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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2020

Auf ganz dünnem Eis

Ein Klassiker der englischsprachigen Literatur, der in Leipzig spielt, aber Grundlegendes zu selbstverschuldetem Liebesunglück erzählt: Henry Handel Richardsons Roman "Maurice Guest".

Genau vor neun Jahren erschien in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung eine kleine bebilderte Broschüre mit dem Titel "Frühlingsouvertüre". Ihr Autor: Henry Handel Richardson. Oder besser gesagt: ihre Autorin. Denn hinter dem Pseudonym verbirgt sich Ethel Florence Lindesay Robertson, eine 1870 geborene australische Schriftstellerin, die sich wie so viele Kolleginnen jener Epoche (und nicht nur jener; man denke nur an J. K. Rowling) nicht traute, als Buchautorin aufzutreten, und lieber einen Männernamen wählte, um nicht dem vorschnellen Urteil ihrer Zeitgenossen anheimzufallen: Na ja, Frauen - zu kleines Gehirn für große Werke.

Ihr 1908 in England erschienener Debütroman "Maurice Guest" war wirklich groß. Elf Jahre hatte Robertson/ Richardson (im Folgenden dann doch immer Richardson, denn das steht auf ihren Büchern) daran geschrieben, am Ende umfasste "Maurice Guest" im Original fast sechshundert Seiten. Dabei hatte der Verlag noch ein rundes Fünftel des Manuskripts gestrichen, weil ihm das Ganze zu gewagt vorkam: in moralischem wie in musikalischem Sinne.

Zuerst zu Letzterem: Handlungsort des Romans der australischen Autorin ist Leipzig, denn dorthin hat es die Titelfigur, einen englischen Lehrersohn, zum Musikstudium verschlagen. Richardson wusste, wovon sie erzählte; als Neunzehnjährige war sie selbst mit Mutter und Schwester nach Leipzig gekommen, um sich wie Guest am dortigen weltberühmten Konservatorium, einer Gründung Felix Mendelssohn Bartholdys, ausbilden zu lassen. Dreieinhalb Jahre blieb sie in der Stadt, schloss ihr Studium ab und lernte den englischen Skandinavistikstudenten John George Robertson kennen, den sie in Leipzig heiratete. Er sorgte dafür, dass sich das Interesse seiner jungen Frau vom Musizieren aufs Schreiben und die nordischen Sprachen verlagerte; bald übersetzte sie Bücher von Jacobson und Bjørnson. Diese skandinavischen Naturalisten provozierten Richardsons schonungslosen Blick auf ihre eigenen Figuren. Und daraus resultierte der moralische Zwiespalt, in dem sich der englische Verlag seinerzeit befand.

Doch genug dieses Vorgeplänkels und zurück zu einem anderen: "Frühlingsouvertüre", die Broschüre mit dem süßlichen Namen bot nämlich 2011 einen Vorgeschmack auf eine Neuübersetzung von "Maurice Guest". Die erste deutsche Fassung war 1912 bei S. Fischer erschienen, nachdem der Roman in der englischsprachigen Welt zwar gemischt aufgenommen, aber gut verkauft worden war. Das wiederholte sich in Deutschland trotz des vertrauten Handlungsorts nicht, und je populärer das Buch auf Englisch wurde - etliche Neuausgaben und 1954 eine Hollywood-Verfilmung namens "Rhapsody" mit Elizabeth Taylor und Vittorio Gassman -, desto mehr geriet es hierzulande in Vergessenheit. Dazu trug auch bei, dass die deutschkundige Verfasserin die Übersetzung von 1912 nicht geschätzt hatte, so dass ihr Interesse an deren Verbreitung gering war. Höchste Zeit also, die Sache mehr als hundert Jahre später besser zu machen, zumal das Ganze nun von zwei Leipziger Übersetzern und einem Leipziger Verlag besorgt wurde.

Wobei man sofort einwenden muss: "Maurice Guest" ist kein Leipzig-Roman, auch wenn er zu einer Zeit spielt, in der sich die Stadt gerade im ökonomischen und architektonischen Umbruch zur Metropole befand. Das findet durchaus seinen Niederschlag, wenn Straßen und Umgebung beschrieben werden (dankenswerterweise sind auf den Vorsätzen zeitgenössische Kartenausschnitte abgedruckt), aber Leipzig ist hier vielmehr Stellvertreter für ein kontinentaleuropäisches Kulturleben, das den Angehörigen des weltumspannenden britischen Imperiums als wohlig - und bisweilen prollig - provinziell erschienen sein muss. Nicht umsonst verlegte die Verfilmung von 1954 den Schauplatz nach Zürich - nicht nur, weil man Anfang der fünfziger Jahre nicht in der DDR hätte drehen können und Leipzig kriegszerstört war, sondern auch, weil der Genius Loci ein musikalischer ist, kein geographischer. Da hatte Zürich mit Tonhalle, Stadttheater und Konservatorium ein gutes Äquivalent zu Gewandhaus, Neuem Theater und Königlichem Conservatorium in Leipzig zu bieten. Dass Richardsons bitterböse Liebesgeschichte ein hollywoodgerechtes happy ending verpasst bekam, war ein viel gravierenderer Eingriff.

