Max Weber ist einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, doch er war nicht unser Zeitgenosse. Dirk Kaesler zeigt in seiner lang erwarteten, glänzend erzählten Biographie Max Weber im Koordinatensystem seiner eigenen Epoche - zwischen der Gründung des Deutschen Kaiserreichs und seinem Untergang. Nur wenige Denker werden so häufig als Interpret unserer Gegenwart in Anspruch genommen wie Max Weber. Etwa, wenn es um die Frage geht, ob Politiker "Charisma" haben oder nicht, wenn behauptet wird, dass Politik das "Bohren harter Bretter" sei oder wenn erörtert wird, ob der Protestantismus "Schuld" am Kapitalismus trage. Doch es war nicht unsere Welt, die Weber zu seinen Theorien inspirierte. Dirk Kaesler rekonstruiert die Entstehung von Webers Werk im Kontext der damaligen Ideen und Kontroversen, zeichnet seine wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten nach und entschlüsselt eindrucksvoll den Menschen Max Weber. Dabei wird deutlich, wie sehr sowohl das wissenschaftliche Werk als auch das lebenslange politische Engagement dieses Mannes untrennbar mit seinen diversen Familiensystemen verbunden waren und nur aus diesen verstanden werden können. Leben wie Werk Max Webers sind vorgeprägt von Vorfahren, Großeltern, Eltern und Geschwistern, deutschen Städten und ihren Bürgern. Seine bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen sind zugleich das Werk seines eigenen Lebens wie auch das jener vielen Menschen, die dieses Leben begleitet und mitbestimmt haben.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dirk Kaeslers Biografie über Max Weber hat bei Gangolf Hübinger keinen ganz runden Eindruck hinterlassen. Das Leben des Begründers der Soziologie ist seines Wissens noch nie derart umfassend dargestellt worden wie in diesem Tausendseiten-Wälzer, in dem Kaesler, emeritierter Soziologieprofessor, die Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit Weber gezogen hat. Er findet in dem Buch bei der eingehenden Darstellung von Webers Schriften viele "anregende Akzente", vermisst aber eine konkrete Fragestellung, die über den thematischen Fokus des Untertitels "Preuße, Denker, Muttersohn" hinausgeht. "Preuße" scheint ihm Weber eher in dem Sinn, dass er negativ auf Preußen fixiert gewesen sei. Als "Denker" kann ihn Hübinger dagegen nicht genug rühmen und stimmt hier mit Kaesler sehr überein, während er dessen Charakterisierung Webers als "Muttersohn" insofern differenziert, als er die Mutter vor allem als finanziellen Rückhalt sieht. Der wissenschaftlichen Wert dieser Biografie wird für Hübinger dadurch deutlich beeinträchtigt, dass der Autor aus "stilistischen Gründen" darauf verzichtet hat, seine Zitate zu belegen. Als "roman vrai" erachtet der Rezensent diese Weber-Biografie dennoch für "lesenswert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2014Der letzte Universalgelehrte - ein Preuße?
Die Faszination schreibt immer mit: Dirk Kaesler will mit seiner monumentalen Biographie Max Weber entzaubern.
Groß war stets das Lamento. Da wird die Max-Weber-Gesamtausgabe bald fertiggestellt sein, und noch immer fehlt es an einer Biographie, die über Werk und Person des "Mythos aus Heidelberg" aufzuklären vermag. So blieb Marianne Webers "Lebensbild" aus dem Jahre 1926, an Authentizität und Verehrungswillen ohnehin nicht zu übertreffen, die Richtschnur für alle biographisch orientierten Weber-Interpretationen. Das änderte sich vor einiger Zeit mit Joachim Radkaus großem Versuch, "Die Leidenschaft des Denkens" bei Weber nachzuzeichnen. Es folgte Dirk Kaeslers "kleiner Weber" aus dem Jahre 2011.
Zu Webers bevorstehendem Geburtstag am 21. April erschien Anfang des Jahres Jürgen Kaubes anregende wie informative Biographie, die auch bei einem breiteren Publikum die Neugier auf den letzten Universalgelehrten der Moderne wecken könnte. Und nun folgt Kaeslers "großer Weber". Was erwartet uns? Eine erschöpfende Lektüre: Auf mehr als tausend Seiten hat der Weber-Forscher alles ausgebreitet, was er in fast zwanzigjähriger Arbeit aufgespürt hat. Wer so lange und tief schürft, wird am Ende auch Kleinigkeiten als aufregende Neuigkeiten wertzuschätzen lernen. Das ist die bekannte "déformation professionelle" aller Historiker und Philologen.
