Auf einem Floß in einer Bucht des Sees steht eine Holzkonstruktion, der Nachbau eines Vogelfangturms, wie er noch heute in der italienischen Schweiz anzutreffen ist. Die Erzählerin zieht als Kustodin in den klösterlich eingerichteten Turm. Für sie bietet er neben dem Weitwinkelblick auf die Stadt einen Beobachtungsposten, von dem sie zurück auf das sieht, was sie hinter sich gelassen hat. Täglich wird ihr eine Portion Polenta vor die Tür gestellt. Und sie bleibt nicht ganz allein imTurm. Der Zutritt für Besucher wird zwar durch strenge Gesetze geregelt, doch die Kustodin sabotiert sie und läßt immer dieselbe Person im Turm nächtigen: eine Frau rätselhafter Herkunft. Die Migration der Vögel, ihre Gefangenschaft und Vernichtung werden überblendet vom Schicksal dieser Frau. Nach 30 Turmtagen und -nächten muß die Erzählerin in der Frühe, zur Stunde der Matutin, die Stadt verlassen. Gertrud Leutenegger schreibt mit großer Sensibilität für Schwebendes, für das, was sich jenseits der Handlung ereignet. Sie findet berückende Bilder für das kontemplative und zugleich lebenszugewandte Exerzitium ihrer Figur und versetzt uns Leser mit in die meditativ-sinnliche Atmosphäre des Vogelfangturms.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2009Im Schatten der Vogelfänger
Gertrud Leuteneggers neuer Roman "Matutin" spielt auf einem Floß am Luganer See, das die Perspektiven der Landbewohner gehörig ins Wanken bringt.
Lange schon hat es Gertrud Leutenegger das Flüssige und Wogende angetan. 1988 erschien ihr Prosaband "Meduse", an dessen Beginn die Beschreibung einer Qualle steht; die sechs Jahre später erschienene Erzählung "Acheron" spielt auf einer Fähre, unterwegs zu einer Pazifikinsel. Und immer wieder lässt Gertrud Leutenegger auch die Perspektive ihrer Erzählerinnen ins Schwanken geraten, entwirft traumhafte Welten und surreale Szenarien.
In ihrem jüngsten Roman scheint es hingegen zunächst ganz handfest-realistisch zuzugehen, lassen sich die ersten Kapitel doch am ehesten als Parodie auf die gegenwärtige Kunstszene lesen, zu deren Zauberworten die abgegriffene Vokabel "Projekt" gehört. Nach langen Jahren kehrt die Erzählerin in jene Stadt am See zurück, in der sie früher gelebt hat. Dass es sich um Lugano handeln könnte, mag für Kenner der Schweiz von besonderem Reiz sein, für die Romanhandlung selbst bleibt es ohne Belang. Entscheidender ist eben das "Projekt", das die Stadtverwaltung ersonnen hat und dessen Skurrilitäten nicht hinter den tatsächlichen Anstrengungen heutiger Kommunen zurückbleiben, überregionale Aufmerksamkeit zu erlangen.
Am Seeufer vertäut liegt nämlich ein Floß, das die hölzerne Nachbildung eines jener dreistöckigen Türme trägt, wie sie bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein südlich der Alpen zum Vogelfang genutzt wurden. Da aber bloßes Handwerk allein kein künstlerisches Projekt ausmacht, wird noch ein Kustos für diesen Turm gesucht. Die Regeln sind streng, doch davon lässt sich die Erzählerin nicht abschrecken. Schnell bezieht sie das karg ausgestattete schwimmende Bauwerk, das sie einen Monat lang, von Mitte September bis Mitte Oktober, nicht verlassen wird. Die dreißig Kapitel des schmalen Buches schildern jeden einzelnen dieser Turmtage - auch eine Form von "writer in residence".
