Kopftuchdebatte, Karikaturenstreit, EU-Osterweiterung: Kulturelle Unterschiede halten immer stärker her als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte. Der Glaube an die Unversöhnlichkeit von Kulturen boomt innerhalb Deutschlands und international. Doch ein falsches Kulturverständnis führt zu Vorurteilen und Intoleranz.Wenn Multikulti scheitert, kann Maxikulti der Weg zu einem friedlicheren Miteinander sein. Dieser wird heute schon erfolgreich in der Wirtschaft praktiziert. Diesen Erfolg gilt es, auf unseren Alltag zu übertragen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2008Die Irrtümer des Kulturalismus
Interkulturelle Beratung ist in Zeiten der Globalisierung ein boomendes Geschäft. Joana Breidenbach und Pál Nyíri zeigen in der Streitschrift "Maxikulti" Wege und Irrwege des Unternehmens.
Wir denken zu kulturalistisch. Nicht dass die Autoren Joana Breidenbach und Pál Nyíri kulturelle Differenzen leugneten. Sie halten es im Gegenteil in Zeiten von fortschreitender Globalisierung und zunehmender Migration für immer wichtiger, kulturelle Kompetenz zu erwerben, Toleranz und Sensibilität für unterschiedliche Lebensarten und unterschiedliche Vorstellungen vom Guten, Schönen, Normalen. Die Fähigkeit, mit Fremdem umzugehen, sei freilich eine Sache der Urteilskraft. In konkreten Situationen müssen wir Irritationen wahrnehmen, divergierende Interessen erkennen, Kompromisse anbieten. Das Wissen von der Herkunftskultur des Gegenübers mag da gelegentlich Fingerzeige geben. Ebenso gut kann es aber, wird es als Determinante missverstanden, die Verständigung behindern. Der andere erscheint dann als bloßer Exekutor einer Tradition.
Die Streitschrift "Maxikulti" beginnt mit dem hübschen Beispiel von Jürgen Schrempp, der sich alle Informationen über Shintoismus und Hinduismus zusammenstellen lässt, weil er erfahren will, "wie die miteinander klarkommen". Nach der Präsentation zeigt er sich zufrieden. "Ich habe überlegt, ob ich einen japanischen Werksleiter nach Indien versetze. Aber nun weiß ich, dass ich das besser lassen sollte." Abgesehen davon, dass ein von außen kommender Werksleiter vielleicht gerade befähigt wäre, mit den Schlampereien aufzuräumen, die Traditionen immer auch sind, fällt auf, wie selbstverständlich Religion als Kern von Kultur behandelt und damit umgekehrt Religion kulturalisiert wird. Das Problematische daran muss allerdings genau begründet werden. Die Autoren heben hervor, dass es sich bei Hinduismus wie Shintoismus um Schöpfungen des späten 19. Jahrhunderts handelt. Das gilt im Falle des Hinduismus allerdings nur für den Namen, der sich durchaus auf eine Kohärenz der Sache und eine Geschichte von Systematisierungsversuchen stützen kann. Und der Shintoismus war - ähnlich wie der türkische Nationalismus - Gegenstand einer derart rigiden Erziehung, dass es vielleicht nicht geradezu - wie die Autoren meinen - "absurd" ist, von ihm "auf das Alltagsverhalten aller zeitgenössischen Japaner zu schließen".
Nein, problematisch daran, sich auf die Religion als prägnantesten Ausdruck einer Kultur zu beziehen, ist etwas anderes: zum einen, dass, wie im Falle des Hinduismus evident, die innere Pluralität der Religion verdeckt wird; zum anderen stellt selbst eine allgegenwärtige Religion immer nur eine Wirkmacht auf die Kultur unter anderen dar.
Da immer mehr Unternehmen im Ausland produzieren oder verkaufen, herrscht Unsicherheit, und die Beratungsindustrie blüht. Drei berühmte Versuche, die Welt in eine Matrix quantitativ messbarer Variablen kultureller Unterschiede einzuteilen, werden in "Maxikulti" näher betrachtet, die Theorien von Edward Hall, Geert Hofstede und Fons Trompenaars. Das ist nicht ohne aktuelle Bezüge. So öffnet die Unterscheidung in monochrone und polychrone Kulturen ein Verständnis für die entnervende orientalische Unpünktlichkeit: Weil dort nicht eins nach dem anderen, sondern viele Dinge gleichzeitig erledigt werden, ist die Toleranz gegen Verzögerungen größer. Hinter einem Verhalten, das zuerst als Unaufmerksamkeit kränkt, wird ein Sinn aufgedeckt, der sich obendrein auf klientelistische Strukturen zurückführen ließe. Dass Schweden und Holländer das Zurschaustellen von Gefühlen am Arbeitsplatz als unangebracht empfinden, während Italiener ihre Emotionen offen zeigen, deckt allerdings überhaupt nichts mehr auf. Mit ebendem Recht könnte man sagen, dass es in protestantischen Ländern eine Tradition der Bekundung von Befindlichkeiten gibt, während Italiener nur bei ganz bestimmten Themen stereotypes Gefühlstheater spielen.
Zwischen den Sitten und Gebräuchen, in die sich jeder vor Ort schnell findet, und den harten institutionellen Gegebenheiten von Wirtschaft, Recht und Politik bezeichnet Kultur einen mittleren Bereich, über den sich unter Reisenden oder in multikulturellen Stadtteilen ohne Ende reden lässt, über den wissenschaftliche Aussagen machen zu wollen aber schnell in begriffspompöse Banalitäten führt. Grund dafür ist nicht einmal, "dass die kulturellen Unterschiede innerhalb von Nationen genauso groß sind wie zwischen ihnen". Scheinbar gleiches Verhalten könnte immer noch, kulturell gefärbt, einen ganz anderen Sinn haben. Grund ist, dass wir immer mit Individuen zu tun haben, die Einflüsse immer auf eigene Weise verarbeiten. Über Erfahrungssätze führt da nichts hinaus.
Wird in der Wirtschaft für die interkulturelle Beratung Zeit und Geld verschwendet, so richte der Kulturalismus in der Politik wirklichen Schaden an. Eingehend behandelt wird Bernard Lewis, der die islamische Welt als versteinert und nur noch von außen reformierbar hingestellt hat, und Raphael Patai, der in "The Arab Mind" behauptet, dass die Araber den Westen hassen und nur die Sprache der Gewalt verstehen. Beide Autoren dürften Wirkung auf den Irak-Krieg gehabt haben. Schwerer zu beurteilen ist, ob der irakische Bürgerkrieg eine Folge der - kulturalistischen - Entscheidung ist, auf die schiitische und kurdische Gemeinschaft zu setzen. Wäre eine Ausrichtung auf die "gebildeten, urbanen Sunniten" aussichtsreich gewesen?
Durchgängig wird in "Maxikulti" hervorgehoben, dass die ethnisch-kulturelle Erklärung moderner Konflikte die realen Interessen hinter den Konflikten verkennt. "Im Namen ethnischer oder religiöser Unterschiede hetzen Politiker ganze Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf." "Für die Überprüfung kultureller Behauptungen ist es immer wichtig, sich folgende Fragen zu stellen: Von wem stammen sie? Wem nützen sie? Wer spricht für wen?" Und es stimmt natürlich, dass im irakischen oder jugoslawischen Alltag die Ethnien und Religionen meist ganz gut miteinander auskamen. Andererseits: Wie könnte ein Politiker kulturelle Differenzen strategisch nutzen, wenn der Gedanke nationaler Selbstbestimmung oder kultureller Autonomie gar keine Plausibilität hätte?
