frühe 18. Jahrhundert begrenzt und hier wiederum ausschließlich auf die Gattung des alphabetisch angelegten Wörterbuchs. So blieb die Darstellung der zentralen enzyklopädischen Debatte, nämlich wie die Lesbarkeit der Welt in eine lesbare Enzyklopädie zu übersetzen ist, eigentümlich verkürzt.
Um so mehr ist daher die gerade erschienene Habilitationsschrift des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Andreas B. Kilcher zu begrüßen. Denn Kilcher, der sich bislang insbesondere als Experte für literarische Kabbala und für deutsch-jüdische Literatur ausgewiesen hatte, versteht den Begriff "Enzyklopädik", wie bereits der Untertitel ankündigt, in einem sehr viel weiter gefaßten Sinn. Sein Ziel ist nicht, eine weitere Gattungsgeschichte der Enzyklopädie zu schreiben. Der hohe Vorzug seiner Studie ist es vielmehr, grundsätzlich jede Form von Literatur in den Blick zu nehmen, die im Dienst einer Vermessung des Wissens steht.
Kilchers Verfahren ist selbst enzyklopädisch: Die kaum auszählbare Fülle seiner exemplarischen Analysen reicht vom Lehrgedicht des Lukrez bis zum Enzyklopädisten-Roman Hubert Fichtes. Weniger wäre hier jedoch gewiß mehr gewesen, denn der besondere Wert von Kilchers Darstellung liegt weniger in der quantitativen Erhebung literarischer Aufschreibverfahren, sondern vielmehr in der präzisen systematischen Reduktion der Gesamtheit enzyklopädischen Schreibens auf drei einfache Grundformen. In Anlehnung an den alten litteratura-Begriff heißt die erste dieser Kategorien "Litteratur". Gemeint sind damit etwa das Lehrgedicht, der enzyklopädische Roman oder auch die enzyklopädische Satire; kurz: all jene Formen literarischer Texte, deren Erzählung immer auch ein Bericht von der Ordnung der Dinge sein soll. Wird aber Naturkunde zu einer Sache der Dichtung, wie etwa in Lukrez' "De rerum natura", so verschwimmen die scheinbar so streng gezogenen Grenzen zwischen Wissen und Dichtung: "poiesis" ist damit immer auch schon "mathesis".
Die Auflösung dieser Unterscheidung wird in der zweiten, mit "Alphabet" überschriebenen Kategorie von der Gegenseite her betrachtet. Denn insofern jedes Wörterbuch und jedes Konversationslexikon selbst ein Text ist, muß auch die Enzyklopädie als ein ästhetisches Phänomen beschrieben werden. "mathesis" wird durch "poiesis" eingeholt. Daß diese enzyklopädischen Aufschreibesysteme jedoch fortwährend die strenge Linearität des Alphabets unterlaufen und in weit komplexere Strukturen überführen, wird anhand einer dritten, als "Textur" bezeichneten Kategorie demonstriert. Neuerdings mögen solche "Texturen" Netzwerk, Rhizom oder Hypertext heißen; tatsächlich kündigen sich in diesen inzwischen allgegenwärtigen Metaphern jedoch Formen einer offenen, hierarchie- und zentrumslosen Wissensordnung an, die sich auf eine reiche und erstaunlich vielfältige Tradition barocker sowie romantischer Enzyklopädistik berufen können.
Dennoch mag heute das Ende der klassischen, zwei Dutzend Bände füllenden Universalenzyklopädie gekommen sein. Doch wäre es wohl allzu voreilig, damit zugleich an das Ende der Enzyklopädik überhaupt zu glauben, wandert diese doch gegenwärtig in die noch wenig erkundeten Welten des Cyberspace ab.
STEFFEN SIEGEL
Andreas B. Kilcher: "mathesis und poiesis". Die Enzyklopädik der Literatur 1600-2000. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 536 S., geb., 40,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sehr beeindruckt zeigt sich Cornelia Vismann von Andreas B. Kilchers umfassender Studie, die sich mit der enzyklopädischen Literatur von 1600 bis 2000 befasst. Kilcher folgend beschreibt sie Eigenschaften von enzyklopädischer Literatur wie Vollständigkeit und Nichtlinearität, Prinzipien, die Kilcher von seinem Helden Jean Paul aufgenommen habe. Wie Vismann darlegt, setzten poetische Enzyklopädien von der Romantik bis in die Moderne die Vernetzung von allem mit allem gegen die prinzipielle Durchdringung des Stoffes, assoziative Verbindungen gegen logische Verknüpfung. Mittels Querverweisen wurde unsystematisch Wissen zusammengestellt, das man gewöhnlich nicht zusammendachte. Kilchers Arbeit weist in den Augen der Rezensentin selbst enzyklopädische Züge auf. Was, umgekehrt und etwas kritischer formuliert, auch heißt, dass Kilcher bei seinen Gängen durch das Labyrinth von Literatur und Wissen "zwangsläufig" "den Faden" verliert. Das findet Vismann nicht allerdings nicht weiter schlimm. Sie empfiehlt, das Werk wie eine poetische Enzyklopädie zu lesen: beim Hin- und Herblättern halte es nämlich die "größten Überraschungen" bereit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH