Bereits als Dreizehnjähriger studiert er die Werke Machiavellis und Luthers, mit neunundzwanzig wird er Professor, er ist zeitweise glühender Nationalist und sieht sich als Gesellschaftstourist dennoch gern den American Way of Life an: Max Weber (1864 - 1920) gehört nicht nur zu den einflussreichsten Denkern der Moderne, sondern ist zugleich eine der schillerndsten, widersprüchlichsten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Er leidet an der zeittypischen «Nervenkrankheit», arbeitet wie besessen und vollendet dennoch kaum ein Buch; selbst sein Hauptwerk «Wirtschaft und Gesellschaft » erscheint erst posthum. Webers Bedeutung als Soziologe und Volkswirt, Historiker und Jurist ist unumstritten - seine Aufsätze haben Generationen von Akademikern und Politikern beeinflusst, weltweit -, aber was prägte ihn selbst, was trieb ihn an? Als Mensch ist Max Weber bis heute ein Geheimnis geblieben. Jürgen Kaube, einer der renommiertesten deutschen Wissenschaftsjournalisten, versucht in seiner mitreißend geschriebenen, anlässlich des 150. Geburtstags von Max Weber erscheinenden Biographie, dieses rastlose, stets am Rande der Erschöpfung geführte Leben zu ergründen - und entwirft zugleich ein faszinierendes Zeitbild der ersten großen Phase der Moderne.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2014JÜRGEN KAUBE, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, hat eine Biographie Max Webers geschrieben. 1864 geboren und 1920 gestorben, war dieser Ökonom und Soziologe eine zerrissene Existenz. Mit Ende zwanzig Professor, mit Anfang dreißig in Sanatorien, schrieb er danach rastlos die Werke, auf denen sein Weltruhm gründet: über die Anfänge des Kapitalismus, das Erlösungsdenken der Weltreligionen, die Soziologie der Herrschaft. Das Buch erläutert Webers Gedanken als Antworten auf die Frage: Was ist bürgerliche Lebensführung? Sie erzählt von Familiendramen des Großbürgertums, vom universitären Leben, von Nervenkrisen und der "erotischen Bewegung". Was machte Heidelberg zum Zentrum der geistigen Welt? Wie konnte Weber zugleich Patriot und Verächter der deutschen Mentalität sein? Weshalb war er stets duellbereit? (Jürgen Kaube: "Max Weber". Ein Leben zwischen den Epochen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 496 S., geb., 26,95 [Euro].)
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.01.2014Der Großvater des zwanzigsten Jahrhunderts
Musterfall einer intellektuellen Biografie – Jürgen Kaubes reiches und witziges Buch über den Soziologen Max Weber
Über Max Weber weiß man unendlich viel, aber eine moderne intellektuelle Biografie gab es bisher nicht. Joachim Radkaus monumentales Werk von 2005 erschloss zwar enorme Mengen ungedruckten Materials aus dem privaten Umfeld, aber es verlor sich auch in psychologischen Spekulationen von zweifelhafter Aussagekraft. Eheprobleme, Schwierigkeiten mit der Sexualität nahmen mehr Raum darin ein als die Erörterung von Webers Grundgedanken in der „Protestantischen Ethik“ oder seiner drei Formen legitimer Herrschaft. Das hätte aufschlussreich sein können, wenn der Historiker Radkau den biografischen Sonderfall, der sich gewiss nicht verallgemeinern lässt, etwas präziser in der Epoche lokalisiert hätte. Wie war es möglich, dass die Frauen in Webers Umgebung sich so offenherzig über dessen nervös gehemmtes Triebleben austauschen konnten?