Unbestreitbar allerdings wäre es ein kulturalistischer Irrtum, südostasiatischen oder schwarzafrikanischen Regimen zu glauben, wenn sie Forderungen nach Menschenrechten mit dem Hinweis auf tradierte, etwa konfuzianische Werte abwehren. Ideen und Waren können zunehmend freier zirkulieren, und ihr Ursprung hat immer weniger Bedeutung. Gerade in Gegenden, in denen es traditionelle Medizin noch gibt, wird westlichen Ärzten und Medikamenten fast magische Wirkung zugesprochen, und so gibt es wohl keine Gruppe oder Gegend mehr, in denen Unterdrückte die Werte von Freiheit und Partizipation nicht hochhielten.
Strategisch genutzt wird der Kulturalismus schließlich, wenn Sprecher von Interessengruppen im Namen kultureller Besonderheiten Rechte durchsetzen wollen. Oder eine Marktstellung verteidigen, denn man solle nicht unterschätzen, welche ökonomische Bedeutung die Vermarktung naturnah scheinender Kulturen bekommen habe: Sie dienen sich an und werden benutzt als Alternative zum eigenen, hochtechnologischen Lebensstil. War der Multikulturalismus von Anbeginn gekennzeichnet durch die grundlegende Spannung zwischen dem Schutz kultureller Gruppenrechte und der Grundprämisse des liberalen Staates, individuelle Freiheitsrechte zu schützen, sehen die Autoren diese Spannung im Zeichen der Identitätenpolitik zuungunsten der Freiheitsrechte aufgelöst.
Denn die Interessenvertreter haben ein Interesse, ihre Gruppe homogen zu halten und ihr eine lange Geschichte zuzuschreiben. Dabei können sie auf das kulturalistische Vorurteil zählen. Es wirkt unabhängig davon, ob Migranten als Täter oder als Opfer charakterisiert und kulturelle Unterschiede zelebriert oder pathologisiert werden. Mal schützt es die japanische Mutter, die sich mit ihren beiden Kindern im Pazifik ertränken wollte, aber anders als die Kinder überlebte, mal bestraft es alle Migranten aus der Türkei mit neuen Heiratsvorschriften. Denn beim japanischen Mutter-Kind-Selbstmord wie beim kurdischen Ehrenmord wird das Individuum als von der Kultur quasi determiniert angesehen. In Wahrheit gibt es in jeder Kultur Alternativen, und verstehen können wir das Verhalten des einzelnen nur, wenn wir nach den besonderen Bedingungen fragen, die zur Wahl einer dieser Alternativen geführt haben.
Dem Kulturalismus liege ein falscher Kulturbegriff zugrunde. Wir nehmen Kulturen als in sich geschlossene und homogene Gebilde, obwohl sie in Wirklichkeit fließende Grenzen haben, intern heterogen sind und umstritten ist, wer und was dazugehört. Wir halten für ursprünglich, was oft Erfindungen neueren Datums sind. Wir sehen in Vermischungen Korrumpierungen und Nivellierungen, obwohl sie nicht nur die Regel, sondern für den Fortbestand einer Kultur unverzichtbar sind. Und wir betrachten die Menschen als von ihrer Kultur determiniert, obwohl ihnen überall verschiedene Handlungsangebote zur Verfügung stehen. Gelegentlich klingen die Autoren, als hielten sie "Kulturdimensionen in Gesellschaften, die heutzutage einen beschleunigten Wandel durchlaufen, nicht mehr für aussagekräftig". Dabei ist nicht einzusehen, warum die Iraner von Los Angeles oder die Deutschtürken nicht Gegenstand eigener Untersuchungen sein sollten. Aber darum geht es den Autoren nicht. Sie wollen davor warnen, sich beim Verständnis der globalisierten Welt allzusehr auf Konfuzius oder den Koran zu stützen. Und da haben sie wohl recht.
GUSTAV FALKE.
Joana Breidenbach, Pál Nyíri: "Maxikulti". Der Kampf der Kulturen ist das Problem - zeigt die Wirtschaft uns die Lösung? Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 S., br., 19,90 [Euro].
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Interkulturelle Beratung ist in Zeiten der Globalisierung ein boomendes Geschäft. Joana Breidenbach und Pál Nyíri zeigen in der Streitschrift "Maxikulti" Wege und Irrwege des Unternehmens.
