Karsten Matta, vierzig Jahre alt und Familienvater, bereist seit fünfzehn Jahren die Welt für eine internationale Consulting-Firma. Bis er eines Tages im Warteraum eines Konsulats mit seinem bisherigen Leben bricht. Das Buch erzählt die Geschichte einer Liebe, die auch Selbstzerstörung ist, und einer Flucht, in die Matta alle hineinzieht, die ihn lieben. "Matta verlässt seine Kinder" ist die Geschichte eines verzweifelten Amoklaufs durch ein nur scheinbar friedliches Land.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2004Nach der Krise ist vor der Krise
Flucht ins Unbekannte: Gregor Hens dreht am Weltempfänger
Irgendwann muß jeder schon einmal vom Aufbruch in ein anderes Leben geträumt haben: einfach aufstehen, rausgehen, den Job kündigen und alles neu beginnen. Die Wunschvorstellung, seine soziale Existenz so vollständig im Griff zu haben, daß man sie jederzeit ganz neu erfinden kann, ist offenbar ein Gründungsmythos unserer Lebensform, der selbst den Niedergang des bürgerlichen Zeitalters, dem er entstammt, noch überdauert. Womöglich hat er sogar in Zeiten virtueller Wirklichkeiten noch an Kraft gewonnen. Wer morgens jagt und mittags tischlert, mag sich abends wohl an den PC setzen und verrichtet dennoch alle Arbeit unentfremdet. Was macht dagegen ein "post-conflict analyst"?
Das ist der Beruf von Karsten Matta, Protagonist in Gregor Hens' jüngster Erzählung. Er jettet durch die Welt, besucht Krisenregionen wie Bosnien, Ruanda oder Pakistan, beobachtet vor Ort den mühseligen Aufbau zivilgesellschaftlicher Ordnungsformen und verfaßt darüber Gutachten für internationale Investoren. Genauer gesagt, dies alles tat er jahrelang, bis er eines Tages hinschmeißt. Mit dieser großen Szene, gewiß einer der stärksten des Buchs, setzt die Erzählung ein: Im überheizten Warteraum einer heruntergekommenen Botschaft, wo nicht einmal mehr der Minutenzeiger richtig tickt, wartet Matta wie so oft auf irgendein Visum und muß sich wie so oft vom arroganten Stumpfsinn subalterner Bürokraten schikanieren lassen. Da platzt der Knoten, und alles geht ganz schnell. Ein Wutausbruch, eine E-Mail an den Chef in London, ein flüchtiger Abschiedsgruß an die Familie. Rückblickend erklärt er: "Ich wollte nichts sein, keine Rolle haben, keinen Beruf. Ohne Verantwortung für irgend jemanden." Ist so etwas nun wahres Lebensglück, schierer Hochmut oder wüste Spielerei?
Es zeichnet den Text aus, daß er die Antworten auf solche Fragen, mit denen er uns konfrontiert, lange in der Schwebe hält. Wie schon im Titel seines Debütromans "Himmelssturz" vor zwei Jahren angedeutet, erkundet Hens auch diesmal wieder, ob ein Zusammenbrechen des Vertrauten für die Betroffenen Befreiung oder Auslieferung bedeutet. Matta muß jedenfalls erfahren, sobald er Rolle und Beruf verläßt, wie rasant die neu gewonnene Freiheit seine gesamte Existenz ins Schlingern bringt. Nach seinem Aufbruch aus dem Alltag entwickelt die Erzählung sich zu einem knappen Roadmovie, bei dem die Flucht ins Unbekannte letztlich in einer Katastrophe endet. Was genau sich da ereignet, bleibt allerdings Vermutung. Denn durchweg müssen wir als Leser das Geschehen aus Gedankenprotokollen und Berichten, die sich teils überschneiden, teils durchkreuzen, selbst ermitteln. Aber zunehmend wird zur Gewißheit, was man seit dem Anfang ahnt: Die mutwillige Auflösung aller sozialen Bindungen ist weniger Wunschtraum als purer Wahn.