Jürgen Kaube, der neue Biograf, der jetzt zum 150. Geburtstag eine nur halb so lange Darstellung vorlegt, berichtet von solchen Details genügend, um dem Leser ein Bild zu geben, aber er hält sich nicht über Gebühr dabei auf. Auch sein Ansatz ist biografistisch, wie nicht; aber er fragt nach Webers sozialen und kulturellen Erfahrungen und will daraus Webers Fragen begreifen. So schaut er sich gleich zu Beginn die Bücher an, die Weber als Jugendlicher liest, beschreibt die Religiosität seiner Mutter und den Liberalismus in der städtischen Gesellschaft, in der Webers Vater als Politiker und Verwaltungsmann tätig ist.
Wichtiger als manches private Detail ist Kaube, der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist, zum Beispiel eine Selbstkritik des deutschen Liberalismus, die Webers Onkel Eduard Baumgarten 1866, zwei Jahre nach dessen Geburt verfasste; sie zog ein bitteres Fazit aus Bismarcks Erfolgen, die er unter Missachtung des parlamentarischen Budgetrechts in Preußen errang: „Wenn die Wähler eines großen Staates wiederholt in ihrer Mehrheit ein Regiment für verfassungswidrig, staatsverderblich erklären und es dabei bewenden lassen, dass diese Erklärung keinen Effekt hat, so fügen sie der öffentlichen Moral einen schlimmeren Schaden zu, als wenn sie resignieren, mit einem solchen Regiment ein leidliches Abkommen zu treffen.“ Man sieht: Webers Themen haben eine Geschichte, seine Kritik an Bismarck-Kult und politischer Unreife des deutschen Bürgertums kommt sozusagen aus der Familie.
Dieses Thema verfolgt der Biograf dann bis zum Schluss, wo er zeigt, wie Weber im Ersten Weltkrieg für die Parlamentarisierung des Deutschen Reichs kämpft – übrigens nicht vorrangig aus demokratischen Motiven, sondern weil ihm ein mächtiges Parlament als beste Schmiede fähiger Berufspolitiker erscheint. Wenn Kaube die drei Formen legitimer Herrschaft vorstellt, dann kann er feststellen, dass die Bismarck’sche Reichsverfassung mit ihrer traditionalen Vorherrschaft der Aristokratie (die aber längst zu einer Agrarlobby verkommen war) und der rationalen Herrschaft des preußischen Beamtenapparats eine Weber „speziell unerträgliche Mischform von Herrschaft“ darstellte. Unerträglich warum? Weil Webers Typologie im Unterschied zu herkömmlichen Verfassungsmodellen wie „Monarchie“ oder „Demokratie“ nach den Chancen auf Gehorsam in den unterschiedlichen Herrschaftsformen fragt, sie geht also von den Beherrschten aus – warum wird gehorcht, warum besteht eine Herrschaftsform überhaupt? Vor allem: Was tut das mit den Gehorchenden und ihrer Moral?
Sehr witzig fasst Kaube, der sich hier als Luhmann-Schüler beweist, zusammen: „Der charismatische Herrscher ist also eine Krisenfigur, ihm wird gefolgt, wenn andere Erklärungen versagen, ihm neigen diejenigen zu, die von überlieferten Alltagsordnungen und Regeln – ,so haben wir das immer gemacht‘, ,dafür gibt es eine technische Lösung‘, ,dafür ist der Kollege zuständig‘ – nicht mehr überzeugt sind.“ Im Kontext dieser Biografie ist auch der Dichter Stefan George, von Weber „Weihen-Stefan“ genannt, ein Anschauungsbeispiel für charismatische Herrschaft. Von hier aus öffnen sich etliche weitere Blicke auf den Charisma-Begriff, bis zu den charismatischen altjüdischen Propheten, die einen „Wortgott“ gegen ein magisches Weltbild und gegen die Anbetung der Natur und ihrer Götter ins Feld führten.