Die Stoßrichtung seiner Interpretation ist die Korrektur des "Lebensbildes", und Marianne Weber ist in Kaeslers Buch in der Tat allgegenwärtig. Zuweilen werden ganze Textpassagen von ihr zitiert, um sie dann berichtigen zu können. Eine richtige und wichtige Korrektur betrifft zweifellos das Vaterbild, denn Max Weber senior war mehr als ein Bonvivant und Honoratiorenpolitiker. So wird seine erfolgreiche politische Karriere minutiös nachgezeichnet, sein Wirken ausführlich beschrieben. Da ist der Junior noch gar nicht geboren.
Aber muss der Leser im Detail wirklich erfahren, was Weber senior im Erfurter Stadtrat im Einzelnen gemacht hat, nur weil es der Biograph (wohlgemerkt: von Weber junior) herausgefunden hat? Es ist diese Unwucht zwischen "petits faits" und den großen Linien eines neuen Lebensbildes, die irritiert. Viele zutreffende Einschätzungen werden so regelrecht zugedeckt oder geraten zu Randbemerkungen. Zudem stört der Stil, denn Kaesler kann sich nicht entscheiden zwischen einer ruhigen Erzählweise, wie sie gute Historiker für ihre Heroen wählen, und dem Zeigefinger des Professors, der wie ein Theaterregisseur den Leser mit Hinweisen und Wegemarken traktiert.
Manche seiner Charakterisierungen lösen Verwunderung aus. So diskutiert Kaesler, dass Weber zwar wohl intelligent, aber doch vor allem fleißig, weil enorm belesen war. Das wäre ungefähr so, als habe Einstein seine Relativitätstheorie nur durch Lernen, aber nicht durch Intelligenz entdeckt. Weber gilt dem Biographen als Preuße. Der Jurist, Ökonom, Historiker und Soziologe wurde in der Tat in Preußen geboren, weil Erfurt 1864 zu Preußen gehörte, wie uns in einem langen Exkurs zur Stadt Erfurt mitgeteilt wird. Aber ist er deshalb Preuße? Wenn ja, dann mit großer Ambivalenz, wie seine Hassliebe zu Bismarck und seine Verachtung für Wilhelm II. zeigen. Und warum hat er es wohl vorgezogen, sein Leben im freien und liberalen Baden, erst in Freiburg und dann in Heidelberg, zu verbringen, am Ende dann in Wien und München, und eben nicht in Preußen?
Wenn damit das Männlichkeitsideal gemeint ist, Selbstbeherrschung und Gefühlsunterdrückung, dann ist das vor allem großbürgerlich und gilt bis auf den heutigen Tag. Wenn es sein Burschenschaftlertum, seine Duell- und Prozessierungsneigung unterstreichen soll, so verweist das zwar auf einen bei ihm in der Tat stark ausgeprägten Begriff von Ehre und Anstand. Dennoch ist Weber, wie Kaesler konzediert, kein Diederich Heßling, so dass sich Heinrich Manns "Untertan", der wilhelminische Mensch par excellence, von ihm denkbar stark unterscheidet. Weber selbst hat Heidelberg als seine Heimat begriffen, nicht Berlin oder Erfurt.
Weber wird als Muttersohn charakterisiert. Das stimmt, wenn es die unverbrüchlich enge Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter Helene zum Ausdruck bringen soll. Aber er, der sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnet hat, konnte mit der pietistisch gefärbten Ethik seiner Mutter nicht viel anfangen. Dass die Religion eine der wichtigsten Mächte der Lebensführung vor allem traditionaler Gesellschaften war, musste ihm auch nicht erst seine Mutter beibringen, sondern das war eine Tatsache noch im protestantisch gefärbten Kaiserreich. Kaeslers eigene Korrektur des Vaterbildes betont dessen Vorbildrolle: Also - Muttersohn oder Vatersohn?