Da sich die Übersetzer Fabian Dellemann und Stefan Welz der 1998 in Australien erschienenen Rekonstruktion von Richardsons Ursprungsmanuskript bedienten, war einiges zu tun. Neun Jahre dauerte ihre Arbeit, und wer weiß, ob das Buch trotz Subskribenten und Leipziger Vorablesungen aus der entstehenden Übersetzung jetzt schon erschienen wäre, wenn nicht die Connewitzer Verlagsbuchhandlung 2019 den Sächsischen Verlagspreis gewonnen und das damit verbundene Geld in ihr bislang ehrgeizigstes Projekt gesteckt hätte. Nun ist es da, gerade noch vor Weihnachten erschienen, mehr als 850 Seiten, wunderschön auf zwei Bände verteilt, sorgfältig gestaltet und gebunden und vor allem wirklich gut übersetzt (von einer Grammatikschwäche beim Gebrauch des Wortes "außer" abgesehen), weil Dellemann und Welz sich bemüht haben, den literarischen Tonfall der Entstehungszeit zu treffen. Das ist wunderbar geglückt: Man fühlt sich wie in den Proberäumen, Cafés, Kneipen und Studentenbuden des späten neunzehnten Jahrhunderts. Ein ideales Weihnachtsgeschenk also?

Einerseits ja, denn wie Richardson da erzählt, das ist von einer psychologischen Konsequenz, die noch heute den Atem nimmt. Andererseits genau deswegen auch nein, denn das muss man erst einmal aushalten: wie sich Maurice Guest und die von ihm bewunderte australische Lebedame Louise Dufrayer, die es auch der Musik wegen nach Leipzig verschlagen hat, wo sie sich aber bald mehr für Musiker interessiert, gegenseitig zerfleischen. Was in Stil und Ton von Prousts "Eine Liebe Swanns" beginnt (die erst 1913 erschien), das steigert sich in ein Pandämonium der Gefühle. Und in Andeutungen sexueller Abgründe, die zwar nicht derart explizit sind wie in den noch viel später publizierten postumen Bänden von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", aber gerade darum pikant (und in der Erstausgabe von 1908 zumeist gestrichen wurden). Je ambivalenter die Gefühlswelt von Louise und Maurice wird, desto offenherziger feinden sie sich an.

Das Tolle an "Maurice Guest" ist, dass dieser desillusionierende Prozess sich vor der Folie der musikalischen Welt des Fin de Siècle abspielt. Das Buch hebt mit dem Satz an: "An einem Vormittag im Jahre 189..." Das konkrete Datum bleibt also ungenannt. Da die Handlung wenig mehr als zwei Jahre umfasst, ist ihr Beginn entweder 1890 oder 1891 anzusiedeln, denn 1893 kehrte der Dirigent Arthur Nikisch nach Leipzig zurück, dessen Weggang einmal spät im Text beklagt wird. Damals tobte in den deutschen Konzert- und Theatersälen der Publikumsstreit zwischen Traditionalisten und Neutönern, und das Ehepaar Robertson hatte sich als begeisterte Wagnerianer bedingungslos auf die Seite der Letzteren geschlagen. Als Richardson eine ihrer Romanfiguren Wagner-Novizinnen in eine Aufführung der "Walküre" begleiten lässt, schildert sie mit erkennbarem Amüsement und etwas Frivolität, wie dieser Dove, ein weiterer englischer Musikstudent, sich bemüht, "den ersten Aufzug der Oper zu erläutern, ohne dabei auf die Beziehung der Liebenden einzugehen". Ein Kapitel später lesen wir über eine der jungen Damen: "Jetzt, nachdem sie die Oper gehört hatte, fühlte sie sich auch von Dove gekränkt; denn soviel sie seinen vagen Erläuterungen, dem Grölen der Sänger und den nachfolgenden Geschehnissen hatte entnehmen können, handelte der erste Akt von Beziehungen solch anrüchiger Art, dass sie im allgemeinen Einvernehmen als nicht existent zu erachten waren." Das ist zugleich auch das Dilemma der polyamourösen Akteure des Romans - wenn auch in anderen Konstellationen als bei Wagner.

Es gibt viel Sarkastisches in diesem Buch, und es führt eine Beobachtungsgenauigkeit vor, die in der ohnehin sezierenden Methode des sozialen Realismus jener Zeit seinesgleichen sucht. Nie ist die Eskalation eines feuchtfröhlichen Abends unter Studenten so grausam porträtiert worden wie in "Maurice Guest". Und kaum einmal wurde anderswo ein Winterzauber entfaltet, der den Schlittschuhläufen von Maurice Guest und seinen wechselnden Begleiterinnen auf den Teichen und Flüsschen von Leipzig gleicht. William Somerset Maugham soll "Maurice Guest" mit den Romanen Tolstois verglichen haben. Das ist grotesk, wenn man die Imprägnierung von Richardsons Figuren gegenüber dem Zeitgeschehen betrachtet, aber was die Schönheit ihrer Sprache, die Einfühlung in selbstbereitetes menschliches Liebesunglück und das Wissen ums ganz dünne Eis unserer Existenz betrifft, hätte der englische Schriftsteller eine Spur gelegt, der nachzugehen wäre, auch im Hinblick auf die Multiperspektivität von Richardsons Erzählhaltung.

Aber am stärksten ist sie, wenn sie ganz bei den individuellen Manien ihres Personals bleibt. "Wie bedeutungslos war das Leben", stellt Maurice Guest fest, "wenn die Art, wie sich ein Augenlid senkte oder eine Braue wölbte, einem Menschen auf so unwiderstehliche Weise die Nerven aufreiben konnte! Umso mehr, wenn in dem Verstand oder der Seele dahinter das körperliche Moment keine geistige Entsprechung fand. - Nun, darüber sollten sich andere den Kopf zerbrechen, nicht er." Richardson hatte da ihre Leser im Auge. Mit diesem Buch wird man beim Zuklappen nicht fertig sein.

ANDREAS PLATTHAUS

Henry Handel Richardson: "Maurice Guest". Roman.

Aus dem Englischen von Fabian Dellemann und Stefan Welz. Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Leipzig 2020. 2 Bände, zus. 864 S., geb., 50,- [Euro].

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