Weber sprach in seiner Studie über das Judentum von der „Randständigkeit“ neuer religiöser Bewegungen, die so gut wie nie in den hochentwickelten Zentren einer Kultur entstehen, in denen Rationalität und Kultur einleuchten; Charismatiker kommen oft aus der Peripherie, wie Christus, Mohammed, Franziskus oder Luther und Calvin zeigen. Kaube: „Soll man an dieser Stelle fortsetzen: Hitler, Stalin? Und George?“ Von solchen Einfällen ist sein Buch voll, das sich schon Zeit fürs Erzählen nimmt, aber seine größte Freude im Drehen und Wenden von Webers unendlich fruchtbaren Gedanken findet. Das knappste Resümee des Widerstreits von Gesinnungs- und Verantwortungsethik dürfte Kaube geliefert haben: „Letztlich handeln Gesinnungsethiker in Bezug auf ihre Folgen ritualistisch, Verantwortungsethiker in Bezug auf Gesinnungen technisch.“
Von diesem Geist eines erwachsenen Respekts, der es nicht nötig hat, Zitate nachzubeten, sondern der lieber mit Argumenten spielt, lebt Kaubes Biografie. Aber der Leser darf sich auch darauf verlassen, dass die meisten von Webers berühmten Begriffen und Formeln, „Entzauberung“, „Rationalisierung“, „Askese“, die „Fachmenschen ohne Geist“, „Polytheismus der Wertsphären“, ihren Auftritt und ihre Erläuterung bekommen. Warum provoziert bis heute in den südlichen Ländern die Vorstellung so, mit Hilfe des Euro werde nun auch am Mittelmeer die „protestantische Ethik“ durchgesetzt? Zwar liegen hier gewaltige Missverständnisse vor: Weber schrieb über Puritaner und Calvinisten, nicht über das Luthertum, wie italienische Zeitungsartikel gelegentlich suggerieren, auch erklärt Weber, dass das protestantische Ethos, nachdem die Maschinerie des Kapitalismus in Gang gekommen ist, gar nicht mehr gebraucht wird, schließlich war die Wohlstandsexplosion durch Gewinnhortung eine Nebenfolge des religiösen Ethos, die sich dann verselbständigte. Aber es stimmt, dass Webers Frage der „Lebensführung“ gilt, und das spüren Gesellschaften, denen man sagt, sie sollten „ihre Hausaufgaben machen“.
Mit diskreter Souveränität behandelt Kaube dann auch die von Radkau ans Licht gebrachten psychophysischen Leiden Webers. Die erschreckende Trinkfestigkeit und Gefräßigkeit des jungen Gelehrten, der die Männlichkeitsrituale der wilhelminischen Soldaten- und Studentengeselligkeit absolviert, kommt drastisch ins Bild, ebenso der Wandel in der Besprechung erotischer Probleme im Übergang der Welt von Fontanes „Effi Briest“ oder der Dramen Ibsens zu Wedekind und Karl Kraus.
Dass Webers Frau Marianne dessen Liebschaften mit Mina Tobler und Else Jaffé-von Richthofen nicht nur duldete, sondern uneigennützig förderte, nötigt dem Biografen einen fast arios formulierten Respekt ab. Urkomisch sind die begleitenden Affären vor allem Elses, in denen auch Max Webers Bruder Alfred eine wichtige Rolle spielte. Die erste Frau, die in Deutschland Beamtin wurde, nahm sich auch das Recht, Liebhaber nur für Sex zu haben, ohne das zu verbergen – ein buchenswertes Datum.
Webers Krankengeschichte, sein „Zusammenbruch“, ist hier auch ein Kapitel der Medizin-Geschichte, das zeigt, was für ein neues Konzept die Vorstellung von „Nerven“ war, und in welchem Chaos von Behandlungsformen die gepeinigten Patienten zwischen Beruhigung und Aufregung hin- und hergeschubst wurden.
