Liebermann rückte um die Jahrhundertwende von den Motiven des einfachen ländlichen Lebens ab und wandte sich Szenen aus dem Leben des gehobenen Bürgertums zu. Der zweite Band des Werkverzeichnisses, der in rund tausend Abbildungen das Werk Liebermanns aus den Jahren 1900 bis 1934 dokumentiert, zeichnet diese Entwicklung nach. Mit der Gründung der Berliner Secession 1899 wurde Liebermann eine zentrale Gestalt der Kunstpolitik in Deutschland. Er und seine Kunst trugen zur Entstehung eines neuen geistigen Klimas bei. Getragen wurde sie vom liberalen Großbürgertum der Zeit, für das Liebermann zu einem gesuchten Porträtmaler avancierte. Er malte in den Jahren nach 1900 rund 250 Bildnisse, die hier zum ersten Mal umfassend vorgestellt werden. Im letzten, überaus fruchtbaren anderthalb Jahrzehnt seines Schaffens entstanden neben vielen Porträts rund 200 Ansichten aus seinem Garten in Wannsee, in denen er die Schönheit der vom Menschen mitgestalteten Schöpfung feierte. Diese Gartenbilder, die bei Sammlern zu den gesuchten Arbeiten des Künstlers zählen, werden hier ebenfalls zum ersten Mal in bisher nicht gekanntem Umfang präsentiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.1997Malkittel mit Hut
Das ganze Werk Max Liebermanns · Von Karin von Maur
Zum einhundertfünfzigsten Geburtstag von Max Liebermann, der in Berlin mit einer großen Retrospektive im Alten Museum begangen wird, liegt auch der zweibändige _uvrekatalog sämtlicher Gemälde des Künstlers geschlossen vor. Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Tod Liebermanns wird damit das rund 1600 Bilder umfassende malerische Werk in seiner Spannweite und chronologischen Entfaltung zum ersten Mal überschaubar.
Der erste Band, der die Jahre 1865 bis 1899 umfaßt, enthält die weithin bekannten Studien und Gemälde, die das holländische Alltagsleben wie "Altmännerhaus in Amsterdam" (1880), "Die große Bleiche" (1883) oder "Flachsscheuer in Laren" (1887) schildern. Entwickelt auf der Basis prägender Eindrücke von Frans Hals und Menzel, Munkácsy und Millet, trugen diese Bilder dem Sohn des begüterten Großindustriellen Louis Liebermann den zweifelhaften Ruf eines "sozialdemokratischen Armeleutemalers" ein. Dieses Verdikt kränkte den Künstler zutiefst, da es ihm vor allem darauf ankam, die natürliche Würde und das Arbeitsethos seiner überwiegend aus dem ländlichen und handwerklichen Milieu stammenden Modelle zum Ausdruck zu bringen.
Hingegen fand Liebermann in Paris, wo er seit den siebziger Jahren mit Künstlern des Barbizon-Kreises verkehrte und an den Ausstellungen des "Salon" teilnahm, frühe Anerkennung und prominente Käufer wie den Sänger Jean-Baptiste Faure. Nach seinem Paris-Aufenthalt fährt er nach Italien, wo er in Venedig Franz Lenbach trifft, auf dessen Empfehlung er nach München übersiedelt. Dort entsteht im Winter 1878/79 sein erstes Historienbild, "Der zwölfjährige Christus im Tempel", mit dem er sich in die Nähe von Fritz von Uhde begibt. Das Gemälde, das in seiner ursprünglichen Fassung den jungen Christus als flinken, nacktbeinigen Judenknaben mit struppigem schwarzem Haar zeigt, löste bei der dritten Münchner Kunstausstellung in Teilen der Bevölkerung Empörung und sogar eine Debatte im Bayerischen Landtag aus - ein Skandal, der Liebermann zum Verlassen Münchens veranlaßte. Vor 1884, als er das Bild seinem Freund Uhde schenkte, hat er den Jesusknaben in ein engelhaftes blondes Kind im langen weißen Hemd verwandelt. Fortan hegte Liebermann eine gewisse Scheu vor biblischen, mythologischen oder historischen Sujets, zumal ihm ohnehin alles Pathetische fernlag.
