Maurice lebt in einem armseligen Stadtteil von Berlin, hält sich selbst für eher unscheinbar und uninteressant und liebt das Spiel des Cellos von nebenan. Man könnte meinen, Maurice führe ein unspektakuläres Leben, doch weit gefehlt: Das Spektakel findet seinen Ursprung in den kleinen Details, die der Protagonist unterwegs auf seinem 17 Jahre alten Fahrrad einsammelt und verarbeitet zu einer schier unendlichen Gedankenkette. Ein Krähenschwarm zieht vorüber und dieses Bild wirkt wie ein Startknopf. Maurice denkt nach, wechselt die Perspektiven, kommt von einem ins andere und schließlich erfährt der Leser etwas über das Ableben von Francois Mitterand und die Zubereitung französischer Fettammern. In kleinsten Schritten kommt Maurice der Wahrheit sehr nah. Denn dieses Buch ist ein Feuerwerkskörper, aus dem haltlos goldene Sätze schießen, die jeden schönen Schein zerplatzen lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2006Prototyp Tunichtgut
Erotik des Zufälligen: Matthias Zschokke flaniert durch Berlin
Dieser Roman des Schweizer Schriftstellers Matthias Zschokke übt einen subtilen Zwang zur Langsamkeit aus. Wer seine poetischen Räume in Windeseile durchschreiten will, wird bereits auf den ersten Seiten gebremst. Eine Schule der Verzögerung, des Verweilens, des Sinnierens. Sein Held, "Maurice mit Huhn", ist ein moderner Taugenichts, der in seinem Büro in einem armseligen Berliner Stadtteil sitzt und meistens nichts zu tun hat. Mit dem Fahrrad fährt er jeden Tag von der Wohnung am Bahnhof Zoo in sein Kommunikationskontor, das er im Alleingang führt. Er erledigt Schreibarbeiten für Einwanderer, die Hilfe brauchen. Allerdings immer weniger. Ob sie sich seine Unterstützung nicht mehr leisten können, ob sie ihm die Arbeit nicht mehr zutrauen - es kümmert ihn nicht.
Was er wirklich mit Ausdauer verfolgt, ist die Anstrengung, keine Panik aufkommen zu lassen über das nutzlose Dahinkriechen der Tage. Ab und zu schreibt er Briefe an Hamid, den ehemaligen Geschäftspartner. Dessen Kaviarfirma hat sich zu einem Imperium entwickelt und ihn so reich gemacht, daß er seine Frau, eine Berliner Schauspielerin, verlassen und den Sohn in einem teuren Schweizer Internat unterbringen konnte.
Schließlich hat er sich nach Genf abgesetzt. Von da aus betreibt er lukrative Geschäfte und jongliert gelenkig mit Gesetz und Übertretung. Mit Maurice unterhält er eine Art Freundschaft, wenn auch eher einseitig. Maurice schreibt, Hamid telefoniert oder taucht unvermittelt in Berlin auf, um ihm einen Handel vorzuschlagen, bei dem sich steuerliche Vorteile ergaunern lassen. Maurice nimmt solche Angebote dankend entgegen. Moral ist nicht die Sache des kleinen Schwindlers und Phantasten, der die Welt mit dem ihm eigenen Blick abmißt. "Débauche", das französische Wort für "Ausschweifung", heißt sein wahres Lebensmotto. Es führt das liederliche Leben eines charmanten Flaneurs, der die Welt besichtigt, ohne sich an ihr zu beteiligen. Nützlichkeiten erscheinen ihm fremd. Auf Superlative reagiert er erschreckt, pathetische Gesten findet er fragwürdig, Leistungen verdächtig. Jede Art von Abschweifung dagegen begrüßt er mit hinreißender Begeisterung.
Der in Bern aufgewachsene Matthias Zschokke, der zuerst Schauspieler wurde und seit 1980 als Schriftsteller, Theaterautor und Filmregisseur in Berlin lebt, spielte von den literarischen Anfängen an mit diesem leisen Verweigerungston. Seine Helden waren schon immer Tunichtgute, die sich - abgestoßen von geschäftigem Treiben und überbordender Lebensgier - in ein poetisches Niemandsland absetzten. Mit dem neuen Roman "Maurice mit Huhn" hat der Schriftsteller den Prototyp seiner eigentümlichen Erzählmelodie geschaffen. Dabei orientiert er sich an zwei Schweizer Vorbildern, die in der Berner Heimat eine wichtige Rolle spielten: dem Maler Albert Anker und dem Schriftsteller Robert Walser. Beide verbanden das Provinzielle mit dem Weltstädtischen, beide camouflierten das Abgründige mit dem Naiven.