Webers Biografie fordert so, ganz im Geiste ihres Helden, zu sachlicher Befassung mit mehreren Wirklichkeiten heraus: Webers Heidelberg mit seinen Professoren – deren Geselligkeiten einen enormen Delikatessenhandel florieren ließen – kommt ebenso ins Bild wie Webers Amerika: Die expressive Christlichkeit der Farbigen ist hier nicht marxistisch ein „Opium“, sondern weberisch ein Bestehen auf der Illegitimität der Rassentrennung. Webers tastendes, am Ende ablehnendes Verhältnis zum modischen Rasse-Begriff ist Kaube ein eigenes Kapitel wert, ebenso seine lebenslang in Verleumdungsprozessen und Duelldrohungen ausgelebte ehrversessene Streitsucht.
Von Ehrgefühlen befeuert waren auch Webers erste Stellungnahmen im Weltkrieg, jener Nationalismus, den Kaube „die Art von Literatentum, die sich Weber zeit seines Lebens genehmigte“, nennt, in einem Chaos von Weltanschauungsangeboten mit vielen „neo“-Präfixen (Neugotik, Neuromantik), das als „Diktatur des Antiquariats“ beschrieben wird. In diesem Umfeld erhält Webers asketischer Begriff von Wissenschaft als Beruf seine Würde, ebenso wie Politik als Beruf, die Professionalität im Machtkampf, von der „Literaten“ keine Ahnung haben.
Mit bewundernswert leichter Hand entwirft Kaube ein intellektuelles Panorama, in dem die Kapitalismus-Theorien von Georg Simmel und Werner Sombart ihren Platz finden, Kafkas Rezeption eines Bürokratie-Aufsatzes von Alfred Weber und die Schüler Max Webers, die sich dann den unterschiedlichen Strömungen des Totalitären anschlossen: Robert Michels, Georg Lukács und Carl Schmitt. Dass man mit den Begriffen dieses Großvaters des zwanzigsten Jahrhunderts auch noch bis weit in dessen spätere Entwicklung leuchten kann, zeigt Kaubes kurze Bemerkung zum sowjetischen Regime als „bürokratischer Ordnung, deren Hauptmerkmal die Ausschaltung von Opposition war“. „War diese Vorstellung, ein ganzes Land wie eine Organisation zu betrachten, nicht wiederum eine Literatenphantasie? Ja, aber eine wirksame“: Die Sowjetunion als „rationale Herrschaft“, der die Erneuerungsimpulse durch demokratische Wahlen fehlen.
Max Weber ist ein großer Lehrer, nicht durch einzelne Thesen, sondern durch Begriffsbildungen, die beweglich bleiben für neue Wirklichkeiten. Woher sie kamen, das zeigt diese Biografie, vor allem aber: wie viel sich immer noch damit anstellen lässt. Was will man mehr von einem Klassiker?
GUSTAV SEIBT
Auch Stefan George steht für
charismatische Herrschaft.
Weber nennt ihn „Weihen-Stefan“
Webers Geliebte Else nahm
sich auch das Recht heraus,
Liebhaber nur für Sex zu haben
Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 496 Seiten, 26,95 Euro,
E-Book 23,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Musterfall einer intellektuellen Biografie – Jürgen Kaubes reiches und witziges Buch über den Soziologen Max Weber
Über Max Weber weiß man unendlich viel, aber eine moderne intellektuelle Biografie gab es bisher nicht. Joachim Radkaus monumentales Werk von 2005 erschloss zwar enorme Mengen ungedruckten Materials aus dem privaten Umfeld, aber es verlor sich auch in psychologischen Spekulationen von zweifelhafter Aussagekraft. Eheprobleme, Schwierigkeiten mit der Sexualität nahmen mehr Raum darin ein als die Erörterung von Webers Grundgedanken in der „Protestantischen Ethik“ oder seiner drei Formen legitimer Herrschaft. Das hätte aufschlussreich sein können, wenn der Historiker Radkau den biografischen Sonderfall, der sich gewiss nicht verallgemeinern lässt, etwas präziser in der Epoche lokalisiert hätte. Wie war es möglich, dass die Frauen in Webers Umgebung sich so offenherzig über dessen nervös gehemmtes Triebleben austauschen konnten?