Zweifellos zeugen Liebermanns figurenreiche Kompositionen bis zur Jahrhundertwende trotz ihrer noch weitgehend tonigen Farbgebung von einer meisterlichen Beherrschung in der Wiedergabe atmosphärischer und psychologischer Stimmungen. Bestärkt durch Manet, dessen impressionistische Werke er 1896 während einer Paris-Reise mit Hugo von Tschudi bei Durand-Ruel kennenlernte, hellt sich seine Palette auf, und seine Pinselschrift wird offener und spontaner. Die erzählerischen und vielfach häuslichen Genremotive treten in den Hintergrund und werden zunehmend von luftigen Freilichtszenen abgelöst. Daß diese ersten drei Jahrzehnte auch im Zeichen des Kampfes für eine neue Kunst mit zeitgenössischen Themen jenseits von chauvinistischer Historien- oder schwülstiger Salonmalerei standen, erweisen Liebermanns kunstpolitische Aktivitäten, zum Beispiel anläßlich der Pariser Weltausstellung zum einhundertsten Jahrestag der Französischen Revolution 1889, wo er auf Einladung des Pariser Kommissars eine unabhängige Ausstellung deutscher Künstler organisierte, oder die Gründung von Künstlerzusammenschlüssen wie die "Vereinigung der 11" (als Vorläufer der Sezession). In Frankreich und Holland fand er ein liberales Geistesklima vor, das ihn anzog, weil es im Gegensatz zum preußischen Monarchismus stand, der unter Wilhelm II. das deutsche Kunstleben infiltrierte.
Der von Matthias Eberle mit bewundernswerter Akribie zusammengetragene und eingehend kommentierte _uvrekatalog geht über rein kunsthistorische Analysen, zum Beispiel zur Entstehungsgeschichte und zu den Werkzusammenhängen im Kontext der bedeutenden Kompositionen wie der "Netzeflickerinnen" und ihrer zahlreichen Vorstudien, weit hinaus. Vielmehr trägt der Autor durch seine sachkundigen Erläuterungen, namentlich bei den Waisenhausbildern, wesentlich zum Verständnis der historischen Hintergründe, soziologischen Strukturen und des strengen Reglements dieser karitativen Einrichtungen in den Niederlanden bei.
Max Liebermanns Vorliebe für diese Themen entsprang nicht zuletzt auch einem Interesse an der Gesellschaft. Schon als Pennäler hatte er die Reden und Schriften des Sozialrevolutionärs Ferdinand Lassalle, der sich für das allgemeine und gleiche Wahlrecht einsetzte, mit Begeisterung gelesen. So boten ihm die Kleinkinderschulen, Waisenhäuser und Altenheime, die in Holland eine lange Tradition haben, nicht nur realistische Motive, sondern auch modellhafte Programmbilder für eine intakte Solidargemeinschaft.
Der umfangreichere zweite Band, der das _uvre der Jahre 1900 bis 1935 umfaßt, läßt freilich auch deutlich die Wandlung erkennen, die sich in Liebermanns Malerei mit der wachsenden Anerkennung nach seinem fünfzigsten Geburtstag abzeichnete. Die rund tausend, oft weit weniger bekannten und zum Teil auch unpublizierten Gemälde dokumentieren den Übergang vom "Armeleutemaler" zum feinsinnigen Schilderer der Freizeitvergnügungen des Berliner Bürgertums und zum gefragtesten Porträtisten der Prominenz seiner Zeit. Die lange Reihe der Bildnisse, die Liebermanns Fähigkeit zur sensiblen Erfassung der Physiognomie und Geistesverfassung eines Menschen mit gleichzeitiger Wahrung einer taktvollen Distanz manifestiert, läßt die bedeutendsten Persönlichkeiten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik Revue passieren: Gerhart Hauptmann, Lovis Corinth und Max Slevogt, Richard Strauss, Arthur Nikisch, Wilhelm Bode, Samuel Fischer, Albert Einstein, Friedrich Naumann und Bernhard von Bülow, die Feldmarschälle Paul von Hindenburg und Karl von Bülow, die Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy und Julius Stern, Unternehmer und Industrielle (die vielfach Kunst sammelten) wie Edouard Arnhold, Otto Gerstenberg, Heinrich Kirchhoff, Emil Rathenau oder Leonhard Tietz. Von den 170 männlichen Porträts konnte bis auf sieben die Identität aller Dargestellten einschließlich genauer biographischer Daten ermittelt werden. Dies gilt auch für die weiblichen Bildnisse, darunter ein erst von Eberle identifiziertes Modell namens Anna-Christiane Mattuschka, zu dem Liebermann offenbar eine engere Beziehung hatte.