Maurice, die Figur im Zentrum, stammt aus dem gleichen Berner Dorf wie der Maler. Ankers Bild "Maurice mit Huhn" lieh dem Helden den Namen und ist die Quelle, aus der alle poetischen Beobachtungen sprudeln. Einmal beschreibt der Schriftsteller den Knaben mit dem ruhigen, leicht hypnotisierten Huhn auf dem Arm, die Beine hängend, den Kopf abwartend geneigt - wobei es jeden Augenblick zum Leben erwachen und dem Knaben mit den spitzen, starken Schnabel blutende Wunden zufügen könnte.
Was ihm mit dem Motiv des Malers gelingt, nämlich die poetische Aufladung des eigenen Textes mit versteckten Bedeutungen, mißrät ihm allerdings mit dem literarischen Vorbild. Diesem kommt er so nahe, daß er sich daran verbrennt. Anstatt eine produktive Spannung zwischen Fremdem und Eigenem zu erzeugen, entsteht ein leicht epigonaler Eindruck. In Passagen, in denen sich Maurices Onkel bei seiner Gönnerin für handgestrickte Socken bedankt oder der Held in heftige Zuneigung zu engen, beigefarbenen, über den Boden tänzelnden Stöckelschuhen entflammt, erdrückt das Original die Kopie.
Trotzdem übt Matthias Zschokkes Romankonstruktion mit ihrer manchmal verbundenen, manchmal lose assoziierten Reihung von Mikrogeschichten eine seltsame Magie aus. Gewiß, das Buch hat einen Stich ins Altmodische, nimmt aber bei genauerem Besehen durch seine unverdrossene Konsequenz und seine fröhliche Zähigkeit doch wieder für sich ein. Die Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten und Beobachtungsfundstücke, die vor den Augen des Lesers mit provozierender Nachlässigkeit ausgebreitet werden, haben eine leicht anästhesierende Wirkung. Zunehmend schwindet das Gefühl für die täglichen Aufgeregtheiten und macht einer Empfänglichkeit für die schillernden Nichtigkeiten und die Erotik des Zufälligen Platz.
Hinter dem freundlichen Plauderton verstecken sich das Aufbegehren gegen den mechanisch ratternden Alltag, die Auflehnung gegen das unverbindliche Surfen durchs Leben. Damit gelingt es Matthias Zschokke für einen kurzen Augenblick, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht auf das Poetische zu eröffnen.
PIA REINACHER
Matthias Zschokke: "Maurice mit Huhn". Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 240 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erotik des Zufälligen: Matthias Zschokke flaniert durch Berlin
Dieser Roman des Schweizer Schriftstellers Matthias Zschokke übt einen subtilen Zwang zur Langsamkeit aus. Wer seine poetischen Räume in Windeseile durchschreiten will, wird bereits auf den ersten Seiten gebremst. Eine Schule der Verzögerung, des Verweilens, des Sinnierens. Sein Held, "Maurice mit Huhn", ist ein moderner Taugenichts, der in seinem Büro in einem armseligen Berliner Stadtteil sitzt und meistens nichts zu tun hat. Mit dem Fahrrad fährt er jeden Tag von der Wohnung am Bahnhof Zoo in sein Kommunikationskontor, das er im Alleingang führt. Er erledigt Schreibarbeiten für Einwanderer, die Hilfe brauchen. Allerdings immer weniger. Ob sie sich seine Unterstützung nicht mehr leisten können, ob sie ihm die Arbeit nicht mehr zutrauen - es kümmert ihn nicht.
Was er wirklich mit Ausdauer verfolgt, ist die Anstrengung, keine Panik aufkommen zu lassen über das nutzlose Dahinkriechen der Tage. Ab und zu schreibt er Briefe an Hamid, den ehemaligen Geschäftspartner. Dessen Kaviarfirma hat sich zu einem Imperium entwickelt und ihn so reich gemacht, daß er seine Frau, eine Berliner Schauspielerin, verlassen und den Sohn in einem teuren Schweizer Internat unterbringen konnte.
Schließlich hat er sich nach Genf abgesetzt. Von da aus betreibt er lukrative Geschäfte und jongliert gelenkig mit Gesetz und Übertretung. Mit Maurice unterhält er eine Art Freundschaft, wenn auch eher einseitig. Maurice schreibt, Hamid telefoniert oder taucht unvermittelt in Berlin auf, um ihm einen Handel vorzuschlagen, bei dem sich steuerliche Vorteile ergaunern lassen. Maurice nimmt solche Angebote dankend entgegen. Moral ist nicht die Sache des kleinen Schwindlers und Phantasten, der die Welt mit dem ihm eigenen Blick abmißt. "Débauche", das französische Wort für "Ausschweifung", heißt sein wahres Lebensmotto. Es führt das liederliche Leben eines charmanten Flaneurs, der die Welt besichtigt, ohne sich an ihr zu beteiligen. Nützlichkeiten erscheinen ihm fremd. Auf Superlative reagiert er erschreckt, pathetische Gesten findet er fragwürdig, Leistungen verdächtig. Jede Art von Abschweifung dagegen begrüßt er mit hinreißender Begeisterung.