Jürgen Kaube, der neue Biograf, der jetzt zum 150. Geburtstag eine nur halb so lange Darstellung vorlegt, berichtet von solchen Details genügend, um dem Leser ein Bild zu geben, aber er hält sich nicht über Gebühr dabei auf. Auch sein Ansatz ist biografistisch, wie nicht; aber er fragt nach Webers sozialen und kulturellen Erfahrungen und will daraus Webers Fragen begreifen. So schaut er sich gleich zu Beginn die Bücher an, die Weber als Jugendlicher liest, beschreibt die Religiosität seiner Mutter und den Liberalismus in der städtischen Gesellschaft, in der Webers Vater als Politiker und Verwaltungsmann tätig ist.
Wichtiger als manches private Detail ist Kaube, der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist, zum Beispiel eine Selbstkritik des deutschen Liberalismus, die Webers Onkel Eduard Baumgarten 1866, zwei Jahre nach dessen Geburt verfasste; sie zog ein bitteres Fazit aus Bismarcks Erfolgen, die er unter Missachtung des parlamentarischen Budgetrechts in Preußen errang: „Wenn die Wähler eines großen Staates wiederholt in ihrer Mehrheit ein Regiment für verfassungswidrig, staatsverderblich erklären und es dabei bewenden lassen, dass diese Erklärung keinen Effekt hat, so fügen sie der öffentlichen Moral einen schlimmeren Schaden zu, als wenn sie resignieren, mit einem solchen Regiment ein leidliches Abkommen zu treffen.“ Man sieht: Webers Themen haben eine Geschichte, seine Kritik an Bismarck-Kult und politischer Unreife des deutschen Bürgertums kommt sozusagen aus der Familie.
Dieses Thema verfolgt der Biograf dann bis zum Schluss, wo er zeigt, wie Weber im Ersten Weltkrieg für die Parlamentarisierung des Deutschen Reichs kämpft – übrigens nicht vorrangig aus demokratischen Motiven, sondern weil ihm ein mächtiges Parlament als beste Schmiede fähiger Berufspolitiker erscheint. Wenn Kaube die drei Formen legitimer Herrschaft vorstellt, dann kann er feststellen, dass die Bismarck’sche Reichsverfassung mit ihrer traditionalen Vorherrschaft der Aristokratie (die aber längst zu einer Agrarlobby verkommen war) und der rationalen Herrschaft des preußischen Beamtenapparats eine Weber „speziell unerträgliche Mischform von Herrschaft“ darstellte. Unerträglich warum? Weil Webers Typologie im Unterschied zu herkömmlichen Verfassungsmodellen wie „Monarchie“ oder „Demokratie“ nach den Chancen auf Gehorsam in den unterschiedlichen Herrschaftsformen fragt, sie geht also von den Beherrschten aus – warum wird gehorcht, warum besteht eine Herrschaftsform überhaupt? Vor allem: Was tut das mit den Gehorchenden und ihrer Moral?
Sehr witzig fasst Kaube, der sich hier als Luhmann-Schüler beweist, zusammen: „Der charismatische Herrscher ist also eine Krisenfigur, ihm wird gefolgt, wenn andere Erklärungen versagen, ihm neigen diejenigen zu, die von überlieferten Alltagsordnungen und Regeln – ,so haben wir das immer gemacht‘, ,dafür gibt es eine technische Lösung‘, ,dafür ist der Kollege zuständig‘ – nicht mehr überzeugt sind.“ Im Kontext dieser Biografie ist auch der Dichter Stefan George, von Weber „Weihen-Stefan“ genannt, ein Anschauungsbeispiel für charismatische Herrschaft. Von hier aus öffnen sich etliche weitere Blicke auf den Charisma-Begriff, bis zu den charismatischen altjüdischen Propheten, die einen „Wortgott“ gegen ein magisches Weltbild und gegen die Anbetung der Natur und ihrer Götter ins Feld führten.