Dirk Kaesler hat uns einen barocken Weber beschert, etwas pompös, mit viel Zierrat und Girlanden ausgeschmückt, eher katholisch im Sinne von "catholicus" oder umfassend als protestantisch, also prägnant und bescheiden. Es ist eine feine Ironie, dass er, angetreten, die Person Max Webers zu entzaubern und damit den Bann zu durchbrechen, in den Marianne Weber ihren Gatten mit ihrem "Lebensbild" geschlagen hatte, am Ende in der gleichen Ecke hagiographischer Verehrung landet wie Webers Ehefrau. Ein Genie fesselt eben.
Dennoch gilt: Wer sich umfassend über Weber ins Bild setzen möchte, wird am Ende doch zu seinem Werk greifen und es mit Gewinn lesen. Der historische Informationsgehalt dieser Studie ist hoch, und das allein schon verdienstvoll. Hätte Max Weber wirklich den gleichen Stellenwert wie Goethe oder Shakespeare, dann wären in der Tat auch noch die Petitessen Gold wert. Es hieße seine Bedeutung grotesk überzeichnen, würden wir dieser Illusion erliegen. Weber gilt nicht mehr als der "Makroanthropos" (Jaspers) unserer Welt. Ein Resultat hat sein hundertfünfzigster Geburtstag schon einmal erbracht: So schnell wird kein weiterer Bedarf nach einer Weber-Biographie angemeldet werden.
HANS-PETER MÜLLER.
Dirk Kaesler: "Max Weber". Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 1007 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Faszination schreibt immer mit: Dirk Kaesler will mit seiner monumentalen Biographie Max Weber entzaubern.
Groß war stets das Lamento. Da wird die Max-Weber-Gesamtausgabe bald fertiggestellt sein, und noch immer fehlt es an einer Biographie, die über Werk und Person des "Mythos aus Heidelberg" aufzuklären vermag. So blieb Marianne Webers "Lebensbild" aus dem Jahre 1926, an Authentizität und Verehrungswillen ohnehin nicht zu übertreffen, die Richtschnur für alle biographisch orientierten Weber-Interpretationen. Das änderte sich vor einiger Zeit mit Joachim Radkaus großem Versuch, "Die Leidenschaft des Denkens" bei Weber nachzuzeichnen. Es folgte Dirk Kaeslers "kleiner Weber" aus dem Jahre 2011.
Zu Webers bevorstehendem Geburtstag am 21. April erschien Anfang des Jahres Jürgen Kaubes anregende wie informative Biographie, die auch bei einem breiteren Publikum die Neugier auf den letzten Universalgelehrten der Moderne wecken könnte. Und nun folgt Kaeslers "großer Weber". Was erwartet uns? Eine erschöpfende Lektüre: Auf mehr als tausend Seiten hat der Weber-Forscher alles ausgebreitet, was er in fast zwanzigjähriger Arbeit aufgespürt hat. Wer so lange und tief schürft, wird am Ende auch Kleinigkeiten als aufregende Neuigkeiten wertzuschätzen lernen. Das ist die bekannte "déformation professionelle" aller Historiker und Philologen.
Die Stoßrichtung seiner Interpretation ist die Korrektur des "Lebensbildes", und Marianne Weber ist in Kaeslers Buch in der Tat allgegenwärtig. Zuweilen werden ganze Textpassagen von ihr zitiert, um sie dann berichtigen zu können. Eine richtige und wichtige Korrektur betrifft zweifellos das Vaterbild, denn Max Weber senior war mehr als ein Bonvivant und Honoratiorenpolitiker. So wird seine erfolgreiche politische Karriere minutiös nachgezeichnet, sein Wirken ausführlich beschrieben. Da ist der Junior noch gar nicht geboren.
Aber muss der Leser im Detail wirklich erfahren, was Weber senior im Erfurter Stadtrat im Einzelnen gemacht hat, nur weil es der Biograph (wohlgemerkt: von Weber junior) herausgefunden hat? Es ist diese Unwucht zwischen "petits faits" und den großen Linien eines neuen Lebensbildes, die irritiert. Viele zutreffende Einschätzungen werden so regelrecht zugedeckt oder geraten zu Randbemerkungen. Zudem stört der Stil, denn Kaesler kann sich nicht entscheiden zwischen einer ruhigen Erzählweise, wie sie gute Historiker für ihre Heroen wählen, und dem Zeigefinger des Professors, der wie ein Theaterregisseur den Leser mit Hinweisen und Wegemarken traktiert.
