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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2010

Andenken an einen Engel

Schon immer fiel es der Jugend schwer, erwachsen zu werden. Aber nur selten wird davon so lebensnah erzählt wie in Victor Lodatos Romandebüt "Mathilda Savitch".

Wenn man Theaterstücke schreibt (und das hat Victor Lodato bis jetzt hauptsächlich getan), muss man sich zwangsläufig darauf einlassen, dass das Skript von den jeweiligen Schauspielern in individueller Weise mit Leben gefüllt wird. Ein gewisser Kontrollverlust zwar, aber wenn das Casting stimmt, auch ein Vorteil, denn nur so entsteht charakterliche Vielfalt. Wie gut einem männlichen Stückeschreiber seine großen Frauenrollen auch gelingen mögen - er identifiziert sich doch nur selten über alle Akte hinweg mit ihnen, geschweige denn, dass er diese Parts selbst spielen könnte.

Umso erstaunlicher ist die Perspektive, die Victor Lodato für seinen ersten Roman gewählt hat: Ich-Erzählerin und Titelheldin Mathilda Savitch, auch charakterlich eine Mischung aus ungezähmtem Tier (savage) und kleiner Hexe (witch), ist etwa dreizehn Jahre alt. Pubertätsgeschüttelt hat sie schwer damit zu tun, das Verhältnis zu ihren Eltern und ihrer verstorbenen Schwester zu klären und nebenbei eine sexuelle Identität zu entwickeln. Nicht selten wird ein Schriftsteller für ein derart gewagtes Unterfangen des literarischen Bauchredens angeklagt - aber wie zum Beispiel Jonathan Coes Frauenroman "Der Regen bevor er fällt" erst kürzlich gezeigt hat: Es kann funktionieren.

Mathilda Savitch ist klug. Manchmal ist sie zwar etwas theatralisch, zum Beispiel, wenn sie "wegen dieser Geschichte über den Sänger, der alles verdirbt bei seinem Aufstieg aus der Unterwelt", ihren Vater stehenlässt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vor allem aber ist sie seltsam weise - ob sie sich nun fragt, wie es ihrem "Pa" wohl all die Jahre gegangen sein muss, "in einem Haus voller Mädchen", oder auch, "ob die Terroristen nicht vielleicht doch traurig sind, weil wir ihnen etwas angetan haben".

Obwohl Mathilda ihre eigene Cleverness höher einschätzt als die blonde Blauäugigkeit ihrer Freundin Anna, weiß sie sehr wohl um deren Anziehungskraft: Als sie Anna und Kevin zum heimlichen Übernachten in ihren Keller einlädt und die beiden sich küssen, weiß sie gar nicht recht, auf wen sie eigentlich eifersüchtig ist. Und anders als ihre Altersgenossen, aber auch ihre Eltern ist Mathilda intelligent genug, ihren Emotionshaushalt ernst zu nehmen.

Mathilda erkennt, dass die Mütter der gefallenen Iraker im Fernsehen ganz anders trauern als ihre Eltern. Kaum ein Jahr ist es her, dass Helene, Mathildas schöne und ein bisschen geheimnisvolle ältere Schwester, von einem Zug überfahren wurde - und was planen Ma und Pa für den Vorabend ihres Todestags? Sie wollen ins Theater, und zwar ohne Mathilda. Schließlich darf sie doch mit, und diesmal äußert sich ihr verzweifeltes Einfordern der Trauerarbeit darin, dass sie sich mehrfach quer über die Theatersitze erbricht. Außerdem zwingt sie ihrer Mutter das Andenken an Helene auf, indem sie deren Kleider trägt, ihre Stimme vom Tonband abspielt oder gar in ihrem Namen E-Mails und Postkarten verschickt. Als ihre Mutter endlich weint, sind ihre Tränen für Mathilda nichts weniger als "ein paar Diamanten": "Jemand sollte sie einpacken. Sie in ein kleines blaues Kästchen tun, wie das, in dem ihr Verlobungsring lag."

Trotz seiner jugendlichen Protagonistin ist "Mathilda Savitch" kein Kinderbuch - wiewohl Klappentext und Umschlaggestaltung einige Anleihen bei Grusel- und Abenteuerromanen versuchen. Denn Mathilda selbst blickt auf ihre Kindheit zurück wie auf einen durch den Tod Helenes allzu früh verlorengegangenen Schatz - und sogar der Leser denkt während der Geschichte immer wieder mit Wehmut an manches zu schnell verblasste Jugenderlebnis und ist dann dankbar dafür, die damit zusammenhängenden Ängste inzwischen überwunden zu haben: nächtliches Zugfahren, im Dunkeln in einer fremden Stadt unterwegs zu sein, die Sorge, Vater oder Mutter könnten nicht mehr zu einem zurückkehren.

Vor allem aber geht es in Victor Lodatos Erstlingsroman um den Tod. Sterben macht den Lebenden ziemlich viel Arbeit. Es kostet auch Geld, weshalb viele alte Menschen für ihre Bestattung eine Versicherung abschließen und gern vorab ein Testament aufsetzen, um den Hinterbliebenen die Arbeit zu erleichtern. Was aber, wenn ein junger Mensch wie die sechzehnjährige Helene stirbt, die gerade damit angefangen hat, unter anderem auch per E-Mail, Freundschaften und Beziehungen zu pflegen, von denen ihre Eltern gar nichts mehr wissen? Diese passwortgeschützten Kontakte werden von keiner Traueranzeige erreicht, und so lebt die tote Helene weiter, auch wenn sich ihre E-Mail-Korrespondenten inzwischen vielleicht über ihre Schreibfaulheit ärgern. Irgendwann gelingt es Mathilda, die anders als alle anderen immer noch einen Mord vermutet, im Zuge ihrer Nachforschungen Helenes Passwort zu knacken. Doch auch das bringt sie nicht weiter. Sosehr sie sich über ihre Eltern ärgert, die immer nur vergessen wollen - irgendwann versteht sie plötzlich, warum man ein sehr verletzliches dreizehnjähriges Mädchen wie sie vor allzu großem Kummer bewahren möchte.

Die Themen, deren Lodato sich in seinem Debütroman in einfühlsamer Weise annimmt, sind universal. Es ist fraglich, ob Mathildas Situation, wie sie auf den letzten Seiten mutmaßt, wirklich eine andere ist als die von Generationen Kinder und Pubertierender vor ihr - nur weil sie so viele Terrorattentate im Fernsehen gesehen hat. Amerikaner betrachten den 11. September gern als Zeitenwende, doch zum Glück darf man bezweifeln, dass die Irrungen und Wirrungen amerikanischer Kindheit und Jugend, wie auch die Trauer um den nicht terroristisch bedingten Tod einer Angehörigen, davon maßgeblich beeinflusst werden. Schon immer sind Menschen mühsam erwachsen geworden und dabei manchmal viel zu früh gestorben - doch nur selten wurde davon so lebensnah erzählt wie in und von "Mathilda Savitch".

MARGRET FETZER

Victor Lodato: "Mathilda Savitch". Roman. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Verlag C. H. Beck, München 2009. 299 S., geb., 17,90 [Euro].

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