Durch die sorgfältig recherchierten Biographien, angereichert mit Äußerungen des Künstlers aus seiner Korrespondenz, stellt die lange Folge der Bildnisse eine wahre Enzyklopädie der führenden Repräsentanten des deutschen Kultur- und Wirtschaftslebens bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten dar. Daß Liebermann gleichfalls erst mit seiner wachsenden Etablierung als Künstler auch selbst ins Bild trat, bekunden die über fünfzig Selbstporträts, die bis auf eine Ausnahme erst nach der Jahrhundertwende entstehen und die den von preußischer Selbstdisziplin erfüllten Maler fast immer bei der Arbeit zeigen.
Die Werkphase der dreieinhalb Dezennien seit 1900 offenbart eine verstärkte Tendenz zur reinen Pleinairmalerei wie Straßenmotive aus Amsterdam, Tiergartenalleen oder Biergärten-Szenen, badende Knaben oder Reiter am Strand. Der Farbauftrag wechselt zwischen pastoser Modellierung und einer zügig-flächenhaften Strichtechnik, bleibt aber weitgehend formbetont und näher bei Degas, an den vor allem die Pferdedarstellungen erinnern. Erst ab 1918, in den zahlreichen Gartenbildern rings um sein Landhaus am Wannsee, nähert sich Liebermann der impressionistischen Pinseltextur eines Claude Monet, von dem er die 1874 gemalte Studie "Manet malt im Garten Monets in Argenteuil" besaß.
Die Dominanz der Wannseebilder in den letzten Lebensjahren spiegelt aber auch den Rückzug des greisen Künstlers ins Privatissime und die Abkehr von einer Welt, die ihm von Jahr zu Jahr fremder geworden war. Sein letztes "Selbstbildnis im Malkittel mit Hut, Pinsel und Palette" vom Sommer 1934 zeigt Liebermann mit ernster, resignierter Miene und einem bitteren Zug um den Mund. Kurz zuvor hatte er in einem Brief an den Bürgermeister von Tel Aviv geschrieben: "Wie ein fürchterlicher Alpdruck lastet die Aufhebung der Gleichberechtigung auf uns allen, besonders aber den Juden, die wie ich, sich im Traume der Assimilation hingegeben hatten . . . Doch lege ich die Hände nicht in den Schoss und wäre es nur, damit die Arbeit mir über die Zeit, die ich noch zu leben habe, hinweghilft."
Seine beiden letzten Bilder wirken wie ein demonstratives Bekenntnis zum Judentum; es ist die alttestamentarische Szene der Rückkehr des jungen Tobias, der die Hoffnung auf Heilung von der Blindheit für den Vater bringen soll. Ein Freund, der ihn zuletzt besuchte und auf den Zusammenhang des Tobias-Themas mit seinem eigenen Erleben ansprach, schildert die Reaktion des Siebenundachtzigjährigen: "Er leugnete, meinte, daß er sich von äußeren Anlässen niemals in seiner Kunst habe leiten lassen; aber ich hatte doch das Gefühl, daß er nicht zugeben wollte, was ihn zutiefst bewegte. Denn gleich darauf sprach er mit einer nie gehörten Erregung von dem Zukunftswillen der Juden in Palästina, die es in jeder Weise zu fördern gelte."
Am 8. Februar 1935 abends stirbt Max Liebermann in seinem Berliner Haus am Pariser Platz, nachdem er kurz zuvor einer Bekannten seinen Lebensüberdruß und Abscheu vor der Menschheit, die ihn vor kurzem noch hofierte und nun verstieß, gestanden hatte. Drei Tage später folgten seinem Sarg nur noch wenige Getreue wie Max Scheffler, der einen kurzen Nachruf sprach. Die Akademie der Künste verweigerte ihrem langjährigen Präsidenten einen Kranz, jede offizielle Ehrung unterblieb.
Obwohl die gut ausgestattete Publikation (die einen aufschlußreichen Anhang mit zweifelhaften Arbeiten und Fälschungen, aber leider kein Personenregister enthält) auch gewisse auf Routine zurückzuführende Schwächen im Schaffen des Künstlers preisgibt, ist es für die deutsche Kunstwissenschaft wahrlich kein Ruhmesblatt, erst am Ende des Jahrhunderts das bis dato nur zu einem geringen Teil (von Gustav Pauli 1911 mit 304 Arbeiten und von Erich Hancke 1914 mit einem unbebilderten Verzeichnis von 624 Arbeiten) veröffentlichte Schaffen des Malers Max Liebermann als Corpus zu erschließen. Daß dies nun in so fundierter Form nachgeholt wurde, ist dem Engagement eines privaten Förderers, der das langjährige Projekt finanziert hat, zu verdanken.