Der in Bern aufgewachsene Matthias Zschokke, der zuerst Schauspieler wurde und seit 1980 als Schriftsteller, Theaterautor und Filmregisseur in Berlin lebt, spielte von den literarischen Anfängen an mit diesem leisen Verweigerungston. Seine Helden waren schon immer Tunichtgute, die sich - abgestoßen von geschäftigem Treiben und überbordender Lebensgier - in ein poetisches Niemandsland absetzten. Mit dem neuen Roman "Maurice mit Huhn" hat der Schriftsteller den Prototyp seiner eigentümlichen Erzählmelodie geschaffen. Dabei orientiert er sich an zwei Schweizer Vorbildern, die in der Berner Heimat eine wichtige Rolle spielten: dem Maler Albert Anker und dem Schriftsteller Robert Walser. Beide verbanden das Provinzielle mit dem Weltstädtischen, beide camouflierten das Abgründige mit dem Naiven.
Maurice, die Figur im Zentrum, stammt aus dem gleichen Berner Dorf wie der Maler. Ankers Bild "Maurice mit Huhn" lieh dem Helden den Namen und ist die Quelle, aus der alle poetischen Beobachtungen sprudeln. Einmal beschreibt der Schriftsteller den Knaben mit dem ruhigen, leicht hypnotisierten Huhn auf dem Arm, die Beine hängend, den Kopf abwartend geneigt - wobei es jeden Augenblick zum Leben erwachen und dem Knaben mit den spitzen, starken Schnabel blutende Wunden zufügen könnte.
Was ihm mit dem Motiv des Malers gelingt, nämlich die poetische Aufladung des eigenen Textes mit versteckten Bedeutungen, mißrät ihm allerdings mit dem literarischen Vorbild. Diesem kommt er so nahe, daß er sich daran verbrennt. Anstatt eine produktive Spannung zwischen Fremdem und Eigenem zu erzeugen, entsteht ein leicht epigonaler Eindruck. In Passagen, in denen sich Maurices Onkel bei seiner Gönnerin für handgestrickte Socken bedankt oder der Held in heftige Zuneigung zu engen, beigefarbenen, über den Boden tänzelnden Stöckelschuhen entflammt, erdrückt das Original die Kopie.
Trotzdem übt Matthias Zschokkes Romankonstruktion mit ihrer manchmal verbundenen, manchmal lose assoziierten Reihung von Mikrogeschichten eine seltsame Magie aus. Gewiß, das Buch hat einen Stich ins Altmodische, nimmt aber bei genauerem Besehen durch seine unverdrossene Konsequenz und seine fröhliche Zähigkeit doch wieder für sich ein. Die Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten und Beobachtungsfundstücke, die vor den Augen des Lesers mit provozierender Nachlässigkeit ausgebreitet werden, haben eine leicht anästhesierende Wirkung. Zunehmend schwindet das Gefühl für die täglichen Aufgeregtheiten und macht einer Empfänglichkeit für die schillernden Nichtigkeiten und die Erotik des Zufälligen Platz.
Hinter dem freundlichen Plauderton verstecken sich das Aufbegehren gegen den mechanisch ratternden Alltag, die Auflehnung gegen das unverbindliche Surfen durchs Leben. Damit gelingt es Matthias Zschokke für einen kurzen Augenblick, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht auf das Poetische zu eröffnen.
PIA REINACHER
Matthias Zschokke: "Maurice mit Huhn". Roman. Ammann Verlag, Zürich 2006. 240 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Wo Matthias Zschokkes Erzählband "Ein neue Nachbar" endet, knüpft sein Roman "Maurice mit Huhn an", erklärt Jörg Magenau und meint damit nicht nur den leitmotivischen Klang eines unbekannten Cellos in der Wohnung nebenan, sondern auch einen schweigsamen Erzähler, der seine Geschichten "langsam, nachdenklich und liebevoll" vorträgt. Mit Maurice habe sich Zschokke ein Wunsch-Alter Ego geschaffen: Ein radelnder Flaneur, der sich in den abseitigen Viertel der Stadt auf Entdeckungsreisen begibt, die Stille preist und sich wie alle "echten Indianer" am liebsten unbemerkt durch die Welt bewegt. Eine konsistente Handlung gibt es nicht, so Magenau, aber darauf kommt es auch nicht an: Weil der Roman "wie eine Wundertüte funktioniert" die Disparates - angefangen vom sterbenden Mitterand bis hin zu Maurice' Reise an den Ort seiner Kindheit - immer wieder kunstvoll aneinanderknüpft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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