Weber sprach in seiner Studie über das Judentum von der „Randständigkeit“ neuer religiöser Bewegungen, die so gut wie nie in den hochentwickelten Zentren einer Kultur entstehen, in denen Rationalität und Kultur einleuchten; Charismatiker kommen oft aus der Peripherie, wie Christus, Mohammed, Franziskus oder Luther und Calvin zeigen. Kaube: „Soll man an dieser Stelle fortsetzen: Hitler, Stalin? Und George?“ Von solchen Einfällen ist sein Buch voll, das sich schon Zeit fürs Erzählen nimmt, aber seine größte Freude im Drehen und Wenden von Webers unendlich fruchtbaren Gedanken findet. Das knappste Resümee des Widerstreits von Gesinnungs- und Verantwortungsethik dürfte Kaube geliefert haben: „Letztlich handeln Gesinnungsethiker in Bezug auf ihre Folgen ritualistisch, Verantwortungsethiker in Bezug auf Gesinnungen technisch.“
Von diesem Geist eines erwachsenen Respekts, der es nicht nötig hat, Zitate nachzubeten, sondern der lieber mit Argumenten spielt, lebt Kaubes Biografie. Aber der Leser darf sich auch darauf verlassen, dass die meisten von Webers berühmten Begriffen und Formeln, „Entzauberung“, „Rationalisierung“, „Askese“, die „Fachmenschen ohne Geist“, „Polytheismus der Wertsphären“, ihren Auftritt und ihre Erläuterung bekommen. Warum provoziert bis heute in den südlichen Ländern die Vorstellung so, mit Hilfe des Euro werde nun auch am Mittelmeer die „protestantische Ethik“ durchgesetzt? Zwar liegen hier gewaltige Missverständnisse vor: Weber schrieb über Puritaner und Calvinisten, nicht über das Luthertum, wie italienische Zeitungsartikel gelegentlich suggerieren, auch erklärt Weber, dass das protestantische Ethos, nachdem die Maschinerie des Kapitalismus in Gang gekommen ist, gar nicht mehr gebraucht wird, schließlich war die Wohlstandsexplosion durch Gewinnhortung eine Nebenfolge des religiösen Ethos, die sich dann verselbständigte. Aber es stimmt, dass Webers Frage der „Lebensführung“ gilt, und das spüren Gesellschaften, denen man sagt, sie sollten „ihre Hausaufgaben machen“.
Mit diskreter Souveränität behandelt Kaube dann auch die von Radkau ans Licht gebrachten psychophysischen Leiden Webers. Die erschreckende Trinkfestigkeit und Gefräßigkeit des jungen Gelehrten, der die Männlichkeitsrituale der wilhelminischen Soldaten- und Studentengeselligkeit absolviert, kommt drastisch ins Bild, ebenso der Wandel in der Besprechung erotischer Probleme im Übergang der Welt von Fontanes „Effi Briest“ oder der Dramen Ibsens zu Wedekind und Karl Kraus.
Dass Webers Frau Marianne dessen Liebschaften mit Mina Tobler und Else Jaffé-von Richthofen nicht nur duldete, sondern uneigennützig förderte, nötigt dem Biografen einen fast arios formulierten Respekt ab. Urkomisch sind die begleitenden Affären vor allem Elses, in denen auch Max Webers Bruder Alfred eine wichtige Rolle spielte. Die erste Frau, die in Deutschland Beamtin wurde, nahm sich auch das Recht, Liebhaber nur für Sex zu haben, ohne das zu verbergen – ein buchenswertes Datum.
Webers Krankengeschichte, sein „Zusammenbruch“, ist hier auch ein Kapitel der Medizin-Geschichte, das zeigt, was für ein neues Konzept die Vorstellung von „Nerven“ war, und in welchem Chaos von Behandlungsformen die gepeinigten Patienten zwischen Beruhigung und Aufregung hin- und hergeschubst wurden.