Offiziellen Besuch erhält die neue Kustodin allein von dem stets etwas unbeholfen wirkenden Sekretär der Stadtverwaltung, der sie mit frischer Bettwäsche, einer täglichen Portion lauwarmer Polenta und mitunter einem Espresso versorgt. Die Monotonie des täglichen Maisbreis lässt bald verstehen, was für eine Delikatesse es für die Landbevölkerung gewesen sein muss, sich das Essen ab und zu mit einem kross gebratenen Singvögelchen zu verfeinern. Schnell kennt sich die Erzählerin aus in den Grausamkeiten des Vogelfangs, kann detailliert Auskunft geben über Leimruten, Fangnetze und Lockvögel, mit denen Scharen von Wandervögeln auf ihrem Zug in den Süden in die Kochtöpfe der hungrigen Bauern gelockt werden sollten. Nur dass sie als Kustodin des Turms selbst als Lockvogel für neugierige Touristen dienen soll, will sie zunächst nicht wahrhaben.
Das rigide Reglement der Stadtverwaltung sieht vor, dass sie Nacht für Nacht einen jeweils anderen fremden Besucher in den Turm aufnehmen soll, um ihm dann im Morgengrauen die grausigen Details des organisierten Vogelmords zu erklären. Für die Sicherheit der Kustodin sei gesorgt, verrät der Sekretär sibyllinisch, schließlich werde der Turm ständig überwacht. Außerdem stehen die beiden kargen klösterlichen Betten in getrennten Stockwerken - große Leidenschaften werden im Schatten der Vogelfängerei offenbar nicht erwartet. Ein solches Szenario ließe sich leicht zu einer Satire auf den Erlebnistourismus unserer Tage ausweiten - aber das entspricht dann doch nicht dem erzählerischen Programm Gertrud Leuteneggers, die ironische Töne nur verhalten anschlägt.
Stattdessen führt sie uns auch in diesem Roman tief ins Innere ihrer Protagonistin; der Turm wird zur Chiffre für die meditative Versenkung in die eigene Vergangenheit. In immer neuen Anläufen sinnt die einsame Turmbewohnerin ihrer privaten Geschichte nach, erinnert sich an Vater und Mutter, an Orte ihrer Kindheit, an eine vergangene Liebe und an all die Vögel, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben. Im elterlichen Wohnzimmer beobachtete das Kind das Sterben einer verirrten Amsel, der Vater erschien ihm an seiner Schreibmaschine wie ein emsig hackender Specht, und die Mutter konnte die Tötung von zahllosen jungen Elstern nicht verhindern. Bei so vielen Vögeln wird die Symbolik - Vogelleid spiegelt Menschenleid - schnell etwas eintönig, zumal Verweise auf die christliche Passion die allgegenwärtige Leidensthematik noch unterstreichen.
Ein weiteres Handlungselement fügt sich in das Motivgeflecht, denn gegen die strengen Regeln der Stadtverwaltung nimmt die Kustodin bald einen veritablen menschlichen Zugvogel in ihren Turm auf, eine junge, obdachlose Frau aus Südamerika, die sich offenbar illegal in der Stadt aufhält. Nacht für Nacht findet die geheimnisvolle Viktoria Unterschlupf im hölzernen Turm, eine scheue Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt sich, und Episoden über den Kondor, den stolzen Vogel der Anden, bereichern den ornithologischen Bilderbogen.
Die politische Dimension, die sich mit der Schilderung eines Migrantenlebens in der heutigen Schweiz verbindet, wird indes nicht weiter entfaltet. Gertrud Leutenegger vertraut vielmehr auch hier der Suggestionskraft ihrer Sprache und belässt es bei vagen Anspielungen, die erahnen lassen, dass Viktoria vielfache Gewalt erfahren hat, ein geschundenes Vögelchen auch sie.
Das Buch endet mit einem mehrfachen Aufbruch: Viktoria ist ins Ungewisse weitergezogen, der Kustodin aber wird ihr Posten im Turm gekündigt. Zur Zeit des liturgischen Nachtgebets, dem der Roman seinen Titel verdankt, verlässt sie ihr hölzernes Domizil: "Mit allem Verlorenen gehe ich hinein in die erwachende Stadt." Solche Entschiedenheit weckt die Hoffnung, dass die im Turm spirituell gereifte Erzählerin so schnell keinem neuen Projekt auf die Leimrute gehen wird. Der schwimmende Turm aber wird von einem Boot hinaus auf den offenen See gezogen - ein Symbol gewiss auch dies, seine Bedeutung bleibt aber wie so vieles in diesem Buch mitsamt dem Turm, nun ja - verschwommen.