Dies alles teilt sich uns in einem dichten Geflecht aus Stimmen, Erinnerungsfetzen und Beobachtungen mit. Immer wieder wechselt die Erzählung unversehens die Perspektive. Was wir lesen, changiert zwischen Innensicht und Außenblicken, gleitet zwischen den Figuren, ihrer Wahrnehmung und Vorstellung, flackert zwischen jetzt und damals und läßt übergangslos auch mal Schreckensmeldungen von entfernten Krisenzonen einbrechen. Wie bei einem alten Radio, das die Sender beim Empfang nicht richtig trennt, überlagern sich hier ständig Übertragungen aus einer unsicheren Welt. Keine Frage, dieser Autor ist ein Könner und läuft zumal auf engbegrenztem Raum - die Handlung der Erzählung umfaßt lediglich zwei Tage - zu großer Form auf. Besonders eindringlich gelingen ihm dabei solche Szenen wie Mattas Warterei im Vorzimmer, sein Besuch bei einer Straßenhure oder die Routine seiner üblichen Ankunft zu Hause, in denen eigentlich gar nichts geschieht.
Dagegen wirken manche ereignisstarken Passagen, wie Mattas atemloser Sex mit seiner schwedischen Geliebten oder das tödliche Finale, eher angestrengt - ganz so, als habe der Erzähler sein Können hier erst recht beweisen wollen. Auch durch die Reihe literaturhistorischer Zaunpfähle, die Hens offenbar einschlagen zu müssen meint, wird die Erzählung weniger gesichert als in ihrem Sog gebremst. Ob sich nun "Malte", der Rufname von Mattas Sohn, von Rilke oder doch eher von Malzbier herleitet, mag man als kleine Diskussion am Rande lustig finden. Die weiteren Verbeugungen vor dem Autor des "Malte Laurids Brigge" aber sind ebenso bemüht und letzthin überflüssig wie die erstaunlich plumpe Abrechnung mit Rainald Goetz.
Am spannendsten und zugleich unheimlichsten wird der Text vielmehr dann, wenn er mit bemerkenswertem Spürsinn registriert, wie aus dem Banalen täglich das Brutale hervorbrechen kann. Auf einer Hochzeitsgesellschaft beispielsweise, in die Matta zufällig gerät, wird einem lokalen Brauch zufolge ein junges Mädchen zur sogenannten "Hundsbraut" gekürt und entsprechend ausstaffiert: "Jetzt wird die Braut geschmückt unter lautem Gejohle, ein Tischtuch dient als Schleier, sie legen ihr eine Kette aus Bierdeckeln um den Hals und jemand kniet sich hin und hebt ihren Fuß hoch und schiebt ihr ein Gummiband bis hinauf übers Knie und an dem Gummiband unter dem Rock befestigen sie Blumen, die sie aus den Tischgedecken ziehen, und geblümte Servietten."
Während das Spiel sich schnell zu einem irren Spuk steigert, zeigt es im Zerrspiegel, wie brüchig jene bürgerliche Welt, die mit dem Eheschluß gefeiert wird, doch ist, kaum daß ihre Versatzstücke in Unordnung geraten. Die eigentlichen Konflikte stehen dem "post-conflict analyst" jedenfalls erst noch bevor, als er aus seiner Rolle ausgebrochen ist. Daß wir von ihnen kaum mehr als vage Ahnungen gewinnen, macht sicher die Begrenzung, aber auch die Stärke dieser Erzählung aus.