Wir denken zu kulturalistisch. Nicht dass die Autoren Joana Breidenbach und Pál Nyíri kulturelle Differenzen leugneten. Sie halten es im Gegenteil in Zeiten von fortschreitender Globalisierung und zunehmender Migration für immer wichtiger, kulturelle Kompetenz zu erwerben, Toleranz und Sensibilität für unterschiedliche Lebensarten und unterschiedliche Vorstellungen vom Guten, Schönen, Normalen. Die Fähigkeit, mit Fremdem umzugehen, sei freilich eine Sache der Urteilskraft. In konkreten Situationen müssen wir Irritationen wahrnehmen, divergierende Interessen erkennen, Kompromisse anbieten. Das Wissen von der Herkunftskultur des Gegenübers mag da gelegentlich Fingerzeige geben. Ebenso gut kann es aber, wird es als Determinante missverstanden, die Verständigung behindern. Der andere erscheint dann als bloßer Exekutor einer Tradition.
Die Streitschrift "Maxikulti" beginnt mit dem hübschen Beispiel von Jürgen Schrempp, der sich alle Informationen über Shintoismus und Hinduismus zusammenstellen lässt, weil er erfahren will, "wie die miteinander klarkommen". Nach der Präsentation zeigt er sich zufrieden. "Ich habe überlegt, ob ich einen japanischen Werksleiter nach Indien versetze. Aber nun weiß ich, dass ich das besser lassen sollte." Abgesehen davon, dass ein von außen kommender Werksleiter vielleicht gerade befähigt wäre, mit den Schlampereien aufzuräumen, die Traditionen immer auch sind, fällt auf, wie selbstverständlich Religion als Kern von Kultur behandelt und damit umgekehrt Religion kulturalisiert wird. Das Problematische daran muss allerdings genau begründet werden. Die Autoren heben hervor, dass es sich bei Hinduismus wie Shintoismus um Schöpfungen des späten 19. Jahrhunderts handelt. Das gilt im Falle des Hinduismus allerdings nur für den Namen, der sich durchaus auf eine Kohärenz der Sache und eine Geschichte von Systematisierungsversuchen stützen kann. Und der Shintoismus war - ähnlich wie der türkische Nationalismus - Gegenstand einer derart rigiden Erziehung, dass es vielleicht nicht geradezu - wie die Autoren meinen - "absurd" ist, von ihm "auf das Alltagsverhalten aller zeitgenössischen Japaner zu schließen".
Nein, problematisch daran, sich auf die Religion als prägnantesten Ausdruck einer Kultur zu beziehen, ist etwas anderes: zum einen, dass, wie im Falle des Hinduismus evident, die innere Pluralität der Religion verdeckt wird; zum anderen stellt selbst eine allgegenwärtige Religion immer nur eine Wirkmacht auf die Kultur unter anderen dar.
Da immer mehr Unternehmen im Ausland produzieren oder verkaufen, herrscht Unsicherheit, und die Beratungsindustrie blüht. Drei berühmte Versuche, die Welt in eine Matrix quantitativ messbarer Variablen kultureller Unterschiede einzuteilen, werden in "Maxikulti" näher betrachtet, die Theorien von Edward Hall, Geert Hofstede und Fons Trompenaars. Das ist nicht ohne aktuelle Bezüge. So öffnet die Unterscheidung in monochrone und polychrone Kulturen ein Verständnis für die entnervende orientalische Unpünktlichkeit: Weil dort nicht eins nach dem anderen, sondern viele Dinge gleichzeitig erledigt werden, ist die Toleranz gegen Verzögerungen größer. Hinter einem Verhalten, das zuerst als Unaufmerksamkeit kränkt, wird ein Sinn aufgedeckt, der sich obendrein auf klientelistische Strukturen zurückführen ließe. Dass Schweden und Holländer das Zurschaustellen von Gefühlen am Arbeitsplatz als unangebracht empfinden, während Italiener ihre Emotionen offen zeigen, deckt allerdings überhaupt nichts mehr auf. Mit ebendem Recht könnte man sagen, dass es in protestantischen Ländern eine Tradition der Bekundung von Befindlichkeiten gibt, während Italiener nur bei ganz bestimmten Themen stereotypes Gefühlstheater spielen.
Zwischen den Sitten und Gebräuchen, in die sich jeder vor Ort schnell findet, und den harten institutionellen Gegebenheiten von Wirtschaft, Recht und Politik bezeichnet Kultur einen mittleren Bereich, über den sich unter Reisenden oder in multikulturellen Stadtteilen ohne Ende reden lässt, über den wissenschaftliche Aussagen machen zu wollen aber schnell in begriffspompöse Banalitäten führt. Grund dafür ist nicht einmal, "dass die kulturellen Unterschiede innerhalb von Nationen genauso groß sind wie zwischen ihnen". Scheinbar gleiches Verhalten könnte immer noch, kulturell gefärbt, einen ganz anderen Sinn haben. Grund ist, dass wir immer mit Individuen zu tun haben, die Einflüsse immer auf eigene Weise verarbeiten. Über Erfahrungssätze führt da nichts hinaus.
Wird in der Wirtschaft für die interkulturelle Beratung Zeit und Geld verschwendet, so richte der Kulturalismus in der Politik wirklichen Schaden an. Eingehend behandelt wird Bernard Lewis, der die islamische Welt als versteinert und nur noch von außen reformierbar hingestellt hat, und Raphael Patai, der in "The Arab Mind" behauptet, dass die Araber den Westen hassen und nur die Sprache der Gewalt verstehen. Beide Autoren dürften Wirkung auf den Irak-Krieg gehabt haben. Schwerer zu beurteilen ist, ob der irakische Bürgerkrieg eine Folge der - kulturalistischen - Entscheidung ist, auf die schiitische und kurdische Gemeinschaft zu setzen. Wäre eine Ausrichtung auf die "gebildeten, urbanen Sunniten" aussichtsreich gewesen?
Durchgängig wird in "Maxikulti" hervorgehoben, dass die ethnisch-kulturelle Erklärung moderner Konflikte die realen Interessen hinter den Konflikten verkennt. "Im Namen ethnischer oder religiöser Unterschiede hetzen Politiker ganze Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf." "Für die Überprüfung kultureller Behauptungen ist es immer wichtig, sich folgende Fragen zu stellen: Von wem stammen sie? Wem nützen sie? Wer spricht für wen?" Und es stimmt natürlich, dass im irakischen oder jugoslawischen Alltag die Ethnien und Religionen meist ganz gut miteinander auskamen. Andererseits: Wie könnte ein Politiker kulturelle Differenzen strategisch nutzen, wenn der Gedanke nationaler Selbstbestimmung oder kultureller Autonomie gar keine Plausibilität hätte?
Unbestreitbar allerdings wäre es ein kulturalistischer Irrtum, südostasiatischen oder schwarzafrikanischen Regimen zu glauben, wenn sie Forderungen nach Menschenrechten mit dem Hinweis auf tradierte, etwa konfuzianische Werte abwehren. Ideen und Waren können zunehmend freier zirkulieren, und ihr Ursprung hat immer weniger Bedeutung. Gerade in Gegenden, in denen es traditionelle Medizin noch gibt, wird westlichen Ärzten und Medikamenten fast magische Wirkung zugesprochen, und so gibt es wohl keine Gruppe oder Gegend mehr, in denen Unterdrückte die Werte von Freiheit und Partizipation nicht hochhielten.
Strategisch genutzt wird der Kulturalismus schließlich, wenn Sprecher von Interessengruppen im Namen kultureller Besonderheiten Rechte durchsetzen wollen. Oder eine Marktstellung verteidigen, denn man solle nicht unterschätzen, welche ökonomische Bedeutung die Vermarktung naturnah scheinender Kulturen bekommen habe: Sie dienen sich an und werden benutzt als Alternative zum eigenen, hochtechnologischen Lebensstil. War der Multikulturalismus von Anbeginn gekennzeichnet durch die grundlegende Spannung zwischen dem Schutz kultureller Gruppenrechte und der Grundprämisse des liberalen Staates, individuelle Freiheitsrechte zu schützen, sehen die Autoren diese Spannung im Zeichen der Identitätenpolitik zuungunsten der Freiheitsrechte aufgelöst.
Denn die Interessenvertreter haben ein Interesse, ihre Gruppe homogen zu halten und ihr eine lange Geschichte zuzuschreiben. Dabei können sie auf das kulturalistische Vorurteil zählen. Es wirkt unabhängig davon, ob Migranten als Täter oder als Opfer charakterisiert und kulturelle Unterschiede zelebriert oder pathologisiert werden. Mal schützt es die japanische Mutter, die sich mit ihren beiden Kindern im Pazifik ertränken wollte, aber anders als die Kinder überlebte, mal bestraft es alle Migranten aus der Türkei mit neuen Heiratsvorschriften. Denn beim japanischen Mutter-Kind-Selbstmord wie beim kurdischen Ehrenmord wird das Individuum als von der Kultur quasi determiniert angesehen. In Wahrheit gibt es in jeder Kultur Alternativen, und verstehen können wir das Verhalten des einzelnen nur, wenn wir nach den besonderen Bedingungen fragen, die zur Wahl einer dieser Alternativen geführt haben.
Dem Kulturalismus liege ein falscher Kulturbegriff zugrunde. Wir nehmen Kulturen als in sich geschlossene und homogene Gebilde, obwohl sie in Wirklichkeit fließende Grenzen haben, intern heterogen sind und umstritten ist, wer und was dazugehört. Wir halten für ursprünglich, was oft Erfindungen neueren Datums sind. Wir sehen in Vermischungen Korrumpierungen und Nivellierungen, obwohl sie nicht nur die Regel, sondern für den Fortbestand einer Kultur unverzichtbar sind. Und wir betrachten die Menschen als von ihrer Kultur determiniert, obwohl ihnen überall verschiedene Handlungsangebote zur Verfügung stehen. Gelegentlich klingen die Autoren, als hielten sie "Kulturdimensionen in Gesellschaften, die heutzutage einen beschleunigten Wandel durchlaufen, nicht mehr für aussagekräftig". Dabei ist nicht einzusehen, warum die Iraner von Los Angeles oder die Deutschtürken nicht Gegenstand eigener Untersuchungen sein sollten. Aber darum geht es den Autoren nicht. Sie wollen davor warnen, sich beim Verständnis der globalisierten Welt allzusehr auf Konfuzius oder den Koran zu stützen. Und da haben sie wohl recht.
GUSTAV FALKE.
Joana Breidenbach, Pál Nyíri: "Maxikulti". Der Kampf der Kulturen ist das Problem - zeigt die Wirtschaft uns die Lösung? Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 S., br., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Gustav Falke hat Joana Breidenbachs und Pal Nyiris Streitschrift "Maxikultui" durchaus zustimmend gelesen. Den Autoren gelingt es seines Erachtens, die Fehler und Irrtümer der derzeit dominierenden kulturalistischen Erklärungsmuster aufzudecken. Als Beispiel führen sie dabei den früheren Daimler-Benz-Chef Jürgen Schrempp an, der sich zu Shintoismus und Hinduismus instruieren ließ, um herauszufinden, ob er einen japanischen Werksleiter in Indien arbeiten lassen könne. Er unterstreicht die von den Autoren immer wieder betonte Auffassung, die ethnisch-kulturelle Erklärung moderner Konflikte verkenne die realen Interessen dahinter. Interessant scheinen ihm auch die Ausführungen über den strategischen Einsatz kulturalistischer Erklärungen, etwa wenn Sprecher von Interessengruppen im Namen kultureller Besonderheiten ihre Interessen durchsetzen wollen. Zudem hebt er die kritische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff hervor, die dem Kulturalismus zugrunde liegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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