Produktdetails
  • List Taschenbücher
  • Verlag: List TB.
  • Seitenzahl: 317
  • Gewicht: 236g
  • ISBN-13: 9783612651020
  • Artikelnr.: 24745848
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2000

Mauer im Wald
Eine Mauer, die spazieren geht: Für den Landart-Künstler Andy Goldsworthy bilden die steinernen Gebilde keine starren Grenzen, die Grundstücke trennen oder gar Frontlinien zwischen verfeindeten Nachbarn bilden. Goldsworthy macht die Mauern beweglich und lebendig – er schickt sie auf Wanderschaft. Sie laufen über Hügel und Täler, tauchen in Seen ein und legen sich in üppigen Kurven um die Baumstämme eines Waldes. Aus der Schlangenform von Goldworthys Mauern spricht „Respekt vor der Priorität der Bäume, die vor ihnen da waren”, meint der Kunstkritiker Kenneth Baker. Goldworthys 760 Meter lange Steinmauer im Skulpturenpark des Storm King Art Center im Staat New York ist die Hauptattraktion seines Buches mit dem einfachen Titel Mauer, das bei Zweitausendeins erschien (60 Farbfotos, 94 S. , 33 Mark).
ajh/Foto: Verlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Ein Libretto zu Hegel
Für Rita Kuczynski tönt die DDR / Von Mark Siemons

Wie soll man die DDR erklären? Rita Kuczynski schildert in ihrer Autobiographie, wie ihr, der jungen Philosophin, in einer der endlosen Versammlungen in der Akademie der Wissenschaften die Idee kommt, Hegels "Phänomenologie des Geistes" in ein Ballett umzuschreiben. Dieser Einfall hatte seine Geschichte. Schon bei der ersten Lektüre Hegels war ihr dessen Musikalität aufgefallen, die Kontrapunktik, die sie an Bach erinnerte und von der sie hoffte, dass sie ihr bei der Überwindung der sie quälenden Widersprüche helfen könnte. Das war der Beginn ihrer Begeisterung für die Philosophie, insbesondere die Dialektik. "Das waren auch Tanzschritte", notiert sie: "Was ich in einem Schritt setze, hebe ich im nächsten Schritt wieder auf und komme trotzdem weiter."

Eifrig arbeitet sie in der gähnenden Langeweile der Sitzungen an dem Libretto, bis plötzlich und unerwartet die äußere Welt über ihren Wachtraum hereinbricht. Drei Frauen vom Institut inszenieren eine Attacke gegen den Direktor; eine lang vorbereitete Attacke, wie sich später herausstellt: Die SED-Bezirksleitung hatte die Weisung gegeben, den Direktor zu stürzen. Eine Lynchstimmung kommt auf, deren Niedertracht der jungen Frau den Atem nimmt. Stundenlang läuft sie durch die Straßen und heult. Unterwegs pflückt sie in den städtischen Anlagen einen Strauß Blumen, sucht in einer Telefonzelle die Adresse des Institutsdirektors heraus und läuft zu seiner Wohnung am Alexanderplatz. Wortlos überreicht sie ihm die Blumen. Er bittet sie hinein in die Küche und macht ihr einen Kakao. Als er sieht, wie sehr sie friert, legt er ihr eine Decke um. Dies alles ohne Worte. Sie sitzen am Küchentisch, bis es hell wird, dann bestellt er ihr ein Taxi. Das schweigende Einvernehmen dieser Nacht hielt ein Leben lang: "Es hatte etwas zu tun mit eingestandener Hilflosigkeit. Da war eine Sprache unterhalb der Sprache, die wir miteinander gefunden hatten. Beide wussten wir von der Einmaligkeit dieses Schweigens, auch deshalb sind wir uns nie nähergekommen." Die Pointe ist, dass dieser gedemütigte Institutsdirektor später einer der gefürchtetsten Wissenschaftsfunktionäre der ganzen Akademie wurde: "Er war der intelligenteste und differenzierteste Intrigant, den ich in der DDR kennen gelernt habe". Aber die barmherzige Assistentin hat er aus allen Verstrickungen herausgehalten.

In der paradoxen Einfachheit dieser Szene liegt ein Gutteil des Zaubers, den die Autobiographie von Rita Kuczynski besitzt. In der DDR wurde sie durch ihr Buch "Nächte mit Hegel" bekannt; nach der Wende sind bislang zwei autobiographisch getönte Romane von ihr erschienen. In dem neuen Buch nun geht sie durch die DDR wie in Trance, eingesponnen in wechselnde Kokons, mit denen sie sich gegen die Anmaßungen ihrer Umgebung wappnet. Immer wieder wird sie auf die bald banale, bald grausame Wirklichkeit gestoßen, doch wie durch ein Wunder gerät sie jedesmal an Menschen, die ihre Hand über sie halten und durch die sie, die mit der DDR nie etwas zu tun haben wollte, in immer höhere Höhen des Arbeiter- und Bauernstaats gelangt. Die Verletzliche wird am Ende unberührbar, aufgrund der Vervollkommnung ihrer inneren Schutzvorkehrungen und aufgrund des Glücks der äußeren Ereignisse. Und dann fällt die Mauer, und sie muss wieder von vorne anfangen. Dieses "Leben auf der Grenze", wie das Buch in etwas allzu offensichtlicher Doppeldeutigkeit heißt, hat etwas von einem Märchen.