TOBIAS DÖRING
Gregor Hens: "Matta verläßt seine Kinder". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 141 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Flucht ins Unbekannte: Gregor Hens dreht am Weltempfänger
Irgendwann muß jeder schon einmal vom Aufbruch in ein anderes Leben geträumt haben: einfach aufstehen, rausgehen, den Job kündigen und alles neu beginnen. Die Wunschvorstellung, seine soziale Existenz so vollständig im Griff zu haben, daß man sie jederzeit ganz neu erfinden kann, ist offenbar ein Gründungsmythos unserer Lebensform, der selbst den Niedergang des bürgerlichen Zeitalters, dem er entstammt, noch überdauert. Womöglich hat er sogar in Zeiten virtueller Wirklichkeiten noch an Kraft gewonnen. Wer morgens jagt und mittags tischlert, mag sich abends wohl an den PC setzen und verrichtet dennoch alle Arbeit unentfremdet. Was macht dagegen ein "post-conflict analyst"?
Das ist der Beruf von Karsten Matta, Protagonist in Gregor Hens' jüngster Erzählung. Er jettet durch die Welt, besucht Krisenregionen wie Bosnien, Ruanda oder Pakistan, beobachtet vor Ort den mühseligen Aufbau zivilgesellschaftlicher Ordnungsformen und verfaßt darüber Gutachten für internationale Investoren. Genauer gesagt, dies alles tat er jahrelang, bis er eines Tages hinschmeißt. Mit dieser großen Szene, gewiß einer der stärksten des Buchs, setzt die Erzählung ein: Im überheizten Warteraum einer heruntergekommenen Botschaft, wo nicht einmal mehr der Minutenzeiger richtig tickt, wartet Matta wie so oft auf irgendein Visum und muß sich wie so oft vom arroganten Stumpfsinn subalterner Bürokraten schikanieren lassen. Da platzt der Knoten, und alles geht ganz schnell. Ein Wutausbruch, eine E-Mail an den Chef in London, ein flüchtiger Abschiedsgruß an die Familie. Rückblickend erklärt er: "Ich wollte nichts sein, keine Rolle haben, keinen Beruf. Ohne Verantwortung für irgend jemanden." Ist so etwas nun wahres Lebensglück, schierer Hochmut oder wüste Spielerei?
Es zeichnet den Text aus, daß er die Antworten auf solche Fragen, mit denen er uns konfrontiert, lange in der Schwebe hält. Wie schon im Titel seines Debütromans "Himmelssturz" vor zwei Jahren angedeutet, erkundet Hens auch diesmal wieder, ob ein Zusammenbrechen des Vertrauten für die Betroffenen Befreiung oder Auslieferung bedeutet. Matta muß jedenfalls erfahren, sobald er Rolle und Beruf verläßt, wie rasant die neu gewonnene Freiheit seine gesamte Existenz ins Schlingern bringt. Nach seinem Aufbruch aus dem Alltag entwickelt die Erzählung sich zu einem knappen Roadmovie, bei dem die Flucht ins Unbekannte letztlich in einer Katastrophe endet. Was genau sich da ereignet, bleibt allerdings Vermutung. Denn durchweg müssen wir als Leser das Geschehen aus Gedankenprotokollen und Berichten, die sich teils überschneiden, teils durchkreuzen, selbst ermitteln. Aber zunehmend wird zur Gewißheit, was man seit dem Anfang ahnt: Die mutwillige Auflösung aller sozialen Bindungen ist weniger Wunschtraum als purer Wahn.
Dies alles teilt sich uns in einem dichten Geflecht aus Stimmen, Erinnerungsfetzen und Beobachtungen mit. Immer wieder wechselt die Erzählung unversehens die Perspektive. Was wir lesen, changiert zwischen Innensicht und Außenblicken, gleitet zwischen den Figuren, ihrer Wahrnehmung und Vorstellung, flackert zwischen jetzt und damals und läßt übergangslos auch mal Schreckensmeldungen von entfernten Krisenzonen einbrechen. Wie bei einem alten Radio, das die Sender beim Empfang nicht richtig trennt, überlagern sich hier ständig Übertragungen aus einer unsicheren Welt. Keine Frage, dieser Autor ist ein Könner und läuft zumal auf engbegrenztem Raum - die Handlung der Erzählung umfaßt lediglich zwei Tage - zu großer Form auf. Besonders eindringlich gelingen ihm dabei solche Szenen wie Mattas Warterei im Vorzimmer, sein Besuch bei einer Straßenhure oder die Routine seiner üblichen Ankunft zu Hause, in denen eigentlich gar nichts geschieht.