Manche seiner Charakterisierungen lösen Verwunderung aus. So diskutiert Kaesler, dass Weber zwar wohl intelligent, aber doch vor allem fleißig, weil enorm belesen war. Das wäre ungefähr so, als habe Einstein seine Relativitätstheorie nur durch Lernen, aber nicht durch Intelligenz entdeckt. Weber gilt dem Biographen als Preuße. Der Jurist, Ökonom, Historiker und Soziologe wurde in der Tat in Preußen geboren, weil Erfurt 1864 zu Preußen gehörte, wie uns in einem langen Exkurs zur Stadt Erfurt mitgeteilt wird. Aber ist er deshalb Preuße? Wenn ja, dann mit großer Ambivalenz, wie seine Hassliebe zu Bismarck und seine Verachtung für Wilhelm II. zeigen. Und warum hat er es wohl vorgezogen, sein Leben im freien und liberalen Baden, erst in Freiburg und dann in Heidelberg, zu verbringen, am Ende dann in Wien und München, und eben nicht in Preußen?
Wenn damit das Männlichkeitsideal gemeint ist, Selbstbeherrschung und Gefühlsunterdrückung, dann ist das vor allem großbürgerlich und gilt bis auf den heutigen Tag. Wenn es sein Burschenschaftlertum, seine Duell- und Prozessierungsneigung unterstreichen soll, so verweist das zwar auf einen bei ihm in der Tat stark ausgeprägten Begriff von Ehre und Anstand. Dennoch ist Weber, wie Kaesler konzediert, kein Diederich Heßling, so dass sich Heinrich Manns "Untertan", der wilhelminische Mensch par excellence, von ihm denkbar stark unterscheidet. Weber selbst hat Heidelberg als seine Heimat begriffen, nicht Berlin oder Erfurt.
Weber wird als Muttersohn charakterisiert. Das stimmt, wenn es die unverbrüchlich enge Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter Helene zum Ausdruck bringen soll. Aber er, der sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnet hat, konnte mit der pietistisch gefärbten Ethik seiner Mutter nicht viel anfangen. Dass die Religion eine der wichtigsten Mächte der Lebensführung vor allem traditionaler Gesellschaften war, musste ihm auch nicht erst seine Mutter beibringen, sondern das war eine Tatsache noch im protestantisch gefärbten Kaiserreich. Kaeslers eigene Korrektur des Vaterbildes betont dessen Vorbildrolle: Also - Muttersohn oder Vatersohn?
Dirk Kaesler hat uns einen barocken Weber beschert, etwas pompös, mit viel Zierrat und Girlanden ausgeschmückt, eher katholisch im Sinne von "catholicus" oder umfassend als protestantisch, also prägnant und bescheiden. Es ist eine feine Ironie, dass er, angetreten, die Person Max Webers zu entzaubern und damit den Bann zu durchbrechen, in den Marianne Weber ihren Gatten mit ihrem "Lebensbild" geschlagen hatte, am Ende in der gleichen Ecke hagiographischer Verehrung landet wie Webers Ehefrau. Ein Genie fesselt eben.
Dennoch gilt: Wer sich umfassend über Weber ins Bild setzen möchte, wird am Ende doch zu seinem Werk greifen und es mit Gewinn lesen. Der historische Informationsgehalt dieser Studie ist hoch, und das allein schon verdienstvoll. Hätte Max Weber wirklich den gleichen Stellenwert wie Goethe oder Shakespeare, dann wären in der Tat auch noch die Petitessen Gold wert. Es hieße seine Bedeutung grotesk überzeichnen, würden wir dieser Illusion erliegen. Weber gilt nicht mehr als der "Makroanthropos" (Jaspers) unserer Welt. Ein Resultat hat sein hundertfünfzigster Geburtstag schon einmal erbracht: So schnell wird kein weiterer Bedarf nach einer Weber-Biographie angemeldet werden.
HANS-PETER MÜLLER.
Dirk Kaesler: "Max Weber". Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2014. 1007 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"In short, Dirk Kaesler's biography is set to be the standard reference work on Weber for a long time to come."
Ronald Speirs, Times Literary Supplement, 24. Juli 2015
Ronald Speirs, Times Literary Supplement, 24. Juli 2015
»Wer sich schnell und zuverlässig über Leben, Werk und Wirkung Webers informieren will, dem steht die vorzügliche Einführung Dirk Kaeslers zur Verfügung.« Wilhelm Hennis, FAZ