Webers Biografie fordert so, ganz im Geiste ihres Helden, zu sachlicher Befassung mit mehreren Wirklichkeiten heraus: Webers Heidelberg mit seinen Professoren – deren Geselligkeiten einen enormen Delikatessenhandel florieren ließen – kommt ebenso ins Bild wie Webers Amerika: Die expressive Christlichkeit der Farbigen ist hier nicht marxistisch ein „Opium“, sondern weberisch ein Bestehen auf der Illegitimität der Rassentrennung. Webers tastendes, am Ende ablehnendes Verhältnis zum modischen Rasse-Begriff ist Kaube ein eigenes Kapitel wert, ebenso seine lebenslang in Verleumdungsprozessen und Duelldrohungen ausgelebte ehrversessene Streitsucht.
Von Ehrgefühlen befeuert waren auch Webers erste Stellungnahmen im Weltkrieg, jener Nationalismus, den Kaube „die Art von Literatentum, die sich Weber zeit seines Lebens genehmigte“, nennt, in einem Chaos von Weltanschauungsangeboten mit vielen „neo“-Präfixen (Neugotik, Neuromantik), das als „Diktatur des Antiquariats“ beschrieben wird. In diesem Umfeld erhält Webers asketischer Begriff von Wissenschaft als Beruf seine Würde, ebenso wie Politik als Beruf, die Professionalität im Machtkampf, von der „Literaten“ keine Ahnung haben.
Mit bewundernswert leichter Hand entwirft Kaube ein intellektuelles Panorama, in dem die Kapitalismus-Theorien von Georg Simmel und Werner Sombart ihren Platz finden, Kafkas Rezeption eines Bürokratie-Aufsatzes von Alfred Weber und die Schüler Max Webers, die sich dann den unterschiedlichen Strömungen des Totalitären anschlossen: Robert Michels, Georg Lukács und Carl Schmitt. Dass man mit den Begriffen dieses Großvaters des zwanzigsten Jahrhunderts auch noch bis weit in dessen spätere Entwicklung leuchten kann, zeigt Kaubes kurze Bemerkung zum sowjetischen Regime als „bürokratischer Ordnung, deren Hauptmerkmal die Ausschaltung von Opposition war“. „War diese Vorstellung, ein ganzes Land wie eine Organisation zu betrachten, nicht wiederum eine Literatenphantasie? Ja, aber eine wirksame“: Die Sowjetunion als „rationale Herrschaft“, der die Erneuerungsimpulse durch demokratische Wahlen fehlen.
Max Weber ist ein großer Lehrer, nicht durch einzelne Thesen, sondern durch Begriffsbildungen, die beweglich bleiben für neue Wirklichkeiten. Woher sie kamen, das zeigt diese Biografie, vor allem aber: wie viel sich immer noch damit anstellen lässt. Was will man mehr von einem Klassiker?
GUSTAV SEIBT
Auch Stefan George steht für
charismatische Herrschaft.
Weber nennt ihn „Weihen-Stefan“
Webers Geliebte Else nahm
sich auch das Recht heraus,
Liebhaber nur für Sex zu haben
Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 496 Seiten, 26,95 Euro,
E-Book 23,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Alexander Cammann hat gleich zwei Biografien des vor 150 Jahren geborenen Soziologen Max Weber gelesen, denen er viel abgewinnen kann. Der Volkswirt und stellvertretende Feuilleton-Chef der FAZ, Jürgen Kaube, betrachtet Max Weber im Zeitkontext der großen Umwälzungen in Politik und Gesellschaft, stellt der Rezensent fest. Besonders erhellend und lesenswert fand Cammann Kaubes Darstellung von Webers Situation zur Zeit seines Nervenzusammenbruchs 1898, hier hat er die spezielle "Konstellation" von intellektueller Unbehaustheit und sexueller Unzufriedenheit sehr deutlich herausgearbeitet, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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