Dagegen wirken manche ereignisstarken Passagen, wie Mattas atemloser Sex mit seiner schwedischen Geliebten oder das tödliche Finale, eher angestrengt - ganz so, als habe der Erzähler sein Können hier erst recht beweisen wollen. Auch durch die Reihe literaturhistorischer Zaunpfähle, die Hens offenbar einschlagen zu müssen meint, wird die Erzählung weniger gesichert als in ihrem Sog gebremst. Ob sich nun "Malte", der Rufname von Mattas Sohn, von Rilke oder doch eher von Malzbier herleitet, mag man als kleine Diskussion am Rande lustig finden. Die weiteren Verbeugungen vor dem Autor des "Malte Laurids Brigge" aber sind ebenso bemüht und letzthin überflüssig wie die erstaunlich plumpe Abrechnung mit Rainald Goetz.
Am spannendsten und zugleich unheimlichsten wird der Text vielmehr dann, wenn er mit bemerkenswertem Spürsinn registriert, wie aus dem Banalen täglich das Brutale hervorbrechen kann. Auf einer Hochzeitsgesellschaft beispielsweise, in die Matta zufällig gerät, wird einem lokalen Brauch zufolge ein junges Mädchen zur sogenannten "Hundsbraut" gekürt und entsprechend ausstaffiert: "Jetzt wird die Braut geschmückt unter lautem Gejohle, ein Tischtuch dient als Schleier, sie legen ihr eine Kette aus Bierdeckeln um den Hals und jemand kniet sich hin und hebt ihren Fuß hoch und schiebt ihr ein Gummiband bis hinauf übers Knie und an dem Gummiband unter dem Rock befestigen sie Blumen, die sie aus den Tischgedecken ziehen, und geblümte Servietten."
Während das Spiel sich schnell zu einem irren Spuk steigert, zeigt es im Zerrspiegel, wie brüchig jene bürgerliche Welt, die mit dem Eheschluß gefeiert wird, doch ist, kaum daß ihre Versatzstücke in Unordnung geraten. Die eigentlichen Konflikte stehen dem "post-conflict analyst" jedenfalls erst noch bevor, als er aus seiner Rolle ausgebrochen ist. Daß wir von ihnen kaum mehr als vage Ahnungen gewinnen, macht sicher die Begrenzung, aber auch die Stärke dieser Erzählung aus.
TOBIAS DÖRING
Gregor Hens: "Matta verläßt seine Kinder". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 141 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Döring hat einiges an dieser Erzählung auszusetzen. Seiner Beschreibung nach handelt es sich um ein knappes Roadmovie, bei dem die Flucht des Helden Matta letztlich in einer Katastrophe endet. Was sich jedoch genau ereignet, kann der Rezensent nur vermuten. Denn er musste sich das Geschehen durchweg aus sich teilweise widersprechenden "Gedankenprotokollen" selbst zusammensetzen. Autor Gregor Hens schätzt der Rezensent zwar als Könner ein, der sein Handwerk beherrscht. Doch Teile des Buches machen auf ihn einen eher angestrengten Eindruck: atemlose Sexszenen des Helden mit seiner schwedischen Geliebten beispielsweise, überflüssige Verbeugungen vor Rilke und die "erstaunlich plumpe Abrechnung mit Rainald Goetz". Bermerkenswert findet der Rezensent jedoch, wie Hens erspürt, wann aus dem Banalen das Brutale hervorbrechen kann. An diesen Stellen fand Döring den Text am unheimlichsten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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