Matthias Eberle: "Max Liebermann - Werkverzeichnis der Gemälde und Ölstudien". Band I: 1865 bis 1899. Band II: 1900 bis 1935. In Zusammenarbeit mit dem Paul Cassirer-Archiv (Walter Feilchenfeldt, Zürich) und mit Unterstützung der Erben Max Liebermanns. Hirmer Verlag, München 1995/1997. 520 S., 580 Abb., davon 170 in Farbe, und 1300 S., 1200 Abb., davon 240 in Farbe, geb., 1480,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das ganze Werk Max Liebermanns · Von Karin von Maur
Zum einhundertfünfzigsten Geburtstag von Max Liebermann, der in Berlin mit einer großen Retrospektive im Alten Museum begangen wird, liegt auch der zweibändige _uvrekatalog sämtlicher Gemälde des Künstlers geschlossen vor. Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Tod Liebermanns wird damit das rund 1600 Bilder umfassende malerische Werk in seiner Spannweite und chronologischen Entfaltung zum ersten Mal überschaubar.
Der erste Band, der die Jahre 1865 bis 1899 umfaßt, enthält die weithin bekannten Studien und Gemälde, die das holländische Alltagsleben wie "Altmännerhaus in Amsterdam" (1880), "Die große Bleiche" (1883) oder "Flachsscheuer in Laren" (1887) schildern. Entwickelt auf der Basis prägender Eindrücke von Frans Hals und Menzel, Munkácsy und Millet, trugen diese Bilder dem Sohn des begüterten Großindustriellen Louis Liebermann den zweifelhaften Ruf eines "sozialdemokratischen Armeleutemalers" ein. Dieses Verdikt kränkte den Künstler zutiefst, da es ihm vor allem darauf ankam, die natürliche Würde und das Arbeitsethos seiner überwiegend aus dem ländlichen und handwerklichen Milieu stammenden Modelle zum Ausdruck zu bringen.
Hingegen fand Liebermann in Paris, wo er seit den siebziger Jahren mit Künstlern des Barbizon-Kreises verkehrte und an den Ausstellungen des "Salon" teilnahm, frühe Anerkennung und prominente Käufer wie den Sänger Jean-Baptiste Faure. Nach seinem Paris-Aufenthalt fährt er nach Italien, wo er in Venedig Franz Lenbach trifft, auf dessen Empfehlung er nach München übersiedelt. Dort entsteht im Winter 1878/79 sein erstes Historienbild, "Der zwölfjährige Christus im Tempel", mit dem er sich in die Nähe von Fritz von Uhde begibt. Das Gemälde, das in seiner ursprünglichen Fassung den jungen Christus als flinken, nacktbeinigen Judenknaben mit struppigem schwarzem Haar zeigt, löste bei der dritten Münchner Kunstausstellung in Teilen der Bevölkerung Empörung und sogar eine Debatte im Bayerischen Landtag aus - ein Skandal, der Liebermann zum Verlassen Münchens veranlaßte. Vor 1884, als er das Bild seinem Freund Uhde schenkte, hat er den Jesusknaben in ein engelhaftes blondes Kind im langen weißen Hemd verwandelt. Fortan hegte Liebermann eine gewisse Scheu vor biblischen, mythologischen oder historischen Sujets, zumal ihm ohnehin alles Pathetische fernlag.
Zweifellos zeugen Liebermanns figurenreiche Kompositionen bis zur Jahrhundertwende trotz ihrer noch weitgehend tonigen Farbgebung von einer meisterlichen Beherrschung in der Wiedergabe atmosphärischer und psychologischer Stimmungen. Bestärkt durch Manet, dessen impressionistische Werke er 1896 während einer Paris-Reise mit Hugo von Tschudi bei Durand-Ruel kennenlernte, hellt sich seine Palette auf, und seine Pinselschrift wird offener und spontaner. Die erzählerischen und vielfach häuslichen Genremotive treten in den Hintergrund und werden zunehmend von luftigen Freilichtszenen abgelöst. Daß diese ersten drei Jahrzehnte auch im Zeichen des Kampfes für eine neue Kunst mit zeitgenössischen Themen jenseits von chauvinistischer Historien- oder schwülstiger Salonmalerei standen, erweisen Liebermanns kunstpolitische Aktivitäten, zum Beispiel anläßlich der Pariser Weltausstellung zum einhundertsten Jahrestag der Französischen Revolution 1889, wo er auf Einladung des Pariser Kommissars eine unabhängige Ausstellung deutscher Künstler organisierte, oder die Gründung von Künstlerzusammenschlüssen wie die "Vereinigung der 11" (als Vorläufer der Sezession). In Frankreich und Holland fand er ein liberales Geistesklima vor, das ihn anzog, weil es im Gegensatz zum preußischen Monarchismus stand, der unter Wilhelm II. das deutsche Kunstleben infiltrierte.