SABINE DOERING.
Gertrud Leutenegger: "Matutin". Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008, 216 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gertrud Leuteneggers neuer Roman "Matutin" spielt auf einem Floß am Luganer See, das die Perspektiven der Landbewohner gehörig ins Wanken bringt.
Lange schon hat es Gertrud Leutenegger das Flüssige und Wogende angetan. 1988 erschien ihr Prosaband "Meduse", an dessen Beginn die Beschreibung einer Qualle steht; die sechs Jahre später erschienene Erzählung "Acheron" spielt auf einer Fähre, unterwegs zu einer Pazifikinsel. Und immer wieder lässt Gertrud Leutenegger auch die Perspektive ihrer Erzählerinnen ins Schwanken geraten, entwirft traumhafte Welten und surreale Szenarien.
In ihrem jüngsten Roman scheint es hingegen zunächst ganz handfest-realistisch zuzugehen, lassen sich die ersten Kapitel doch am ehesten als Parodie auf die gegenwärtige Kunstszene lesen, zu deren Zauberworten die abgegriffene Vokabel "Projekt" gehört. Nach langen Jahren kehrt die Erzählerin in jene Stadt am See zurück, in der sie früher gelebt hat. Dass es sich um Lugano handeln könnte, mag für Kenner der Schweiz von besonderem Reiz sein, für die Romanhandlung selbst bleibt es ohne Belang. Entscheidender ist eben das "Projekt", das die Stadtverwaltung ersonnen hat und dessen Skurrilitäten nicht hinter den tatsächlichen Anstrengungen heutiger Kommunen zurückbleiben, überregionale Aufmerksamkeit zu erlangen.
Am Seeufer vertäut liegt nämlich ein Floß, das die hölzerne Nachbildung eines jener dreistöckigen Türme trägt, wie sie bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein südlich der Alpen zum Vogelfang genutzt wurden. Da aber bloßes Handwerk allein kein künstlerisches Projekt ausmacht, wird noch ein Kustos für diesen Turm gesucht. Die Regeln sind streng, doch davon lässt sich die Erzählerin nicht abschrecken. Schnell bezieht sie das karg ausgestattete schwimmende Bauwerk, das sie einen Monat lang, von Mitte September bis Mitte Oktober, nicht verlassen wird. Die dreißig Kapitel des schmalen Buches schildern jeden einzelnen dieser Turmtage - auch eine Form von "writer in residence".
Offiziellen Besuch erhält die neue Kustodin allein von dem stets etwas unbeholfen wirkenden Sekretär der Stadtverwaltung, der sie mit frischer Bettwäsche, einer täglichen Portion lauwarmer Polenta und mitunter einem Espresso versorgt. Die Monotonie des täglichen Maisbreis lässt bald verstehen, was für eine Delikatesse es für die Landbevölkerung gewesen sein muss, sich das Essen ab und zu mit einem kross gebratenen Singvögelchen zu verfeinern. Schnell kennt sich die Erzählerin aus in den Grausamkeiten des Vogelfangs, kann detailliert Auskunft geben über Leimruten, Fangnetze und Lockvögel, mit denen Scharen von Wandervögeln auf ihrem Zug in den Süden in die Kochtöpfe der hungrigen Bauern gelockt werden sollten. Nur dass sie als Kustodin des Turms selbst als Lockvogel für neugierige Touristen dienen soll, will sie zunächst nicht wahrhaben.
Das rigide Reglement der Stadtverwaltung sieht vor, dass sie Nacht für Nacht einen jeweils anderen fremden Besucher in den Turm aufnehmen soll, um ihm dann im Morgengrauen die grausigen Details des organisierten Vogelmords zu erklären. Für die Sicherheit der Kustodin sei gesorgt, verrät der Sekretär sibyllinisch, schließlich werde der Turm ständig überwacht. Außerdem stehen die beiden kargen klösterlichen Betten in getrennten Stockwerken - große Leidenschaften werden im Schatten der Vogelfängerei offenbar nicht erwartet. Ein solches Szenario ließe sich leicht zu einer Satire auf den Erlebnistourismus unserer Tage ausweiten - aber das entspricht dann doch nicht dem erzählerischen Programm Gertrud Leuteneggers, die ironische Töne nur verhalten anschlägt.