Doch seine erstaunliche Poesie ist weit entfernt von Harmlosigkeit oder Kitsch. Das Leben, das Rita Kuczynski erzählt, balanciert immer hart am psychischen Abgrund. Es ist begleitet von Nervenzusammenbrüchen, Depressionen, Schlaflosigkeit und Selbstmordversuchen. Die Poesie ist solchen Düsternissen abgerungen. Das Buch ist selber wie eine Fuge gebaut: Einige wenige Themen werden in immer neuen Variationen durchgespielt. Das Hauptthema ist das immer wieder neu aufgenommene Bemühen, den Ton des eigenen Lebens zu finden und ihn zu halten. "Denn von Anfang an ahnte ich, verliere ich die Töne, bin ich verloren": Dieser Satz zieht sich in etwas abgewandeltem Wortlaut durch das ganze Buch. Zuerst ist es buchstäblich die Musik, in der sie den Ton findet, später die Philosophie und schließlich die Literatur. Sie alle helfen ihr dabei, mit der DDR als ihrem Schicksal fertig zu werden. Und dem Leser dient die kontrapunktische Methode dazu, die DDR überhaupt erst als Schicksal wahrzunehmen - aus einer extrem subjektiven Perspektive, in der politische Außenwelt und psychische Innenwelt auf ungewohnte Weise miteinander verknüpft sind.

Schicksalhaft wurde die DDR für Rita Kuczynski vor allem durch den 13. August 1961. Sie wohnte schon seit Jahren bei ihrer Großmutter in West-Berlin, wo sie Klavierunterricht bekam, doch an diesem Tag, als die Mauer gebaut wurde, besuchte sie ihre Mutter im Osten. Von da an hat sie sich nie wieder ganz mit der DDR versöhnen können. Vor dem brüllenden und schlagenden Vater suchte sie sich wieder wie in ihrer Kindheit in die Welt der Töne zurückzuziehen, aber die Spannung war zu groß und endete in einem psychischen Zusammenbruch. Nach der Entlassung aus der Nervenklinik kehrte sie nicht wieder zu den Eltern zurück. Die Mauer hatte den spielerischen Wechsel zwischen den Welten abrupt beendet, der dem Kind zur zweiten Natur geworden war. Sie liebte es, in der S-Bahn-Linie "Berliner Ring" zwischen Ost und West zu pendeln. Später führte sie diese Überlistung des Nicht-Widerspruchs-Prinzips über Bach zu Hegel. "Philosophie beginnt, wo ein Bruch geschehen ist mit der wirklichen Welt und ihrem Leben": Diese Hegel-Sentenz wird zum Leitsatz ihrer intellektuellen Biographie, die sich immer neue Schutzwälle gegen das Realitätsprinzip der DDR baut.

Äußerlich bekommt sie ihr Leben mit den Jahren in den Griff. Sie lernt es, die Anforderungen von Parteilichkeit und Klassenwachsamkeit taktisch zu bewältigen, wird nach dem Studium Mitglied des Philosophischen Instituts der Akademie der Wissenschaften und hat auf alles Antworten parat: "Das Entsetzliche war nur, die Antworten halfen mir nicht über die Nacht." Menschlichen Rückhalt erhält sie erst durch die Familie ihres Ehemanns, eines Sohns des berühmten Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski, der in Honecker-Reden oft den Wirtschaftsteil verfasste. Sie fühlt sich von dem edlen Ambiente dieser roten Aristokratie zuerst abgestoßen, aber die beharrliche Zuneigung und Hilfsbereitschaft ihrer Schwiegereltern nimmt sie bald für die neue Familie ein. Unversehens findet sie sich in den "Gärten der Nomenklatura" wieder. Ihre Verstecke werden immer öffentlicher. Mit kokettem Stolz erzählt sie von den Partys, zu denen sie nicht weniger als fünfzig Gästen aus Ost und West einlud, immer darauf bedacht, dass die diversen Geheimdienste gleichmäßig vertreten sind.

Man könnte der Autorin zum Vorwurf machen, dass sie zur "wirklichen Welt" bis zum Ende nicht vordringt. Aber damit würde man der zwischen Erzählung und Stilisierung pendelnden Eigenart dieser Prosa nicht gerecht. Auf das Politische kann man bei dieser Schilderung eines Kampfes allenfalls indirekte Schlüsse ziehen. Was man an ihr rühmen muss, ist, dass es ihr selber gelingt, den Ton zu halten - zumindest über zwei Drittel des Textes hinweg. Je mehr das Geschehen an die Gegenwart heranreicht, desto häufiger mischen sich konventionelle Urteile in die sonst so individuelle Erzählung. Vermutlich war die Art poetische Existenz, in die Rita Kuczynski in diesem Buch ihr Leben fasst, doch auf die Geschichtsphilosophie der DDR angewiesen - und sei es im Widerspruch zu ihr.

Rita Kuczynski: "Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze". Claassen Verlag München 1999. 317 S., geb., 36,- DM.

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