Der von Matthias Eberle mit bewundernswerter Akribie zusammengetragene und eingehend kommentierte _uvrekatalog geht über rein kunsthistorische Analysen, zum Beispiel zur Entstehungsgeschichte und zu den Werkzusammenhängen im Kontext der bedeutenden Kompositionen wie der "Netzeflickerinnen" und ihrer zahlreichen Vorstudien, weit hinaus. Vielmehr trägt der Autor durch seine sachkundigen Erläuterungen, namentlich bei den Waisenhausbildern, wesentlich zum Verständnis der historischen Hintergründe, soziologischen Strukturen und des strengen Reglements dieser karitativen Einrichtungen in den Niederlanden bei.
Max Liebermanns Vorliebe für diese Themen entsprang nicht zuletzt auch einem Interesse an der Gesellschaft. Schon als Pennäler hatte er die Reden und Schriften des Sozialrevolutionärs Ferdinand Lassalle, der sich für das allgemeine und gleiche Wahlrecht einsetzte, mit Begeisterung gelesen. So boten ihm die Kleinkinderschulen, Waisenhäuser und Altenheime, die in Holland eine lange Tradition haben, nicht nur realistische Motive, sondern auch modellhafte Programmbilder für eine intakte Solidargemeinschaft.
Der umfangreichere zweite Band, der das _uvre der Jahre 1900 bis 1935 umfaßt, läßt freilich auch deutlich die Wandlung erkennen, die sich in Liebermanns Malerei mit der wachsenden Anerkennung nach seinem fünfzigsten Geburtstag abzeichnete. Die rund tausend, oft weit weniger bekannten und zum Teil auch unpublizierten Gemälde dokumentieren den Übergang vom "Armeleutemaler" zum feinsinnigen Schilderer der Freizeitvergnügungen des Berliner Bürgertums und zum gefragtesten Porträtisten der Prominenz seiner Zeit. Die lange Reihe der Bildnisse, die Liebermanns Fähigkeit zur sensiblen Erfassung der Physiognomie und Geistesverfassung eines Menschen mit gleichzeitiger Wahrung einer taktvollen Distanz manifestiert, läßt die bedeutendsten Persönlichkeiten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik Revue passieren: Gerhart Hauptmann, Lovis Corinth und Max Slevogt, Richard Strauss, Arthur Nikisch, Wilhelm Bode, Samuel Fischer, Albert Einstein, Friedrich Naumann und Bernhard von Bülow, die Feldmarschälle Paul von Hindenburg und Karl von Bülow, die Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy und Julius Stern, Unternehmer und Industrielle (die vielfach Kunst sammelten) wie Edouard Arnhold, Otto Gerstenberg, Heinrich Kirchhoff, Emil Rathenau oder Leonhard Tietz. Von den 170 männlichen Porträts konnte bis auf sieben die Identität aller Dargestellten einschließlich genauer biographischer Daten ermittelt werden. Dies gilt auch für die weiblichen Bildnisse, darunter ein erst von Eberle identifiziertes Modell namens Anna-Christiane Mattuschka, zu dem Liebermann offenbar eine engere Beziehung hatte.
Durch die sorgfältig recherchierten Biographien, angereichert mit Äußerungen des Künstlers aus seiner Korrespondenz, stellt die lange Folge der Bildnisse eine wahre Enzyklopädie der führenden Repräsentanten des deutschen Kultur- und Wirtschaftslebens bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten dar. Daß Liebermann gleichfalls erst mit seiner wachsenden Etablierung als Künstler auch selbst ins Bild trat, bekunden die über fünfzig Selbstporträts, die bis auf eine Ausnahme erst nach der Jahrhundertwende entstehen und die den von preußischer Selbstdisziplin erfüllten Maler fast immer bei der Arbeit zeigen.
Die Werkphase der dreieinhalb Dezennien seit 1900 offenbart eine verstärkte Tendenz zur reinen Pleinairmalerei wie Straßenmotive aus Amsterdam, Tiergartenalleen oder Biergärten-Szenen, badende Knaben oder Reiter am Strand. Der Farbauftrag wechselt zwischen pastoser Modellierung und einer zügig-flächenhaften Strichtechnik, bleibt aber weitgehend formbetont und näher bei Degas, an den vor allem die Pferdedarstellungen erinnern. Erst ab 1918, in den zahlreichen Gartenbildern rings um sein Landhaus am Wannsee, nähert sich Liebermann der impressionistischen Pinseltextur eines Claude Monet, von dem er die 1874 gemalte Studie "Manet malt im Garten Monets in Argenteuil" besaß.
Die Dominanz der Wannseebilder in den letzten Lebensjahren spiegelt aber auch den Rückzug des greisen Künstlers ins Privatissime und die Abkehr von einer Welt, die ihm von Jahr zu Jahr fremder geworden war. Sein letztes "Selbstbildnis im Malkittel mit Hut, Pinsel und Palette" vom Sommer 1934 zeigt Liebermann mit ernster, resignierter Miene und einem bitteren Zug um den Mund. Kurz zuvor hatte er in einem Brief an den Bürgermeister von Tel Aviv geschrieben: "Wie ein fürchterlicher Alpdruck lastet die Aufhebung der Gleichberechtigung auf uns allen, besonders aber den Juden, die wie ich, sich im Traume der Assimilation hingegeben hatten . . . Doch lege ich die Hände nicht in den Schoss und wäre es nur, damit die Arbeit mir über die Zeit, die ich noch zu leben habe, hinweghilft."
Seine beiden letzten Bilder wirken wie ein demonstratives Bekenntnis zum Judentum; es ist die alttestamentarische Szene der Rückkehr des jungen Tobias, der die Hoffnung auf Heilung von der Blindheit für den Vater bringen soll. Ein Freund, der ihn zuletzt besuchte und auf den Zusammenhang des Tobias-Themas mit seinem eigenen Erleben ansprach, schildert die Reaktion des Siebenundachtzigjährigen: "Er leugnete, meinte, daß er sich von äußeren Anlässen niemals in seiner Kunst habe leiten lassen; aber ich hatte doch das Gefühl, daß er nicht zugeben wollte, was ihn zutiefst bewegte. Denn gleich darauf sprach er mit einer nie gehörten Erregung von dem Zukunftswillen der Juden in Palästina, die es in jeder Weise zu fördern gelte."
Am 8. Februar 1935 abends stirbt Max Liebermann in seinem Berliner Haus am Pariser Platz, nachdem er kurz zuvor einer Bekannten seinen Lebensüberdruß und Abscheu vor der Menschheit, die ihn vor kurzem noch hofierte und nun verstieß, gestanden hatte. Drei Tage später folgten seinem Sarg nur noch wenige Getreue wie Max Scheffler, der einen kurzen Nachruf sprach. Die Akademie der Künste verweigerte ihrem langjährigen Präsidenten einen Kranz, jede offizielle Ehrung unterblieb.
Obwohl die gut ausgestattete Publikation (die einen aufschlußreichen Anhang mit zweifelhaften Arbeiten und Fälschungen, aber leider kein Personenregister enthält) auch gewisse auf Routine zurückzuführende Schwächen im Schaffen des Künstlers preisgibt, ist es für die deutsche Kunstwissenschaft wahrlich kein Ruhmesblatt, erst am Ende des Jahrhunderts das bis dato nur zu einem geringen Teil (von Gustav Pauli 1911 mit 304 Arbeiten und von Erich Hancke 1914 mit einem unbebilderten Verzeichnis von 624 Arbeiten) veröffentlichte Schaffen des Malers Max Liebermann als Corpus zu erschließen. Daß dies nun in so fundierter Form nachgeholt wurde, ist dem Engagement eines privaten Förderers, der das langjährige Projekt finanziert hat, zu verdanken.
Matthias Eberle: "Max Liebermann - Werkverzeichnis der Gemälde und Ölstudien". Band I: 1865 bis 1899. Band II: 1900 bis 1935. In Zusammenarbeit mit dem Paul Cassirer-Archiv (Walter Feilchenfeldt, Zürich) und mit Unterstützung der Erben Max Liebermanns. Hirmer Verlag, München 1995/1997. 520 S., 580 Abb., davon 170 in Farbe, und 1300 S., 1200 Abb., davon 240 in Farbe, geb., 1480,- DM.
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