Stattdessen führt sie uns auch in diesem Roman tief ins Innere ihrer Protagonistin; der Turm wird zur Chiffre für die meditative Versenkung in die eigene Vergangenheit. In immer neuen Anläufen sinnt die einsame Turmbewohnerin ihrer privaten Geschichte nach, erinnert sich an Vater und Mutter, an Orte ihrer Kindheit, an eine vergangene Liebe und an all die Vögel, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben. Im elterlichen Wohnzimmer beobachtete das Kind das Sterben einer verirrten Amsel, der Vater erschien ihm an seiner Schreibmaschine wie ein emsig hackender Specht, und die Mutter konnte die Tötung von zahllosen jungen Elstern nicht verhindern. Bei so vielen Vögeln wird die Symbolik - Vogelleid spiegelt Menschenleid - schnell etwas eintönig, zumal Verweise auf die christliche Passion die allgegenwärtige Leidensthematik noch unterstreichen.
Ein weiteres Handlungselement fügt sich in das Motivgeflecht, denn gegen die strengen Regeln der Stadtverwaltung nimmt die Kustodin bald einen veritablen menschlichen Zugvogel in ihren Turm auf, eine junge, obdachlose Frau aus Südamerika, die sich offenbar illegal in der Stadt aufhält. Nacht für Nacht findet die geheimnisvolle Viktoria Unterschlupf im hölzernen Turm, eine scheue Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt sich, und Episoden über den Kondor, den stolzen Vogel der Anden, bereichern den ornithologischen Bilderbogen.
Die politische Dimension, die sich mit der Schilderung eines Migrantenlebens in der heutigen Schweiz verbindet, wird indes nicht weiter entfaltet. Gertrud Leutenegger vertraut vielmehr auch hier der Suggestionskraft ihrer Sprache und belässt es bei vagen Anspielungen, die erahnen lassen, dass Viktoria vielfache Gewalt erfahren hat, ein geschundenes Vögelchen auch sie.
Das Buch endet mit einem mehrfachen Aufbruch: Viktoria ist ins Ungewisse weitergezogen, der Kustodin aber wird ihr Posten im Turm gekündigt. Zur Zeit des liturgischen Nachtgebets, dem der Roman seinen Titel verdankt, verlässt sie ihr hölzernes Domizil: "Mit allem Verlorenen gehe ich hinein in die erwachende Stadt." Solche Entschiedenheit weckt die Hoffnung, dass die im Turm spirituell gereifte Erzählerin so schnell keinem neuen Projekt auf die Leimrute gehen wird. Der schwimmende Turm aber wird von einem Boot hinaus auf den offenen See gezogen - ein Symbol gewiss auch dies, seine Bedeutung bleibt aber wie so vieles in diesem Buch mitsamt dem Turm, nun ja - verschwommen.
SABINE DOERING.
Gertrud Leutenegger: "Matutin". Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008, 216 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In der spirituellen Thematik und den eindringlichen Metaphern von Gertrud Leuteneggers neuem Roman hat Beatrice von Matt sehr viel Schwermut gespürt. Diese trete vor allem durch den "trotz seiner Strenge luftig" anmutenden Erzählstil nah an den Leser heran. Der Roman sei eine für Leutenegger typische Geschichte um Verwandlung und Neuanfang. Im Mittelpunkt, so Matt, steht der Aufenthalt einer Kustodin in einem mystischen Holzturm, eine Replik einer alten Vogelfangstation und "das räumliche Zentrum des Romans". Das Buch zeichne die Bewältigung schmerzhafter Erinnerungen nach. Am Ende folge eine geistige Befreiung, die aber nur durch das Durchleben von Leid und vor allem Abschied möglich wird. Matt deutet Leuteneggers persönliche Botschaft über den Menschen so: "Er muss verlieren, was er hat, um es in der Erinnerung neu zu gewinnen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In Gertrud Leuteneggers Erinnerungsnetz fängt sich die Welt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung